21. April 2010

Striche in Opernpartituren bzw. Klavierauszügen in der Praxis an Opernhäusern

Herr Müller gerät darüber in Wut, dass - in diesem Falle speziell in Nürnberg - die Opern-Inszenierungen DIE ZAUBERFLÖTE und TANNHÄUSER von Strichen verschont blieben. Mutmaßlicherweise, weil sie dem deutschen und nicht dem italienischen Opernfach angehören.

In offensichtlicher Unkenntnis der Praxis an Opernhäusern nicht nur in Deutschland muss klar gestellt werden:

Striche werden grundsätzlich erst einmal vom MUSIKALISCHEN LEITER der geplanten Produktion erarbeitet und festgelegt, also nicht vom REGISSEUR in eventueller "Willkür". Ist der Regisseur mit den Strichvorschlägen des Dirigenten nicht einverstanden, wird darüber gesprochen und versucht, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Nicht selten werden dann bei den szenischen Proben schon festgelegte Striche wieder verworfen, d.h. wieder aufgemacht bzw. abgeändert oder auch andere Striche festgelegt. Auch wird oft strichlos gespielt, ganz unabhängig der Fachrichtung. Zudem gibt es sehr oft schon vom Komponisten getätigte Strichvorschläge. 

Richtig ist sicherlich, dass bei Festspielen, wie z.B. Händel-, Rossini-, Strauss-und Wagner- Festspielen die Opern strichlos aufgeführt werden sollten! Allerdings verlangen die Repertoire-Vorstellungen an Opernhäusern, bedingt durch bestimmte Zwänge, Vorgaben (z.B. Ruhezeiteinhaltung) und tägliche Betriebsabläufe, oft eine andere Praxis. Man mag das allenfalls bedauern!

Nun detailliert zu:
DIE ZAUBERFLÖTE hat eine Spieldauer von 3 Stunden und 5 Minuten, davon 25 Minuten Pause [einschließlich Einlass] nach dem 1. Akt, der 1 Stunde 15 Minuten dauert. Reine Spieldauer also 2 Stunden 40 Minuten!

TANNHÄUSER dauert insgesamt mit Pausen ca. 4 Stunden, + bzw. - x Minuten je nach Dirigat. Grundsätzlich werden in Wagner-Opern nach jedem Akt Pausen von mindesten 30 Minuten gemacht (in Bayreuth 1 Stunde), um auch den Sängern Zeit für eine ausreichende Erholung zu gönnen. Gerade in TANNHÄUSER wird die 2. Pause oft noch verlängert aus Rücksicht für den Sänger der Titelpartie, und man sollte auch wissen, dass die "Romerzählung" im 3. Akt enorme stimmliche Anforderungen stellt!
 Also reine Spieldauer ca. 3 Stunden.

MUSIKALISCHE PROBEN beginnen ja bekanntlich etliche Wochen bzw. Monate vor den szenischen
Proben, d.h. die geplanten Striche müssen festliegen. Bekannt sollte eigentlich auch sein, dass der Dirigent und nicht der Regisseur die Verantwortung für die musikalische Seite hat...

Ein extremes Beispiel:
MOSES UND ARON von Arnold Schönberg (Persönliche Anmerkung: ich weiß, für die meisten Rossinianer ist der Komponist ein Graus, für mich nicht!) hat den längsten und schwierigsten Chorpart der gesamten Opernliteratur. Zu Beginn der Spielzeit 2003/2004 erfolgte an den Württembergischen Staatstheatern Stuttgart eine Neuinszenierung. Der musikalische Probenbeginn für den Staatsopernchor war 1 1/2 Jahre (!!!) vorher. Zu dieser Zeit hatte der Regisseur vielleicht sein Konzept bzw. seine Strichwünsche noch gar nicht endgültig festgelegt.

Und:
HÄNDEL-Opern, die ja auch zum deutschen Repertoire gehören, würden ungestrichen oft 5-6 Stunden dauern, da streicht man nun oft Wiederholungen weg, um die Spieldauer erträglich zu halten.

Aus langer Berufstätigkeit (s.u.) kann ich auch sagen, dass es oft gerade auch die Regisseure sind, die möglichst nichts gestrichen haben wollen, man mag das glauben oder auch nicht.

Fazit.

1) Die Behauptung, im deutschen Opernfach würde nicht getrichen, entbehrt jeglicher Grundlage und ist absolut abwegig.

2) Es ist auch unsinnig zu meinen, die "bösen Buben und Mädels" alias Regisseure/Regisseurinnen hätten bei Strichen das alleinige Sagen!

Werner Adam, Opern-Inspizient i.R.

Anmerkung:
Berufspraxis 39 Jahre: davon 1 Jahr Landesbühne Hannover, 3 Jahre Städtische Bühnen Freiburg im Breisgau, 35 Jahre Badisches Staatstheater Karlsruhe.
 Betreute Produktionen bzw. Inszenierungen: 326, davon 4 verschiedene "Zauberflöte"- und 3 verschiedene "Tannhäuser"-Inszenierungen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.