Als wir 1993 an der Technischen Universität Braunschweig mit der Entwicklung eines interaktiven, multimedialen Informationssystems für das Staatstheater Braunschweig begannen, hielten wir es für völlig unmöglich, dass Videofilme über das Internet verbreitet werden könnten. Videoclips mussten damals jeweils manuell in die Informationssäulen eingespielt werden.
Da heute die Verbreitung von Bewegtbildern problemlos möglich ist, bieten immer mehr Theater auf ihren Internetseiten auch Videoclips zu den einzelnen Produktionen an. Mitunter sind diese Filme jedoch nicht leicht zu finden, denn die Internetauftritte der einzelnen Theater unterscheiden sich nicht nur stark voneinander, auch die Integration der multimedialen Elemente in die Webseite wird sehr unterschiedlich gelöst.
Weniger bekannt ist, dass man diese Videoclips auch gesammelt auf den Webseiten der professionellen Produzenten anschauen kann. In Norddeutschland produziert z. B. Theater-TV für derzeit ca. 12 Theater einführende Kurzfilme zu den Sparten Oper, Schauspiel und Ballett:
Zur Vergrößerung eines Bildes bitte ins Bild klicken!
Durch Klick auf ein Theaterhaus z. B. Theater Erfurt öffnet sich diese Startseite mit einer Übersicht über die zur Zeit aktuellen Videoclips:
Startseite für Theater Erfurt
Nach Auswahl eines Videofilms z.B. "Illusionen - wie Schwanensee" (Staatsoper Hamburg) startet das Video:
Videostartseite Ballett "Illusionen - wie Schwanensee", Staatsoper Hamburg
Rossinifreunde können sich vor einem Besuch der "Il viaggio a Reims" in Hannover auf dieser Seite informieren:
"Il viaggio a Reims, Die Reise nach Reims" von G. Rossini
Durch Klick auf den Theaternamen über dem ausgewählten Video z. B. "Semperoper Dresden" gelangt man zur Homepage dieses Theaters und kann sich auch dort das Video ansehen z. B. zur Oper "Notre Dame" von Franz Schmidt:
"Notre Dame" Semperoper Dresden
Auf der Seite der Hamburgischen Staatsoper werden die Videoclips über den jeweiligen Text eingeblendet:
"Lucia di Lammermoor" Staatsoper Hamburg
Nur wenige Theater verzichten auf die Doppeldarstellung auf Theater-TV und eigener Homepage und setzen nur einen Link auf Theater-TV. Ein Theater präsentiert ausgewählte Videos zusätzlich auf der Videoplattform Youtube.
Viel Spaß beim Ansehen der Videoclips auf www.theater-tv.com und/oder den Theater-Internetseiten!
Sie kennen noch die "rote Treppe", die anlässlich der Theaterformen im Jahre 2002 in den damaligen "Weißen Saal" des Theaters führte:
Hier ein Foto und darunter ein vertonter Diafilm
Hier der Diafilm mit Tenor
(es singt José Medina eine Arie aus Mozarts "Gärtnerin aus Liebe" aufgenommen im Weißen Saal des Staatstheaters anläßlich der Erstpräsentation des Theaterinformationssystems [inƒos] 1995)
(Start mit Klick oder Doppelklick auf den Pfeil.
Zur Vollbilddarstellung auf das Symbol unten rechts klicken)
Sie erinnern sich vielleicht auch an die interaktive Informations-Säule, die jahrelang im Foyer des Staatstheaters Braunschweig mittels kurzer Videoclips über fast alle Produktionen des Staatstheaters informierte.
Dieses sog. [inƒos]-System wurde im Frühjahr 1995 im Braunschweiger Theater aufgestellt und gilt als erstes interaktives multimediales Theaterinformationssystem Deutschlands. Später wurde die Infosäule durch Videoclips im Internet unter dem Namen "Kulturatlas" ersetzt. Auch dieses Projekt ist jetzt im April 2010 beendet worden. Videoclips von Braunschweiger Produktionen, aber auch von vielen anderen Theatern, werden inzwischen von meinen Kollegen auf www.theater-tv.net angeboten.
Für Opernfreunde, die insbesondere Belcanto-Opern lieben, habe ich seit 2007 diesen Belcanto-Blog eingerichtet. Auch über Braunschweiger Produktionen wurde berichtet. Klicken Sie auf die Rubrik "Braunschweig" und Sie werden ca. 15 Beiträge finden, angefangen von "La Cenerentola" über "Fedra", "Der Alchymist" "Salvator Rosa" bis zur "Lucia di Lammermoor".
In diesem Blog kann jedermann schreiben oder kommentieren. Auch über Ihre Beiträge würde ich mich sehr freuen.
Herr Müller gerät darüber in Wut, dass - in diesem Falle speziell in Nürnberg - die Opern-Inszenierungen DIE ZAUBERFLÖTE und TANNHÄUSER von Strichen verschont blieben. Mutmaßlicherweise, weil sie dem deutschen und nicht dem italienischen Opernfach angehören.
In offensichtlicher Unkenntnis der Praxis an Opernhäusern nicht nur in Deutschland muss klar gestellt werden:
Striche werden grundsätzlich erst einmal vom MUSIKALISCHEN LEITER der geplanten Produktion erarbeitet und festgelegt, also nicht vom REGISSEUR in eventueller "Willkür". Ist der Regisseur mit den Strichvorschlägen des Dirigenten nicht einverstanden, wird darüber gesprochen und versucht, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Nicht selten werden dann bei den szenischen Proben schon festgelegte Striche wieder verworfen, d.h. wieder aufgemacht bzw. abgeändert oder auch andere Striche festgelegt. Auch wird oft strichlos gespielt, ganz unabhängig der Fachrichtung. Zudem gibt es sehr oft schon vom Komponisten getätigte Strichvorschläge.
Richtig ist sicherlich, dass bei Festspielen, wie z.B. Händel-, Rossini-, Strauss-und Wagner- Festspielen die Opern strichlos aufgeführt werden sollten! Allerdings verlangen die Repertoire-Vorstellungen an Opernhäusern, bedingt durch bestimmte Zwänge, Vorgaben (z.B. Ruhezeiteinhaltung) und tägliche Betriebsabläufe, oft eine andere Praxis. Man mag das allenfalls bedauern!
Nun detailliert zu: DIE ZAUBERFLÖTE hat eine Spieldauer von 3 Stunden und 5 Minuten, davon 25 Minuten Pause [einschließlich Einlass] nach dem 1. Akt, der 1 Stunde 15 Minuten dauert. Reine Spieldauer also 2 Stunden 40 Minuten!
TANNHÄUSER dauert insgesamt mit Pausen ca. 4 Stunden, + bzw. - x Minuten je nach Dirigat. Grundsätzlich werden in Wagner-Opern nach jedem Akt Pausen von mindesten 30 Minuten gemacht (in Bayreuth 1 Stunde), um auch den Sängern Zeit für eine ausreichende Erholung zu gönnen. Gerade in TANNHÄUSER wird die 2. Pause oft noch verlängert aus Rücksicht für den Sänger der Titelpartie, und man sollte auch wissen, dass die "Romerzählung" im 3. Akt enorme stimmliche Anforderungen stellt! Also reine Spieldauer ca. 3 Stunden.
MUSIKALISCHE PROBEN beginnen ja bekanntlich etliche Wochen bzw. Monate vor den szenischen Proben, d.h. die geplanten Striche müssen festliegen. Bekannt sollte eigentlich auch sein, dass der Dirigent und nicht der Regisseur die Verantwortung für die musikalische Seite hat...
Ein extremes Beispiel: MOSES UND ARON von Arnold Schönberg (Persönliche Anmerkung: ich weiß, für die meisten Rossinianer ist der Komponist ein Graus, für mich nicht!) hat den längsten und schwierigsten Chorpart der gesamten Opernliteratur. Zu Beginn der Spielzeit 2003/2004 erfolgte an den Württembergischen Staatstheatern Stuttgart eine Neuinszenierung. Der musikalische Probenbeginn für den Staatsopernchor war 1 1/2 Jahre (!!!) vorher. Zu dieser Zeit hatte der Regisseur vielleicht sein Konzept bzw. seine Strichwünsche noch gar nicht endgültig festgelegt.
Und: HÄNDEL-Opern, die ja auch zum deutschen Repertoire gehören, würden ungestrichen oft 5-6 Stunden dauern, da streicht man nun oft Wiederholungen weg, um die Spieldauer erträglich zu halten.
Aus langer Berufstätigkeit (s.u.) kann ich auch sagen, dass es oft gerade auch die Regisseure sind, die möglichst nichts gestrichen haben wollen, man mag das glauben oder auch nicht.
Fazit.
1) Die Behauptung, im deutschen Opernfach würde nicht getrichen, entbehrt jeglicher Grundlage und ist absolut abwegig.
2) Es ist auch unsinnig zu meinen, die "bösen Buben und Mädels" alias Regisseure/Regisseurinnen hätten bei Strichen das alleinige Sagen!
Werner Adam, Opern-Inspizient i.R.
Anmerkung:
Berufspraxis 39 Jahre: davon 1 Jahr Landesbühne Hannover, 3 Jahre Städtische Bühnen Freiburg im Breisgau, 35 Jahre Badisches Staatstheater Karlsruhe. Betreute Produktionen bzw. Inszenierungen: 326, davon 4 verschiedene "Zauberflöte"- und 3 verschiedene "Tannhäuser"-Inszenierungen.
„Ich war darauf bedacht, die Musik wieder zu ihrer wahren Aufgabe zurückzuführen, nämlich dem Libretto und den Situationen zu dienen“ schreibt Gluck in seiner Vorrede zu seiner Reformoper „Alceste“ und verfasste damit eine Kampfansage an die „Missbräuche“, die er in der „übel angebrachten Eitelkeit der Sänger“ sah sowie in der „allzu großen Gefälligkeit des Komponisten“ gegenüber der italienischen Oper. Gluck wünscht von Anfang an „Natürlichkeit“, wie sie später von Rousseau gefordert wird, er verschmäht barocke Opern-Maschinerie und erteilt der „opera seria“ mit vorgeschriebenen Nummern-Arien eine Absage.
Mit der Aufnahme von „Alkestis“ beginnt in Leipzig 2010 ein Gluck-Zyklus, den man auch in Anspielung an Richard Wagner, der Gluck sehr verehrte und als seinen Lehrmeister ansah, als „Leipziger Gluck-Ring“ bezeichnen könnte. Auf „Alkestis“ sollen weitere Gluck-Opern mit Frauen-Gestalten der Antike im Mittelpunkt folgen, nämlich „Iphigenie in Aulis“, „Iphigenie auf Tauris“ und schließlich „Armida“, sämtlich inszeniert von Peter Konwitschny.
Die jetzt erstmalig aufgeführte „Leipziger Fassung“ verbindet die ursprüngliche für Wien komponierte Alkestis-Oper von 1767 mit der Pariser Fassung der „Alceste“ von 1776. Da die in sich stimmige und vollständige Wiener Fassung, die lediglich das glückliche Ende ausspart, durch den 3. Akt der anders aufgebauten Pariser Fassung ergänzt wird, ergeben sich Wiederholungen, die jedoch durch die Regie Peter Konwitschnys geschickt aufgefangen werden: Der Dialog zwischen der zum Opfertod bereiten Alkestis mit den Totengöttern, ihr Hinabsteigen in die Unterwelt, findet in Leipzig zweimal statt, einmal real im 2. Akt, zum anderen im 3. Akt als Showelement und Videobotschaft in einem heutigen Fernsehstudio, in das Alkestis und mit ihr ihre Familie und ihr Volk Jahrtausende später wie durch Zauber geraten sind. Die Brüche und teilweisen Wiederholungen zwischen dem zweiten Akt der Leipziger Alkestis und dem dritten Akt, der im Heute spielt, sind also nicht nur ein virtuoser Regie-Einfall, sondern auch der Verbindung zweier unterschiedlicher Opernfassungen geschuldet. Da der Hörer dadurch aber in den Genuss der völlig homogen durchkomponierten frühen Wiener Fassung kommt, die vermutlich die beiden ersten Akte der späteren Pariser Version musikalisch übertrifft, stellt dies kein Manko, sondern im Gegenteil einen Gewinn dar.
Orchester
Es spielte das Gewandhausorchester Leipzig unter der Stabführung von George Petrou. Letzterer schwang den Taktstock mit Verve und hatte seine delikat aufspielenden Leute gut im Griff. Erstaunlich, wie schnell die Ouvertüre angegangen wurde. Lebhafte Streicherpassagen nahmen ebenso wie bei klagende Bläser-Einlagen Naturschilderungen vorweg, die später im Gesang der Alkestis auf ihrem Weg in das Reich der Toten wieder aufgegriffen wurden: Das Singen der Waldvögel, die Kaskaden der Wasserfälle. Da man die Oper durchaus als vertontes Seelendrama, als musikalisches Schauspiel nach Euripides, sehen kann, gibt es wenige Arien, jedoch viele Dialoge und Rezitative, die eine zuverlässige Basso-Continuo-Begleitung erfordern, die hier durch Violoncello und Cembalo mustergültig erfolgte.
Chor und Kinderchor
Es ist immer wieder eine Freude, den Leipziger Chor zu erleben. Bei Gluck spielt er eine herausragende Rolle. Er kommentiert das Geschehen nicht aus höherer Warte wie ein antiker Chor im Drama, sondern nimmt als „Volk“ aktiv am Geschehen teil. Die Homogenität zwischen Frauen-, Männer- und Kinderstimmen ist verblüffend. An dieser Stelle soll noch auf die Besonderheit der beiden Königskinder Aspasia und Eumelo (in der Premiere gesungen von den Kindern Lea Heinzel und Johann Lieberwirth) hingewiesen werden, welche in italienischer Sprache sauber intoniert einige Passagen darboten, grandios vom Opernfachmann Gluck eingebaut.
Sängerinnen und Sänger
An erster Stelle ist hier die Sängerin der Alkestis, Chiara Angella, zu nennen. Gluck hat hier nicht nur musikalisch eine „Heldin der Antike“, sondern einen Menschen aus Fleisch und Blut entworfen, der erst allmählich das von den Göttern heraufbeschworene Dilemma begreift und dann entsprechend handelt: Die Götter fordern ein Menschenopfer, um den König Admetos, der dem Tode nahe ist, zu retten.
Alkestis beschließt aus Liebe zu ihrem Mann, dieses Opfer zu bringen, da sie die einzige ist, die hierzu bereit ist. Von nun an geht sie nicht nur buchstäblich in das Totenreich, in die Unterwelt, sondern auch psychologisch durch die Hölle: Zwar ständig zum Opfer entschlossen, vergeht sie fast vor Sorge um ihre Kinder, die sie mutterlos zurücklassen müsste. Zudem sieht sie sich den Vorwürfen und der Wut ihres Mannes ausgesetzt, als sie sich ihm offenbart und er erkennen muss, dass er ihrem Todeswillen seine Genesung verdankt. Die Musik drückt Alkestis` Angst, Sorge, Zweifel und Liebe aus. Mal ist sie fast schon gestorben und von den Kräften verlassen, dann erstarkt sie wieder. Ihr Abschied ist musikalisch lang und ergreifend ausgemalt. Das ging unter die Haut und erforderte großen Einsatz der Sängerin, die über einen ausgeglichenen Mezzo verfügt. Im Sinne Glucks, der neben Expressivität in den Arien auch leise Töne forderte und dem Schreien abhold war, gestaltete sie ihre Rolle. Angella war fast ununterbrochen präsent, sie repräsentierte einen herben, fast burschikosen Frauentyp mit ausladenden Gesten und zeitweilig raumgreifenden Schritten, vermochte aber auch als liebende, zärtliche Mutter und besorgte Gattin zu überzeugen. Einige Einsätze klangen kernig, gegen Ende erschien sie mir erschöpft, kein Wunder bei dem Einsatz. Angella erhielt den verdienten heftigen Premieren-Applaus.
Leidenschaftlichen Einsatz zeigte Yves Saelens als König Admetos. Ihm gönnt Gluck private Gefühlsausbrüche, die ihn weniger als um sein Volk besorgten Herrscher, sondern überwiegend als Privatmann zeigen, der seine Frau über alles liebt, der über ihren Entschluss, ohne ihn zu Rate zu ziehen, sich dem Tode zu weihen, bestürzt und wütend ist. Das war sängerisch und darstellerisch packend. Kaum zu glauben, dass Gluck für seine ursprüngliche Wiener Fassung seiner Oper fast nur Buffo-Sänger zur Verfügung standen, (die aber gleichwohl vermutlich sehr gute Darsteller-Sänger waren).
Weiterhin sang Viktorija Kaminskaite die Ismene, Vertraute und Begleiterin der Königin Alkestis. Ihre klare schöne Stimme ließ keine Wünsche offen, man möchte sie öfter hören. Sie folgt ihrer Königin auf dem langen Weg in den Hades und ist nur nach wiederholter, fast grober Aufforderung, sich zu entfernen, in der Lage, die Königin allein zu lassen.
Auch die übrigen Rollen waren mit jungen Stimmen adäquat besetzt, sehr erfreulich, Norman Reinhardt als Evandros zu erleben, Ryan McKinny als Herkules mit großem Körper- und Keulen-Einsatz. Etwas eigenartig maniriert (gewollt?) klang der Einsatz des göttlichen Apollo (Tomas Möwes), ein wahrer „deus ex machina“, der die durch Herkules verfügte Rettung beider Gatten absegnet.
Eine Sonderrolle spielten Damen des Leipziger Balletts als Geister der Unterwelt. Regiekonform traten sie als eine Art „Fernsehballett“ auf, aber die suggestiven, lasziven Bewegungen, mit denen sie lockten, waren als Signal der Todesgefahr nicht zu verkennen.
Inszenierung
Wie schon erwähnt, zerfällt die Inszenierung in zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Teile: Im ersten und im zweiten Akt befinden wir uns im antiken Griechenland, in einer mythischen Vorzeit, in der ein Hirtenvolk mit dem baldigen Ableben seines Herrschers rechnen muss und die üblichen Tieropfer nicht mehr helfen. In Leipzig ist ein schönes Lamm auf der Bühne zu sehen, über ihm schwingt ein Priester bereits das Messer, gelegentlich erklingt ein leises „Bäh“ in die klagenden oratorienähnlichen Chorgesänge hinein und ruft beim Publikum verhaltene Heiterkeit hervor.
Im zweiten Akt macht sich Alkestis auf den langen Weg ins Totenreich. Sie wandert auf der sich drehenden Bühne durch eine felsige karge Landschaft. Der Hintergrund zeigt einen Morgenhimmel mit ziehenden Wolken, die sich immer mehr auftürmen und verdunkeln; der Tag geht in den Abend über. Das Zwiegespräch der im Totenreich schließlich nach langer Wanderung angelangten Königin Alkestis mit den schemenhaften Gestalten der Unterwelt gehört zu den Höhepunkten der Inszenierung und der Oper: Die Bühne ist jetzt in Ober- und Unterbühne aufgeteilt. Oben ein Felsen, auf dem die Königin kauert, der schließlich durch Nebel fast völlig verhüllt wird, unten sich windende schemenhafte Gestalten. Die Königin beugt sich zu den Totengöttern hinab, bietet sich als Opfer an und steigt schließlich zu ihnen hinab, vorübergehend nur, denn dann verlässt sie das Totenreich wieder, um Abschied von ihrer Familie zu nehmen.
Ganz anders der dritte Akt, der in einem Fernsehstudio spielt. Da in den ersten beiden Akten Trauer und Schmerz vorherrschen, und in dieser Hinsicht eigentlich keine Steigerung mehr möglich ist, wird die im dritten Akt erfolgende Ent-Mythologisierung vom Publikum überwiegend dankbar angenommen. Es setzt sich nunmehr bereitwillig mit einem ironisierenden modernen „Satyrspiel“ (Konwitschny) auseinander. Das Libretto verheißt zwar eine Steigerung des Grauens; das Totenreich mit dem Fluss Lethe und dem Fährmann Charon wird als noch bedrohlicher und einsamer geschildert. In Konwitschnys Inszenierung wird eine Steigerung jedoch auf andere Weise erzielt: Zunächst wird das Thema "Opfertod" behutsam wieder aufgegriffen, schließlich jedoch ins Absurde übersteigert. Das "Volk" von Thessalien, die Menschen der Antike, betreten nämlich zaghaft die Bühne und verwandeln sich dann vor aller Augen in das "Fernsehvolk", in Statisten eines TV-Senders, die ihren Text auf Schautafeln geliefert bekommen, die dann nur noch abgelesen werden müssen. Lustvoll sind sie in einer banalen Gegenwart angekommen. Auch Alkestes und Admetos erscheinen und setzen ihren Streit fort.
Herkules von "HercoolTV", Moderator mit nacktem Oberkörper, über den er ein Raubtierfell geschlungen hat, schwingt eine riesige Keule, die auch als funktionierendes Mikrofon dient, welches er einzelnen Sängern vor den Mund hält. "Griechen" treten in adretten Karnevalskostümen auf, Alkestis, verstört und unsicher wirkend, wird in ein weißes Abendkleid und Stöckelschuhe gezwungen, Admetos wird ebenfalls als Mann der Neuzeit "verkleidet". Von königlichem Rang bleibt beiden nichts. Beide wetteifern darum, den Kahn des Todes besteigen zu dürfen, bis Herkules eingreift und alles sich zum Guten wendet.
Beim Publikum kam die Inszenierung gut an, langer, anhaltender Beifall. Und manch heutigem Opernbesucher geht es vielleicht wie den Musikfreunden vor mehr als zweihundert Jahren: Nach all der Trauer möchte man etwas Beruhigung und Aufheiterung. Herkules Rettungstat und Apollos Eingreifen setzten sicher auch in historischen Aufführungen einen entspannenden Schluss-Strich. Wenn es früher kein Opern-Satyrspiel wie in der Pariser Fassung der Alceste gab, fügte man einem musikalischen Drama als Anhang gerne noch ein oder zwei mehr oder weniger gekünstelte Ballette bei, wie historische Theater-Ankündigungen belegen.
Astrid und Reiner Fricke
Besuchte Aufführung: Premiere am 17. April 2010
Weitere Vorstellungen: 29. April; 6./14./28. Mai; 18. Juni
Dunkelheit, Dauerregen, angedeuteter Wald und ein steriler, kalter Raum als Guckkastenbühne – das sind die zentralen Elemente, in denen Regisseur Florian Lutz seine Neuinszenierung von Donizettis Lucia di Lammermoor am Staatstheater Braunschweig spielen lässt. Die funktionale Drehbühne des Hauses leistet da einmal mehr ihre guten Dienste. Bühnenbildner Martin Kukulies schafft darauf Räume, die das Dunkle und Mystische, aber auch Eisig-Emotionale in Donizettis von Schauerromantik durchtränkter Oper gut einfangen. Daneben wirken die Kostüme von Andrea Kannappee recht unauffällig – allein das knappe rote Strickkleidchen für Lucia, das schon von Beginn an das blutige Ende vorausahnen lässt, hat hier symbolträchtige Aussagekraft.
Florian Lutz konzentriert sich weniger darauf, eine stringente Geschichte zu erzählen, er nimmt mehr die seelischen Verstrickungen der Figuren in den Blick, findet dabei mal mehr – in den Szenen zwischen Lucia und Edgardo, in der Begegnung Edgardos und Enricos zu Beginn des dritten Aktes –, mal weniger – vor allem in den Szenen, in denen der Chor beteiligt ist – zu überzeugenden Bildern. Insbesondere der Chor erfüllt in diesem Stück kaum mehr als die Funktion klingender Staffage, da darf ein Regisseur durchaus auch einmal Mut zur Vernachlässigung haben. So liegen die Stärken der Inszenierung vor allem im Ausloten der Dreiecksbeziehung zwischen Lucia, Edgardo und Enrico, die zwar nicht den ganzen Abend trägt, wohl aber zu den wesentlichen dramaturgischen Gerüsten zählt.
Dass Donizettis subtile Seelengemälde der Figuren so plastisch erfahrbar wurden, lag vor allem am vorzüglichen Ensemble.
Die junge armenische Sopranistin Liana Aleksanyan erschließt sich mit der Lucia eine weitere Glanzpartie. Glaubhaft verkörpert sie das junge Mädchen, das in kaum einem Moment die Möglichkeit hat, das zu tun, was sie will – und wenn, führt es zum Mord an ihrem vom Bruder aufgezwungenen Bräutigam Arturo und schließlich in den Wahnsinn. Von einigen scharfen Spitzentönen abgesehen singt Aleksanyan die anspruchsvolle Partie, vor allem die vertrackten Koloratur-Passagen, mit einer Souveränität, die ihresgleichen sucht. Nicht minder eindrucksvoll geriet der Edgardo Andrej Dunaevs. Der russische Tenor verfügt über eine große, hell timbrierte und ganz lyrisch grundierte Stimme, die durchaus über herbe Farben verfügt, die aber gerade in dieser Partie noch mehr zur Charakterisierung der Figur beitragen. Mühelos bewältigt er die vertrackten Höhen in seiner Schlussszene am Grab, in den Duetten mit Liana Aleksanyan mischen sich die Stimmen perfekt.
Malte Roesner und Athur Shen, der den Edgardo in der Premiere am 27. März 2010 gesungen hatte. Foto: Staatstheater Braunschweig
Malte Roesner als Lucias Bruder Enrico schont sich stimmlich in keinem Moment, kommt dabei zu einer insgesamt packenden Darstellung, da schlummert ein großes Potential in dem ebenfalls noch recht jungen Sänger, der nur an wenigen Stellen hörbar machte, dass er freilich noch etwas Zeit braucht, um ganz in dieses Repertoire hineinzuwachsen. Gewohnt souverän gab der koreanische Bass Dae-Bum Lee den Raimondo, in den kleineren Partien gab es mit Tobias Haaks als Arturo, Kenneth Bannon als Normanno und Sarah Ferede als Alisa ebenfalls wenig zu wünschen.
Von kleinen Konzentrationsschwächen abgesehen, führte Kapellmeister Sebastian Beckedorf das Staatsorchester Braunschweig sicher und klangschön durch die Partitur und konnte vor allem die Momente, in denen Donizetti dem Orchester hier mehr gönnte als allzu konventionelle Begleitung immer wieder starke Akzente setzen. Besonders im Verlauf der dritten Aktes gelang Beckedorf mit seinen Musikern ein spannungsgeladener Bogen über den dramatischen Verlauf der Handlung.
Das Publikum im gut besuchten Staatstheater feierte vor allem Liana Aleksanyan und Andrej Dunaev mit begeistertem Applaus und zeigte sich insgesamt mit der sängerisch und musikalisch sehr gelungenen Vorstellung beglückt und zufrieden.
Christian Schütte
Besuchte Vorstellung: 17. April 2010
Weitere Vorstellungen: 29. April; 5./16./23./30. Mai 2010
Il viaggio a Reims hat von allen Werken Rossinis wohl die eigentümlichste Aufführungsgeschichte. Geschrieben für die Krönung Karls X. in Reims, verschwand die Oper ganz schnell wieder von den Spielplänen, und Rossini verwendete einen Teil des musikalischen Materials für seinen Comte Ory. Lange Zeit galt die Oper als vergessen und verschollen. Als entsprechende Funde das Bewusstsein dafür schärften, dass es sie sehr wohl noch gibt, stellte sich die Schwierigkeit in den Weg, das Originalmaterial vollständig wieder zusammenzufügen. Seit der modernen Wiederaufführung 1984 erobert das Werk kontinuierlich die Bühnen der Welt und gehört heute – nach den vier bekannten Buffas – zu den meistgespielten Opern Rossinis. Einer der Pioniere dieser Wiederentdeckung und Herausgeber der Viaggio-Partitur in der Rossini-Gesamtausgabe ist Philip Gossett. An den wandte sich Gregor Bühl, Dirigent der Neuinszenierung an der Staatsoper Hannover, als er mit den Vorbereitungen begann. Dank dieses Kontakts kam es sogar zu einer Stippvisite des Opernforschers in Hannover. Im Rahmen der obligaten Einführungsveranstaltung erzählte Philip Gossett informativ und mit viel Humor über die lange Geschichte des Wiederauffindens der Partitur. Sein ebenso unkompliziertes wie mitreißendes Wesen hat sicherlich bei manchem Besucher der Veranstaltung erst die Lust auf diese Rossini-Spezialität geweckt.
Die ist nun in Hannover von Matthias Davids auf die Bühne gebracht worden, der sich am Haus schon mit zwei Musical-Produktionen – das Weiße Rössl und Guys and Dolls – vorgestellt hatte. Zusammen mit der Bühnenbildnerin Marina Hellmann und dem Kostümbildner Leo Kulaš entwirft Davids ein Flughafen-Szenario, in dem die Reisenden auf dem Weg nach Reims stranden und sich in vielerlei persönlichen Verstrickungen begeben. Die einzelnen Figuren werden dabei vor allem durch die ebenso geschmack- wie phantasievollen Kostüme trefflich gezeichnet, einige Aktionen auf der Bühne gleiten stellenweise etwas arg in Klamauk ab, was dem durchweg spielfreudigen und inspirierten Verlauf des Abends indes keinen Abbruch tut. Matthias Davids versucht gar nicht erst, eine Geschichte zu erzählen, schließlich gibt es auch keine, sondern reiht die einzelnen Episoden des Zusammentreffens der Personen mit viel Witz und Spritzigkeit aneinander. Dass Rossini hier ein Paradebeispiel für absurdes Theater geschaffen hat, lässt das Regieteam immer wieder durchblicken.
Musikalischer Trumpf des Abends ist Gregor Bühl, von 1995 bis 2001 1. Kapellmeister am Haus, der nun ans Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters zurückkehrt und einen so luftigen, lockeren, dabei ungemein präzisen Rossini dirigiert, dass das Zuhören eine wahre Wonne wird. Die Musiker folgen seinen Vorgaben hochkonzentriert und mit sicherem Gespür für den typischen Rossini-Klang. Damit bereiten sie dem Ensemble eine wunderbare Grundlage. Allen voran Dorothea Maria Marx als Corinna und Hinako Yoshikawa als Contessa di Folleville wissen das zu nutzen und lassen ihre perfekt sitzenden Koloraturen auf diesem Orchesterteppich schweben. Julia Faylenbogen als Marchesa Melibea mit sattem Mezzo und Ania Vegry als resolute Madama Cortese stehen da in ihrer vokalen Kompetenz in nichts zurück, im Kreis der Herren punkten vor allem die Tenöre Sung-Keun Park als Conte di Libenskof und Ivan Turšić als Cavaliere Belfiore mit hell timbrierten und sicher geführten Stimmen. Tobias Schabel als Lord Sydney, Shavleg Armasi als Barone di Trombonok und Young Myoung Kwon als Don Prudenzio bringen ihre profunden Bassstimmen gekonnt ins Spiel, die Baritone Frank Schneiders als Don Profondo und Jin-Ho Yoo als Don Alvaro stehen da etwas hinten an.
Stimmlich wie musikalisch kann die Staatsoper Hannover mit diesem Sonderfall unter den Opern Rossinis eine rundum geglückte Produktion zeigen, die dem Haus wie dem Publikum die lohnende Lebendigkeit dieses Repertoires zeigen sollte.
Christian Schütte(Besuchte Aufführung: 15. April 2010)
Der dreiteilige Rossini-Zyklus am Theater Bremen ist vollendet. Mit dem Barbiere di Siviglia steht nach La Cenerentola und Maometto II nun die populärste Opera Buffa schlechthin auf dem Spielplan. Regie führte wie bei den vorangegangenen Produktionen auch Michael Hampe. Dieser Barbiere ist nicht neu, sondern die Adaption einer Inszenierung, die Hampe in den 80er Jahren herausbrachte und die bereits auf mehreren Bühnen gezeigt wurde. Das Label Arthaus Musik hat einen Mitschnitt von den Schwetzinger Festspielen 1988 auf DVD herausgebracht, u.a. mit Cecilia Bartoli, David Kuebler und Gino Quilico.
Kenner Michael Hampes, seines Barbiere im Besonderen, wissen, dass er mit im besten Sinne des Wortes klassischen Mitteln arbeitet. Bühnenbilder und Kostüme – die Monika Gora nach Entwürfen von Mauro Pagano für die Bremer Bühne neu eingerichtet hat – sind schön anzusehen, entspringen ganz dem Geist der Geschichte von Beaumarchais. Keine Frage, handwerklich ist mit Michael Hampe ein großer Könner am Werk, dessen Arbeit in dieser Bremer Wiederaufnahme indes nicht restlos überzeugen kann. Die Posen, die einzelne Sänger auf der Bühne einnehmen, bestimmte Szenen, etwa zur Gewittermusik im zweiten Akt, das alles wirkt hier auffällig uninspiriert und nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Hampe ist freilich kein Bilderstürmer oder Erneuerer der szenischen Umsetzung, das will er sicher auch gar nicht sein, es bleibt vielmehr der Eindruck zurück, dass gerade die Umsetzung am Bremer Theater durch das Ensemble einerseits und die technische Einrichtung auf der Bühne andererseits hier nicht die Souveränität erreichen, die es offenbar braucht, um diese Produktion zu einem geschlossenen Opernabend werden zu lassen.
Das Ensemble, das Hampe für diese Wiederaufnahme zur Verfügung stand, vermag leider auch nicht restlos zu überzeugen. Allen voran muss Nadja Stefanoff genannt werden, die mit der überzeugendsten sängerischen Leistung punkten konnte. Der einzige Wunsch, der bei ihrer Rosina offenbleibt, ist etwas mehr Fülle in den tiefen Lagen der Partie, sonst kann sie mit leicht fließenden Koloraturen, sicherer Höhe und ihrer in jeder Hinsicht charmanten Erscheinung ganz für sich einnehmen – das macht sie vor allem frei für ein unbeschwertes, überzeugendes Spiel auf der Bühne. Damit tat sich Leonardo Ferrando als Almaviva schwer, verharrte oft in Posen, die ihm als Darsteller nicht unbedingt entgegenkamen – lässt dabei aber gutes Potential eines klangschönen, hell timbrierten und beweglichen lyrischen Tenors erkennen. Es bleibt ihm zu wünschen, dass er sich in diesem Fach in Ruhe entwickeln kann.
Am Abend vor der Premiere erst ist der junge mexikanische Bariton Alberto Albarrán als Figaro eingesprungen. Er war Mitglied des Opernstudios am Bremer Theater, ist jetzt fest im Ensemble, hatte die Partie mit einstudiert – und musste die Premiere für seinen kurzfristig erkrankten Kollegen retten. Albarrán hat große Freude am Spiel, das ist ihm anzusehen, braucht nur noch viel mehr Erfahrung, um zu einer Darstellung aus einem Guss zu kommen. Insgesamt konnte er sich auch stimmlich in das Ensemble gut einfügen, die eine oder andere Schwachstelle sei der Nervosität gutgeschrieben, die sein plötzlicher Einsatz sicher ausgelöst hat.
Tomas Möwes spielte einen schrulligen Doktor Bartolo, konnte mit seinem inzwischen sehr engen und vibratoreichen Bariton stimmlich weniger überzeugen. Seit einigen Jahren ist Kurt Rydl ebenso regelmäßiger wie prominenter Gast in Bremen, legte darstellerisch einen köstlichen Don Basilio hin, verfügt nach wie vor über ein mächtiges, urgewaltiges Organ – wünschenswert wäre gleichwohl gewesen, hätte er Kraft und Volumen seiner Stimme vor allem in den Ensembles etwas zurücknehmen können, um nicht permanent herauszustechen. In den übrigen Partien ergänzten u.a. Agnes Selma Weiland als Berta, Loren Lang als Fiorillo und vor allem Günter Schulz als Ambrosio als herrliche Karikatur des dümmlichen Dieners im Hause Bartolo das Ensemble.
Die orchestrale Seite hinterließ insgesamt einen etwas fahlen Eindruck, vor allem, weil Bremens 1. Kapellmeister Daniel Montané den ganzen Abend über mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, Bühne und Orchester zusammenzuhalten. Was am Anfang noch nach Anlaufschwierigkeiten klang, entwickelte sich zu einem Manko des ganzen Abends. An diesem Punkt war der Aufführung somit am ehesten anzumerken, dass Rossini eben doch keinesfalls zu unterschätzende Anforderungen an seine Interpreten stellt. Wie viele der Abstriche tatsächlich der Premierennervosität zuzuschreiben sind, werden erst folgende Aufführungen belegen können, eine rundum überzeugende Visitenkarte seiner Rossini-Kompetenz konnte das Bremer Haus an diesem Abend nicht zeigen, der Beifall des Publikums, der nicht allzu überschäumend ausfiel, trug dem ebenso Rechnung.
Christian Schütte(Besuchte Aufführung: 20. März 2010)
Im Spielplan für die kommende Spielzeit 2010/2011 spricht die Opernintendantin und Generalmusikdirektorin Simone Young im Vorwort auch die Freunde des Belcanto direkt an und präsentiert sogenannte Belcanto-Wochen:
"Und Freunde des Belcanto können nicht nur auf eine turbulente Neuinszenierung von Rossinis "La Cenerentola" mit dem frankokanadischen Gespann Renaud Doucet und André Barbe gespannt sein, sondern auch auf hochkarätig besetzte Repertoirevorstellungen mit internationalen Sängerstars"
Sicherlich eine erfreuliche Nachricht, wenn man mit vergangenen Spielzeiten vergleicht (siehe den Beitrag von esg "Belcanto-Oper in Hamburg - Ein Trauerspiel" hier im Blog).
Wie dieser Gesamtvorschau und der Opernübersicht zu entnehmen ist, werden jeweils drei Opern von Rossini und Donizetti auf dem Spielplan stehen (Il barbiere di Siviglia, Il turco in Italia, Lucia di Lammermoor, L’elisir d’amore, La Fille du Régiment, La Cenerentola - Premiere 8. Mai 2011).
Wenn irgendwo Tancredi auf dem Spielplan steht, stellt sich immer auch die Frage über die gespielte Fassung. Ein Bekannter, den ich zur Premiere in Biel treffen wollte, fragte mich, ob er das Taschentuch mitnehmen solle, oder ob die Fassung mit dem glücklichen Ende gespielt werde. Ich versuchte, mich auf der Website des Theaters schlau zu machen. Dort hiess es zu dem Stück u.a. „Auf dem Schlachtfeld erfährt er [Tancredi], ausgerechnet von seinem sterbenden Feind, von der Unschuld Amenaides“. Da diese Aussage auf die Fassung mit dem tragischen Ende (geschrieben für Ferrara) nicht zutrifft, war die logische Schlussfolgerung, dass Biel die „taschentuchlose“ Fassung (Venedig oder Mailand) spielen würde. Das wäre auch die Lösung, die insgesamt am besten zum Geist dieser Oper passt. Aber man kann sich der grossartigen experimentellen Lösung Rossinis mit dem tragischen Ende nicht verschliessen, vor allem wenn ein so guter Tancredi wie in Biel zur Verfügung steht. Die Handlungsangabe im Programmheft ist denn auch explizit, wenngleich nicht ganz korrekt: „Tödlich verwundet erfährt Tancredi von Amenaide [in Wirklichkeit von Argirio], dass er Adressat des Briefes war. Sterbend versöhnt er sich mit ihr“. Im Weiteren heisst es zur Fassung: „Wir haben uns für diese Version [von Ferrara] entschieden und noch eine Arie Argirios aus der Mailänder Fassung eingefügt“. Das Wort eingefügt suggeriert eine Ergänzung, in Wirklichkeit wurde aber im 1. Akt die Arie (Nr. 4) „Pensa che sei mia figlia“ der Venezianer Fassung durch die für Mailand von einem anderen Tenor verwendete Arie (Nr. 4a) „Se ostinata non cedi“ ersetzt – eine Arie, die wahrscheinlich nicht von Rossini selbst stammt aber von ihm akzeptiert wurde. Es gibt weitere Abweichungen von der Ferrara-Fassung, die nicht erläutert sind: Während Rossini in Ferrara das Duett Amenaide-Tancredi aus dem zweiten Akt (Nr. 14) mit minimalen Textanpassungen an die Stelle des Duetts (Nr. 5) im 1. Akt setzte und im 2. Akt auf ein Duett der beiden verzichtete, wird in Biel im 1. Akt das ursprüngliche Duett gesungen; im 2. Akt entfällt der ganze Komplex Chor (Nr. 13), Duett (Nr. 14) und Arie Roggiero (Nr. 15). Dafür wird hier von der Arie Argirios im 2. Akt (Nr. 8), die in Ferrara ganz entfiel, das einleitende, begleitete Rezitativ gespielt, womit wenigstens im Ansatz der Zwiespalt gezeigt wird, in dem sich der Vater und Politiker befindet. Ingesamt wurde in Biel aus den drei Fassungen und den möglichen Kombinationen eine musikalisch und dramaturgisch schlüssige Wahl getroffen.
Dies gilt m.E. vom Standpunkt der Werktreue aus leider nicht für die szenische Umsetzung. Über die neuesten Tancredi‑Inszenierungen und ihre Absurditäten haben wir erst im letzten Mitteilungsblatt lesen können: Faschisten-Epos inkl. Mussolini in Wien, spanischer Bürgerkrieg mit schwangerer Amenaide in Boston. Ich selber erinnere mich einer krass-hässlichen Mafiainszenierung inkl. Kopfschussszenen in Winterthur (Produktion des Zürcher Opernhauses 1996). Auf dieser ruhmreichen Interpretationsschiene bewegte sich grosso modo auch der jüngste Tancredi in der Produktion des Ensemble-Theaters Biel-Solothurn, das bislang noch von Segnungen moderner Regieansätze relativ unkontaminiert geblieben ist. Alexander von Pfeil wollte „eine Welt schaffen, die wir erkennen können. Das muss nicht bedeuten, dass es zwangsläufig in unserer Zeit spielen muss, aber Ritter in Strumpfhosen wären doch zu weit weg“. Natürlich könnte er statt Strumpfhosen gerade so gut Kettenhemden, Hellebarden oder Schwerter gesagt haben, alles Dinge, die ihm offenbar zu altbacken sind und denen er die heute bis zum Überdruss verwendeten Stereotypen Tarnanzüge, Springerstiefel, Pistole und Maschinengewehre vorzieht. AvP (wie wir ihn nun analog zum Interview im Programmheft nennen wollen) fährt fort: „Wir befinden uns in einem Land im Bürgerkrieg. Man kann auch das Gefühl haben, dass es mafiöse Verstrickungen gibt“. Letzteres schien denn auch die Hauptinspirationsquelle des Regisseurs zu sein. Vielleicht muss man an dieser Stelle wieder einmal in Erinnerung rufen, worum es in der Geschichte überhaupt geht. Unter dem Druck der äusseren Bedrohung durch die Sarazenen (angeführt von dem Mohren Solamir) vereinigen sich die zerstrittenen Kräfte des Stadtstaates Siracusa; Argirio übergibt die Macht seinem bisherigen Gegner Orbazzano und verspricht ihm die Hand seiner Tochter Amenaide. Dabei ignoriert er, dass diese den geächteten Edelmann Tancredi liebt. Das Drama basiert aber nicht, wie unzählige Opernstoffe mit dieser Viererkonstellation, auf einer nicht standesgemässen Liebe (wie z.B. bei den Feldherren Otello, Falliero oder Eduardo), sondern vor allem in der charakterlichen und situationsbedingten Unfähigkeit Amenaides, ihrem heimkehrenden Liebhaber die Umstände klar zu machen, sodass dieser (im Gegensatz zu Falliero und Eduardo) an ihrer Liebe zweifeln muss.
Violetta Radomirksa - Rosa Elvira Sierra. Foto: Theater Biel
Will man eine solche Konstellation auf eine handlungsfremde Zeit übertragen, sollten die Umstände wenigstens vergleichbar sein. Wir erfahren in Biel nicht, wer der Gegner, wer dieser Solamir ist. Der Anführer eines weiteren Clans? In dem gezeigten Mafiaumfeld würde es noch am ehesten Sinn machen, wenn es der Staat wäre, Carabinieri und Poliziotti auf der Jagd der Malavita. Und wer ist dieser Tancredi, der bis an die Zähne bewaffnet in Syrakus eindringt? Führt er mit seinem handgranatengefüllten Rucksack einen persönlichen Rachefeldzug, oder ist er ein Partisanenkämpfer oder ein Terrorist? Wie auch immer, AvP nobilitiert eine Unrechtsgesellschaft, der man keine Sympathie entgegenbringen sollte. Rossini hat dagegen einen Rechtsstaat gezeigt, dessen innere und äussere Bedrohungen am Schluss abgewendet werden können.
AvP: „Man muss das Stück verdichten und auf die zentralen Konflikte konzentrieren“. Diese Aufgabe hat bereits Rossini wahrgenommen, denn genau das ist seine Stärke. Es gibt kaum einen Komponisten, der sich in der Behandlung seiner Stoffe so konsequent auf einen Handlungsstrang konzentrierte und Nebenhandlungen bewusst beiseite liess bzw. eliminierte (erinnert sei etwa an das überflüssige Liebesduett in der Italienerin, ist doch die Liebe zwischen Isabella und Lindoro gar nie in Frage gestellt). AvP macht genau das Gegenteil, er schafft Nebenhandlungen, Aktionismus, psychologische Ungereimtheiten, Anachronismen, stofffremde Eigeninterpretationen. Eine Nebenhandlung wird z.B. durch die Rolle eines Telefons übernommen. Dauernd nimmt dort jemand Befehle entgegen oder übermittelt Botschaften, ohne dass je klar wird, wer am anderen Ende sitzt. Der grosse Oberboss? Es ist ein reiner Inszenierungsleerlauf, genauso wie das dauernde Tuscheln und Gestikulieren der nicht singenden Personen. Psychologische Ungereimtheiten gibt es zuhauf. Bei ihrem ersten Auftritt wird Amenaide Orbazzano vorgestellt, den sie mit gespielter Höflichkeit begrüsst und nebenher Faxen über ihn macht: für den Zuschauer wird sofort deutlich, dass sie weiss, ihn heiraten zu müssen. Ihren hoffnungsvollen Gesang über das ersehnte Wiedersehen mit dem Geliebten übergeht der Regisseur in eklatanter Weise, indem er eine Situation vorweg nimmt, die erst im Rezitativ nach der Arie angelegt ist. Ein ähnlicher Anachronismus spielt sich in der „Kerkerszene“ ab. Dort müssen wir zweimal mit ansehen, wie ihr die Todesspritze an den Arm gesetzt, aber dann doch nicht abgedrückt wird, weil es einem der ihr freundlicher gesonnenen Männer offenbar gelingt (tuscheln, gestikulieren mit Orbazzano), die Vollstreckung des Todesurteils zu verzögern oder auszusetzen. Sie müsste also eine Arie singen, in der sie sich zwischen Todesangst und Hoffnung bewegt. Amenaide singt aber eine Arie, in der sie nichts mehr anderes als den Tod erwartet. – Das Duett (Nr. 11) „M’abbraccia, Argirio… Ecco le trombe“, das die emotionale Verbundenheit von Argirio und Tancredi textlich und musikalisch zeichnet, wird von Anfang an in Sarkasmus umgedeutet, Tancredi bedroht den Vater seiner Geliebten mit der Pistole, um ihm Dankbarkeit für die Ausschaltung Orbazzanos abzuringen, während – wiederum in einer Nebenhandlung – der Arzt, der vorhin Amenaide mit der Spritze töten sollte, umgebracht wird (mit einer Injektion in den Po, was auch noch witzig sein soll). Das zündend gesungene und mitreissende Duett erhält einen zögerlichen und rasch erstickenden Applaus, dem Publikum bleibt angesichts des Kontrastes zwischen Musik und szenischer Handlung der Brocken buchstäblich im Hals stecken. Die grösste Absurdität hat sich AvP aber für den Schluss aufbewahrt – offenbar getreu einer modischen Regisseuren-Maxime, wonach zuletzt ein Bruch stattfinden muss (vgl. den Tell in Gelsenkirchen, den Otello in Biel, den Moïse in Nürnberg…). Nach dem bewegenden Tod Tancredis, kurz bevor der Vorhang fällt (bzw. das Licht ausgeht), schnellt Amenaide hoch, greift zu einer Pistole und richtet sie auf ihren Vater. Dabei ist ein Hass Amenaides auf ihren Vater, der zu einer solchen Affekthandlung führen würden, in dieser Oper überhaupt kein Thema. Das versteht AvP also unter „Konzentration auf zentrale Konflikte“. Es ist die reine Wichtigtuerei eines Regisseurs, der wieder einmal besser und klüger sein will, als die Vorlage, die er zu realisieren hat. Für die zentralen Fragezeichen, die dieses Libretto effektiv offen lässt, hat auch er keine Antwort: nämlich die Frage, warum es Amenaide nicht gelingt, Tancredi über die wahren Verhältnisse zu unterrichten, auch dann nicht, wenn der innere Feind (Orbazzano) längst erledigt und Tancredi als neuer Führer akzeptiert ist. Wenn Amenaide zum Erklärungsversuch „Esci d’errore omai…“ ansetzt und Tancredi mit „Taci, è vano quel pianto“ und seiner anschliessenden Arie „Perché turbar la calma“ antwortet, zeigt nichts in dieser Inszenierung, dass seine brüske Abweisung und der Aufbruch zum Kampf sie gar nicht zu Wort kommen lässt.
Zu den Albernheiten gehört nicht nur das Telefon, sondern auch die Spaghetti essenden Mafiosi, die an die Papataci-Szene in der Italienerin erinnern (und zudem noch in Teller nachschöpfen, die bereits oder noch voll sind), oder die obligate Raucherszene: Theaterbühnen scheinen die letzten Refugien von öffentlichem Raucherexhibitionismus zu sein – es gibt doch nichts Cooleres (und nichts Abgeschmackteres und Trivialeres) als den Griff zur Zigarette zu inszenieren. Einer der beiden etwa 6jährigen Buben, die ein Elternpaar vielleicht in Erwartung einer schönen Rittergeschichte mit Happyend mit ins Theater genommen hatten, fand das ganz toll: „Mami, dä het ä Sigärette!“. Soviel zur ostentativen Verweigerung moralischer Ansprüche in der Oper, in der auch die neueste Regisseuren-Generation im Kielwasser ihrer revolutionären 68er-Väter verharrt. Es versteht sich sodann fast von selbst, dass dem klassischen Gebot einer Erhabenheit und Schönheit auch im Tragischen hier eine blutbesudelte, in Plastik gehüllte Leiche entgegengesetzt werden muss (der Bote Amenaides, von dem wir vom Hörensagen wissen, dass er gefasst und getötet wurde).
Insofern kann als Ehrenrettung für den Berufsmann auch gesagt werden, dass die von ihm gezeigte Geschichte durchaus ihre innere Logik und Stringenz und einige bezwingende Szenen hat, ja sogar eine ihr eigene Poesie, wie sie auch Blockbusters à la Star Wars oder Herr der Ringe vermitteln können, und das meine ich durchaus nicht abschätzig. Aber eben: Es ist seine Geschichte und nicht die von Rossini, und wenn ich in einem Restaurant Spaghetti alla Bolognese von der Tageskarte bestelle, möchte ich nicht Kutteln vorgesetzt bekommen.
Giuditta Pasta als "Strumpfhosen-Tancredi". Bild: DRG
Im Zusammenhang mit „der Welt, die wir erkennen können“ möchte ich noch daran erinnern, dass es abgesehen von zeitlich mehr oder weniger festlegbaren Handlungsumfeldern auch noch die Möglichkeit von „zeitlosen“ Ansätzen gibt – so wie dies Pierluigi Pizzi in allen seiner drei Tancredi-Inszenierungen in Pesaro gezeigt hat.
In der dritten und wohl exemplarischsten dieser „schwebenden“ Inszenierungen sang den Tancredi Daniela Barcellona, die sich kürzlich in einem Interview («Opernglas» 4/2010) zur musikalischen Leitung von Rossini äusserte: „Viele junge Dirigenten glauben, Rossini sei leicht zu interpretieren. Aber er ist ähnlich problematisch wie die Barockoper.“ Insofern ist die Dirigentin Cornelia von Kerssenbrock ein Glücksfall, da sie sich vor allem einen Ruf in der Barockoper gemacht hat. Sie leitet diese Oper mit grossem Impetus, mit rhythmischer Präzision, ausgewogener Differenzierung in den Tempi und der Dynamik und atmet stets mit den Sängern mit. Sie selber begleitet auch die ausgezeichnet gestalteten Rezitative am Cembalo.
Mit William Lombardi verfügt das Bieler Ensemble über einen beachtlichen Tenor, der mit Schmelz und einer gewissen Dreistigkeit seinen Rollen Glaubwürdigkeit verleiht. Vielleicht war es die Dreistigkeit, wegen der ihm bei der Premiere in der Introduktion der Spitzenton abbrach; auch an anderen Stellen geriet seine Stimme ins Schleudern. Vor dem 2. Akt gab Intendant Beat Wyrsch bekannt, dass der Tenor, wie man gehört hätte, indisponiert sei, aber die Aufführung trotzdem zu Ende führen würde. Auffallend war allerdings, dass Lombardi in seiner Arie keinerlei hörbare Probleme hatte – eine Arie, die (wie wir gesehen haben) für einen anderen Sänger als der Rest der Partie geschrieben wurde – möglicherweise war es einfach auch die Stretta mit ihrem rhythmisch fordernden und stark kolorierten Spitzengesang in der Introduktion, die dem Sänger zu schaffen machte, während die andere, noch ziemlich im Stil des 18. Jahrhunderts gehaltene Arie mehr in sich ruht. Der Hinweis auf einen „Virus“ erfolgt auch zu Beginn der zweiten Aufführung, aber Lombardi, der nun die heiklen Stellen deutlich vorsichtiger anging, liess keine Kickser mehr vernehmen.
Der dunkle Bass von Yongfan Chen-Hauser war genau das Richtige für den Bösewicht Orbazzano: eine Partie, die nicht durch grosse dynamische und verzierende Raffinesse als vielmehr durch eine markig-dunkle Präsenz auffallen muss. Und es ist sehr beeindruckend, wie seine Stimme im Ensemble der Überraschung zu Beginn des 1. Finales durchdringt.
Rie Horiguchi erwies sich als Isaura in der Introduktion als etwas kurzatmig. Ihre schöne Arie „Tu che i miseri conforti“ sang sie aber wunderbar. Schade war, dass Nathalie Colas, ebenso wie Horiguchi Studierende der Hochschule der Künste Bern (Schweizer Opernstudio), ihre Stimme nicht in der Ruggiero-Arie „Torni alfin ridente“ präsentieren konnte.
Rosa Elvira Sierra hatte durch die läppischen Regieeinfälle keine Chance, den inneren Gehalt ihrer Auftrittsarie adäquat zu äussern – zu stark war sie von ausser-musikalischen Faxenschneiden absorbiert. Dafür war ihre „Kerkerarie“ eine Offenbarung. Sie, die mit Amina und Lucia in Biel das romantische Repertoire ausgelotet hat, verlieh ihrer Todeserwartung mit herrlicher Messa di voce jene nachtwandlerische Wahnsinnsverlorenheit, die vor allem für Donizettis Opernheldinnen zu typisch ist. Sie zeigte damit, wie stark Rossini, selbst in dieser frühen, klassischen Oper den Romantizismus der kommenden Jahrzehnte vorgeprägt hat.
Gross waren natürlich die Erwartungen in die Titelrolle von Violetta Radomirska, die mich in Biel schon als Cenerentola und letztes Jahr als Desdemona beeindruckt hatte. Mit der eigentlichen Sopranpartie der Letzteren ist die Mezzosopranistin ein gewisses Risiko eingegangen, das sie bravourös meisterte. Mit dem Tancredi hat sie aber eine ihr kongeniale Partie gefunden. Die gesunde Stimme strömte im Wohlklang aus ihre Kehle, ihre pastose Tiefe kommt in dieser Partie richtig zur Geltung und entsprechend frei war ihre Rollengestaltung. Sie weiss nicht nur mit sicherer Kehlfertigkeit aufzutrumpfen, sondern auch mit emotionaler Gestaltung. Als schlaksiger Jüngling mit seinen Sehnsüchten und postpubertärem Narzissmus gab sie eine Charakterisierung ab, die nicht nur dieser Inszenierung gut entsprachen, sondern auch den androgynen Reiz von Rossinis Hosenrolle besonderes aufleben liess. Mögen wir sie früher oder später als Malcolm, als Calbo, als Arsace erleben (um nur die bekanntesten zu nennen)!
Fazit: Alle Achtung für die hohe musikalische Qualität, für die man diese Inszenierung im modernen Regie-Mainstream in Kauf nehmen kann. Weitere Aufführungen: hier.
Reto Müller(Besuchte Aufführung: 9. [Premiere] und 11. April 2010)
Reto Müller ein herzliches Dankeschön für seine ausführlichen Anmerkungen zum Nürnberger "Moïse". Die Präsentation dieser Oper war nicht so total abwegig, als dass sich ein solch ganz und gar negativer Grundsatz- "Verriss" darüber anböte, wie ihn beispielsweise Jacques Béranger über den Münchener Don Giovanni geschrieben hat (AnDante Kulturmagazin, 9. Ausgabe).
Erfreulich finde ich die Würdigung der gesanglichen Leistungen der Sänger von Moise und Pharao. In privatem Kreise oder der Presse wurden beide meist mit abwertenden Bemerkungen bedacht. Dass Intendant Peter Theiler den umfänglichen Kürzungen der Musik offensichtlich zugestimmt hat, wundert mich nicht. Der Staatsintendant stellt sich zwar gerne
seinem Publikum als bekennender Belcantofreund dar. Doch wer seine Guillaume-Tell-Aufführungen im Musiktheater Gelsenkirchen erlebt hat, dem dürfte die umfängliche Verwendung des Rotstiftes sehr bekannt vorkommen. Beim Tell versuchte Herr Theiler das noch mit der ungewöhnlich langen Spieldauer zu begründen, die man einem heutigen Publikum nicht mehr zumuten könne. Die im Vergleich zum Tell relativ kurze Spieldauer des Moise und die von Reto Müller zitierten Aufführungslängen von Zauberflöte und Tannhäuser lassen aber vermuten, dass man sich in Nürnberg mit den Darstellungsmitteln und der Sichtweise der Komponisten vor 1830 wohl überhaupt nicht näher beschäftigen möchte.
Schöne Musik zu spielen und akustisch Beeindruckendem nachzuspüren, reicht bei italienischen Opern völlig für ein Publikum, dem vordergründig meist lediglich Hörgenuss unterstellt wird. Bleibt zu hoffen, dass die Musikverantwortlichen die abwägenden und treffenden Ausführungen zu den Kürzungen und der Nummernproblematik auch zu lesen bekommen. Denn sonst bleibt sicher alles so, wie es ist...
Bei der Inszenierung möchte ich gern noch den räumlich-architektonischen Aspekt etwas stärker herausstellen. Die Bühne war als Einheitsraum mit variablem Hintergrund gestaltet. Der weiße Raum mit den Koffern an den Wänden und auf dem Boden vermittelte eindrucksvoll und grafisch von hoher Ästhetik die Grundsituation eines auf seine Abreise wartenden Volkes. Die Kofferschatten an den Wänden hielten auch im Schlussakt das Thema "Aufbruch", das dort durch andere Handlungen etwas zurückgedrängt wurde, ständig im Bewusstsein der Zuschauer.
Der Ortswechsel im Handlungsgeschehen steht einer Einheitsgestaltung grundsätzlich im Wege. Hier ersetzte im zweiten Akt eine geschickte Personenregie die räumliche Umgestaltung. Durch das Betonen der Privatheit im Auftreten des ägyptischen Herrscherpaares, verbunden mit einem Wechsel der Rückprospektoptik, wurde trotz des Einheitsbildes das Innere eines Palastes suggeriert. Dieser Teil der Inszenierung kann, für
sich betrachtet, durchaus auch ohne Historien- oder neuzeitlichen Bezug Gehalt und Aussage einer Handlung glaubhaft illustrieren.
Mit der Distanz von einigen Wochen wage ich einen Rückblick auf den Nürnberger Moïse, nicht zuletzt herausgefordert durch einige Betrachtungen von Astrid Fricke. Zunächst ein paar musikalische Eindrücke. Die Rolle des Protagonisten war bei Nicolai Karnolsky gut aufgehoben. Es zeigte sich einmal mehr, dass es für den Moïse keinen großartigen Belcanto-Bassisten braucht, sondern einen charismatischen Sänger-Darsteller. Karnolsky machte aus dem Theodor Herzl eine würdige und moralisch integre Figur, die er auch als Moses abgegeben hätte, wenn der Regisseur diesen nicht auf einen herumtänzelnden Stummrollen-Popanz reduziert hätte. Karnolsky und mit ihm der Pharaon des Melih Tepretmez (der einzige mit einem guten Französisch) waren unter den Männerstimmen die adäquatesten Besetzungen, wobei Daeyoung Kim in den Nebenrollen der Voix mistérieuse und des Priesters Oziride noch besonders hervorgehoben werden darf. David Yim mit seinem eigentlich schönen Timbre zeigte deutliche Limiten in der Rolle des Aménophis und wich teilweise mit abenteuerlichen harmonischen Wendungen seinen Spitzentönen aus. Doch hielt sich dieser Mangel in Grenzen, weil Rossini in dieser Oper für Adolphe Nourrit keine Tenorarie vorgesehen hat. Ganz schlimm war es um den Éliézer bestellt. Werden die gesanglichen Anforderungen an Moïse in der Regel überbewertet, so werden jene seines kleinen Bruders unterschätzt und die Rolle mit unzulänglichen Spieltenören besetzt. Vielleicht genügt es daran zu erinnern, dass Rossini diese Rolle für den selben Sänger schrieb, der dann auch den Fischer im Guillaume Tell kreierte. Die Rolle wird der Lächerlichkeit preisgegeben und gleichzeitig zur Pein, wenn sie unterbesetzt ist, was mit Richard Kindley leider der Fall war. Bei Hrachuhí Bassénz als Anaï fehlte mir die lyrische Innigkeit, und in manchen dramatischen Ausbrüchen dominierte eine gewisse Schärfe. Ihr Geschluchze im Duett mit Aménophis muss eine stilfremde Anleihe aus irgendwelchen Verismo-Opern gewesen sein, die mit Belcanto nichts zu tun hat. In ihrer großen Arie im vierten Akt war sie aber perfekt. Ezgi Kutlu entlockt dem Publikum durch ihr betörendes Auftreten als Sinaïde mitten in ihrer Arie viel Applaus, was auch ihrer stimmlichen Leistung zu verdanken war, wiewohl die Stimme durch einige Registerbrüche auffiel. Insgesamt überzeugte die Nürnberger Produktion musikalisch weniger durch die Solisten als vor allem durch den Chor des Staatstheaters und das großartige Orchester, die Nürnberger Philharmoniker, die mit schöner Klangfarbe und solistisch sauberen Einsätzen auftrumpfen konnten. Die einfühlsame Leitung oblag Christian Reuter.
Erstaunlich ist, dass Staatsintendant Peter Theiler mit seiner wohlbekannten und segensreichen Liebe zur französischen Grand-Opéra beim ersten Teil dieses Gattungsbegriffs offenbar Kompromisse zulässt, die den Zweck der Übung ad absurdum zu führen drohen. Zum Vergleich: die 3 CDs, welche die Pesareser Aufführung von 1997 dokumentieren, dauern zusammen 3 Std. und 5 Minuten, die Nürnberger Produktion inkl. Pause 2 St. 50 Minuten, d.h. die Musik wurde um rund 45 Minuten gekürzt. Weggefallen sind erwartungsgemäß nicht nur die handlungsimmanenten Ballette, mit denen sich heutige Theater schwertun – auch Mehrspartenhäuser wie Nürnberg mit eigenem Ballett (vielleicht aus kameralistischen Gründen?!). Gestrichen wurde in teilweise schmerzhaft hörbarer Weise mitten in den Musiknummern – so z.B. in den Strettas der Introduktionen des 1. und 2. Aktes, oder im Duett der Liebenden, wo der ganze Abschluss fehlte (gegen 100 Takte oder ein Drittel der Nummer!), um nur die eklatantesten Striche zu nennen, die im Übrigen wie Guillotinenhiebe unerbittlich über jede Reprise niedersausten. Man fragt sich, ob es nicht klüger gewesen wäre, eine Nummer wie das Vater-Sohn-Duett (ein Überbleibsel aus der italienischen Fassung, das in dieser Choroper zwar einen schönen Kontrast schafft, aber nicht mehr, wie in der Neapolitaner Version, konstitutiv ist) ganz wegzulassen, wenn schon eine Spieldauer von drei Stunden als unzumutbar betrachtet wird. Angesichts dieser Kürzungen überrascht es auch, dass auf der anderen Seite ein Stück angefügt wurde, das von Rossini eliminiert wurde und somit vom Komponisten selbst als entbehrlich oder sogar als verfehlt empfunden wurde. Die Rede ist von dem Cantique, jenem Dankeschor, der an das instrumentale Finale anschließt und eine eigentliche „Doxologie“ zu dieser Bibeloper darstellt. Nun bin ich persönlich ein großer Anhänger dieser Nummer, die für mich eine formale und „moralische“ Vorwegnahme jener „Freiheitsanrufung“ ist, die den Guillaume Tell beschließt. Insofern bin ich dankbar, dass Nürnberg dieses Stück zu Gehör brachte, aber die Diskrepanz zu den drastischen Kürzungen innerhalb der Oper ist eklatant. Es macht mich sodann wütend, zu sehen, dass das selbe Opernhaus für eine Zauberflöte 3 Stunden und für einen Tannhäuser 4 Stunden 10 Minuten veranschlagt – mithin den deutschen Meistern Original- und Überlängen zugesteht, während man einen Rossini gnadenlos zusammenstaucht.
Theodor Herzl ist sicher eine spannende Figur für eine Operninszenierung. Ich würde es David Mouchtar-Samorai gönnen, wenn er in einer eigens auf diesen Stoff komponierten zeitgenössischen Oper Regie führen könnte. Allein, ihn über den biblischen bzw. rossinischen Moses zu stülpen, wird weder der einen noch der anderen Figur gerecht. Natürlich können wir dem Regisseur dankbar sein, dass er seine Moses-Metamorphose nur bis zu Herzl trieb und nicht, wie neulich zwei Enfants terribles von Pereiras Gnaden am Zürcher Opernhaus, zu einem Osama Bin Laden mutieren ließ; dankbar, dass er nicht den heutigen politischen und pseudo-religiösen Streit thematisierte (wie er selbst sagt: „Das wäre eine oberflächliche Antwort, die die Komplexität und die fatalen Probleme des jüdischen Staats […] ignoriert“). Die eingeblendeten Herzl-Zitate empfand ich denn auch nicht als politische, sondern mehr als philosophische Aussagen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der in einem symbolischen Akt nach Nürnberg berufene jüdische Regisseur zu einer „intellektuellen“ Betrachtung des Stoffes genötigt sah und dies in moderater, aber keineswegs naheliegender und werkstimmiger Weise getan hat. Vollends überfordert war er aber mit der Anforderung, den Cantique am Schluss der Oper noch in seine Inszenierung mit einzubeziehen. Er tat dies mit einem kompletten Stilbruch, wie es unserer schizophrenen Zeit offenbar angemessen ist. Nicht aber der Musik, denn der Cantique ist kein Stilbruch, sondern vielmehr eine Verdoppelung der einkehrenden Meeresstille im instrumentalen Finale. Es gab in den 80er Jahren in Pesaro in der italienischen Moses-Fassung jenes wunderschöne, harmonische Schlussbild von Pierluigi Pizzi, wo sich das ganze jüdische Volk zuletzt um Moses schart und in einem stummen Dankesgebet den Blick zum Himmel richtet. Genau dies ist der Cantique: das Volk dankt Gott, dass es vor der verfolgenden Armee gerettet wurde. Die Aussage von Operndramaturg Eule im Programmheft, wonach der Cantique eine Möglichkeit sei „zum guten Schluss, dem Liete fine [sic!] der Konvention, aufzuzeigen, dass die Errettung auch ihren bitteren Preis hat“ ist reine Phantasterei: eine solche Doppelbödigkeit ist weder im Text noch in der Musik angelegt, und mithin die Kriegs- und Holocaust-Episode des Regisseurs eine an der Dankbarkeitshymne Rossinis völlig vorbei inszenierte Willkürlichkeit.
In diesem Zusammenhang hat Astrid Fricke in ihrem Blog den erstaunlichen Satz geschrieben: „Die Forderung, die Oper so zu inszenieren, wie es dem historischen Rossini und seinen Librettisten vorschwebte, würde die Erfahrungen der letzten hundert Jahre ignorieren.“ Eine solche Sicht der Dinge ist ein Totschlagargument für jegliche genuine Darstellung historischer Stoffe; sie stellt die Bibel ebenso in Frage wie die immer wieder erfolgenden Historienverfilmungen der Moses-Legende; sie besagt, dass Oper, wie sie von ihren Schöpfern konzipiert und umgesetzt wurde (also nicht nur „vorschwebte“), heute keine Berechtigung mehr hat. Leider scheint dies die von der heutigen Regisseurengilde indoktrinierte Meinung zu sein. Die Dinge nur noch aus der Optik der eigenen (zwangsläufig beschränkten) Erfahrungswelt zu sehen, ist trivial; es ist eine sehr herabmindernde Sicht der Dinge, wenn man sich mit einer Thematik nur noch aus dem eigenen, gegenwärtigen Blickwinkel zu beschäftigen vermag und nicht mehr in der Lage ist, sich in andere Zeiten, andere Situationen und andere Menschen hineinzuversetzen und durch diese künstliche und künstlerische Horizonterweiterung die Reflexion über das eigene Ich und Jetzt zu schärfen. Insofern hat uns Theodor Herzl – zitiert im Nürnberger Programmheft – durchaus etwas zu sagen (aber eben als Theodor Herzl, nicht als Moses-Surrogat): „Traum ist von der Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum Traume“ – in der Umsetzung mancher modernen Inszenierung leider allzu oft zum Trauma.
Reto Müller (Vorabdruck aus Mitteilungsblatt der Deutschen Rossini Gesellschaft, 50, April 2010)