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8. Dezember 2011

G. F. Händels Oper "Giulio Cesare" begeisterte in Braunschweig

Einen derartigen Beifallssturm nach Ende einer Oper habe ich im Braunschweiger Staatstheater noch nicht erlebt.  Das Publikum "tobte" begeistert, applaudierte stehend und wurde sogar mit einem Dacapo belohnt. Dabei handelte es sich um eine Barock-Oper, von der man diese Reaktion nicht erwartet hätte: Händels Oper "Giulio Cesare", die konzertant im Rahmen des Festivals Soli Deo Gloria aufgeführt wurde.

Lag es daran, dass die Braunschweiger Opernfreunde mit Barock-Opern in der Vergangenheit nicht gerade verwöhnt wurden, lag es an der besonders gelungenen und mit Spitzenkräften besetzten Aufführung oder daran, dass auch auswärtige Opernfans den Weg nach Braunschweig gefunden hatten? Sicherlich spielte alles eine Rolle.

Wir erinnern uns, dass in Braunschweig schon am 15. Mai 2009 die in Vergessenheit geratene Händel-Oper "Arianna in Creta" von einem hochkarätigen Solistenensemble (u.a. Kristina Hammerström, Miah Person, Sonia Prina)  ebenfalls konzertant dargeboten wurde und auch damals beim Publikum begeisterte Aufnahme fand. Für den Rezensenten war das "Händel vom Feinsten" (Mitteloge).

Beide Händel-Opern fanden als Gastspiele im Rahmen des Festivals Soli Deo Gloria statt, das jährlich unter der Verantwortung von Günter Graf von der Schulenburg im Braunschweiger Raum stattfindet (siehe auch Opernnetz).

Die Oper "Giulio Cesare" wurde am 27. November 2011 vom Ensemble Il Complesso Barocco unter Leitung von Alan Curtis aufgeführt. Im Repertoire dieser Barockspezialisten befinden sich derzeit die Händel-Opern Ariodante, Deidamia, Giulio Cesare; ihre Tournee führt sie durch ganz Europa (hier alle Termine und Orte). In Deutschland wird man diese Gruppe also nur in Braunschweig wiederhören können: "Deidamia" am 26. Jan. 2012 und "Ariodante" am 11. März 2012 u.a. mit Joyce DiDonato, die wir gerade in Mailand in der "La Donna del lago" bewundern durften.
Marie Nicole Lemieux als Cesare u. Karina Gauvin als Cleopatra Foto: Greiner-Napp (BZ) 

Im Vergleich zur "Arianna in Creta" war die konzertante Darbietung des “Giulio Cesare” wesentlich gelungener. Ein minimales, aber angenehmes Bühnenbild mit drei Säulen vor einem blauen Hintergrund, das davor agierende Orchester und die an den beiden Seiten platzierten und dort auf ihren Auftritt wartenden Solisten bestimmten den äußeren Rahmen. Das Verständnis für die Handlung wurde nicht nur durch eine gute Übertitelung, sondern vor allem durch die halbszenische Darbietung der Solisten sehr gefördert.

Besonders hervorzuheben ist Marie Nicole Lemieux (Alt) in der Rolle des Caesar. Ihren wunderbar dargebotenen Arien gibt sie starken gestischen Ausdruck. Manchmal zuckt der ganze Körper. Ein Rezensent schrieb treffend “Die Lemieux rockt den Caesar, dass es einen hinreißt”.

Aber auch die anderen Solisten waren herausragend, Karina Gauvin (Sopran) als Cleopatra mit beeindruckenden Koloraturarien, Filippo Mineccia (Countertenor) der Tolemeo, den fiesen Gegenspieler Caesars, auch gestisch sehr gut verkörperte, Romina Basso (Mezzosopran), die die Klage der Cornelia sehr überzeugend zum Ausdruck brachte und Emöke Barath (Sopran), die sich als Sesto, Sohn der Cornelia, für die Ermordung ihres Vaters rächen will. Dass gerade diese Rolle von einer Frau und dazu noch im Abendkleid gesungen wurde, war unerheblich, da der Gesang das Wesentliche überzeugend ausdrückte.

Das folgende Video von der Aufführung in Wien zeigt alle Solisten des Giulio Cesare, da die Besetzung in Wien und Braunschweig gleich war.


Das Orchester Il Complesso Barocco, das von seinem Leiter, dem berühmten Barockspezialisten Alan Curtis souverän geführt wurde, zeigte sein hohes Können. In diesem Video mit der Ouvertüre zu Ariodante werden Alan Curtis und das Orchester präsentiert.

Trotz aller Begeisterung über dieses Fest der schönen Stimmen wird man dem Rezensenten Andreas Berger wohl eher zustimmen müssen, wenn er schreibt: “Von einer Händel-Renaissance wird man aber erst sprechen können, wenn die Stadt- und Staatstheater selbst wieder Händel-Opern spielen, und zwar als inszeniertes Gesamtkunstwerk” (Kritik vom 29. November 2011 in der Braunschweiger Zeitung).
Opern- und Barockliebhaber sollten sich die noch kommenden Highlights in Braunschweig nicht entgehen lassen und sich akustisch und optisch schon auf die Opern Deidamia (26. 1. 2012) und Ariodante (11. 3. 2012) einstimmen.
Karten für die Opern sind telefonisch über Soli Deo Gloria (0531-16606) und online über CmTicket erhältlich. Ein vergünstigtes Abo für beide Opern ist nur telefonisch buchbar (01805 544888). Kontakt: karten@soli-deo-gloria.info 
Reiner Fricke

13. November 2011

Rossinis „La donna del lago” an der Mailänder Scala

„La donna on tour“ - und jedes Mal mit dabei sind DiDonato, Barcellona, Flórez, Orfila sowie der Dirigent Abbado. Lluís Pasquals Inszenierung ist für drei Städte konzipiert, nämlich letztes Jahr Paris, heuer Mailand und 2012 London.
Titelseite des Mailänder Programmheftes
„La donna del lago“ gilt als Rossinis romantischstes Werk. Als Erster wählte er einen Stoff nach Walter Scott, welcher der Romanliteratur durch eine gefühlvolle Schilderung von Ereignissen der mittelalterlichen Ritterzeit nachhaltig einen romantischen Touch gab. Scott regte so etliche Komponisten nach Rossini zur Vertonung derartiger Stoffe an.

Ort der Handlung ist ein idyllischer See in Schottland. Einige Clanführer wollen sich gegen den schottischen König erheben. Dieser bereist als Uberto inkognito das feindliche Gebiet. Am Ufer des Sees trifft er auf Elena und verliebt sich heftig in sie. Elena, die Frau vom See, ist die Tochter von Douglas, einem der Führer der Aufständischen. Sie soll vom Vater mit dem Heerführer Rodrigo als Preis für militärische Unterstützung vermählt werden. Elena jedoch fühlt sich ihrer Jugendliebe Malcolm verbunden. Daher hat Uberto bei ihr keine Chancen. Er hält sich zurück und überreicht seiner Liebe einen Ring, den sie im Falle der Not dem König von England übergeben soll. Hilfe sei ihr dann gewiss. Der Krieg bringt Rodrigo den Tod, Douglas und Malcolm die Gefangenschaft. Um Hilfe bittend überreicht Elena den Ring Uberto, der sich danach als König von Schottland zu erkennen gibt. Er lässt Douglas und Malcolm frei. Der Vermählung von Elena mit Malcolm steht nichts mehr im Wege.

So weit vordergründig die Geschichte, wäre da nicht der Skeptiker Rossini, der eine abweichende Deutung der Handlung nahelegt. Aufgezeigt wird dies durch die Szenengliederungen und die Musik im Duett Elenas mit Malcolm, in den Treffen mit Uberto und im Finale 2. Danach ist Elena längst nicht so unbeeindruckt von der Liebe des schottischen Königs geblieben, wie sie vorgibt. Vielmehr verhindern es die dramatischen äußeren Ereignisse, dass sich eine aufkeimende Zuneigung entwickeln kann.

Letztendlich unvermittelt vor die Notwendigkeit gestellt, Vater und Jugendfreund retten zu müssen, trifft Elena die „falsche“ Entscheidung, indem sie Ubertos Hand ausschlägt. Ihre Vermählung mit Malcolm dürfte ihr wohl nicht das erhoffte Glück bringen. Dies wird in Musik und Text deutlich: Auf Elenas „Glückseligkeit“ intoniert der Chor mehrfach „Widrigkeit“. In dieser Lesart wird auch klar, dass im Libretto die Überquerung des Sees mehr ein Sinnbild als ein Stimmungsbild sein soll. Das Rudern über den See symbolisiert die zeitliche Entwicklung eines jungen Mädchens zur Frau.
An solch eine abweichende Ausdeutung hat offensichtlich auch Lluís Pasqual mit seiner Inszenierung angeknüpft. Da finden sich keine romantischen Genrebilder mit schottischen Seen und Bergen, keine rudernde Frau oder malerische Kostümierungen von Druiden, Soldaten und Landvolk. Ein Halbrund korinthischer Säulen, mittig zu öffnen, bildet das räumliche Grundgerüst. Ein Öffnen des Halbrundes lässt mal in eine Gebirgslandschaft, mal in eine nicht definierte Ferne oder in palastartige Räumlichkeiten blicke. Der titelgebende See wird nur in der Eingangsszene durch eine Bildprojektion von bewegtem Wasser auf den Bühnenboden angedeutet. Die Hauptakteure und Soldaten tragen barockisierte Fantasiekleider ohne Unterscheidungsmerkmale, die Priester und die Palastentourage moderne Gesellschaftsgarderobe.
Aus dem Programmheft
Das Ganze wirkt anonym und neutral. Die symbolische Aussage der Szene ist wohl das zwanghafte Eingebundensein der Akteure in ihre jeweiligen Lebensumstände. Ist das Bühnenbild wenigstens noch hübsch anzusehen, so erschöpft sich die Personenregie in einer statischen Positionierung von Solisten und Chor. Eine psychologisch vertiefende Ausdeutung des Geschehens durch Bewegungsabläufe findet nicht statt.

Bei der großen Verschwörung im Finale des ersten Aktes senkt sich an Stelle des Kometen ein prächtiger Kristalllüster vom Bühnenhimmel herab. Macht und Reichtum werden als wahrer Grund der schottischen Kriegsabsichten demaskiert. Damit ist optisch auch das letzte Motiv für eine stimmungsvolle Ausdeutung des Stückes und der Ausgestaltung der Bühne eliminiert. Der Regisseur verdeutlicht so, dass eine romantisch gefühlte Lebenswelt nicht das zentrale Anliegen der Oper ist, sondern die Darstellung realer Probleme junger Menschen in den vorgegebenen Situationen.
Joyce DiDonato, Juan Diego Flỏrez (mit Interviews) und Daniella Barcellona
Offenbarte die Inszenierung keine Sternstunde, so kamen die Freunde des Gesanges jedoch voll und ganz auf ihre Kosten. Tenorrollen in Rossinis Opern zu besetzen, ist heikel. Seit fast 10 Jahren verkörpert
Juan Diego Flórez die Rolle des Uberto. In unnachahmlicher Inbrunst erklingt sein „O fiamma soave“. Seine Spitzentöne, die Oktavsprünge, die dynamischen Abstufungen und nicht zuletzt die Koloraturen und Läufe kommen so ziseliert perfekt, dass selbst Schwierigstes wie selbstverständlich und mühelos klingt. Bei ihm werden gesangliche Ausschmückungen zum Gestaltungsmerkmal.

Ein ebenso tolles Ereignis waren die Auftritte von Joyce DiDonato. Ihre technische Perfektion in Belcantorollen dieser Art ist unvergleichlich. Dazu hat ihr Gesang das richtige Maß an Gefühl und die erforderliche dezente erotische Ausstrahlung, um in den Duetten, besonders denen mit Uberto, die Spannungsbögen und Differenziertheiten der Situationen offenzulegen. Nachdenklich, ergreifend und tröstend verdeutlichte sie dies zu Eingang im langsamen Teil ihres Schlussrondos „Tanti affetti“. Ihre Gefühle pendeln zwischen dem Zwiespalt über die Freude der Errettung des Vaters und Malcolms sowie der Trauer, den König enttäuscht zu haben. Die wogenden Noten spickte die Amerikanerin mit Trillern, die diese Bezeichnung wirklich verdienten. Im Schlussteil des Rondos wurden die überlangen Läufe mit wunderbarer Tonschönheit und makellosem An- und Abschwellen der Tonlinie gesungen. Über die rhythmische Akzentuiertheit ihres Gesanges konnte man nur staunen.

Daniela Barcellona in der Loverrolle des Malcolms war die Dritte in der Runde der Perfektionisten. Ihre Triller, Läufe und Koloraturen liefen ab wie am Schnürchen. Dabei sind ihre präzise Akzentuierung und die bewunderungswürdige rhythmische Attacke hervorzuheben. Lediglich im verinnerlichten Beginn ihrer Arie „Ah! Si pera“ im zweiten Akt fehlte etwas die ruhige, aber auch druckvolle Stimmführung.

John Osborn war in seiner Rolle des Rodrigo wahrlich kein tenorales Leichtgewicht. In seiner großen Arie wartete er im ersten Akt mit einer gefühlvollen und lyrisch gehaltenen Eingangsphrase auf und attackierte in der Stretta mit gut gesetzten Spitzentönen. Der Unterschied zum Ausnahmetalent Flórez zeigte sich im Terzettteil des zweiten Aktes, wo Osborn als der vermeintliche Raufbold die sängerische Stringenz von Flórez nicht erreichte.

Simon Orfila, der Douglas und Einfädler all der Verwicklungen, bereitete mit seinem sonoren und volltönenden Bass großen Hörgenuss.

Leiter und Spiritus Rector der Aufführung war Roberto Abbado, ein erfahrener Rossinidirigent. Er leuchtete die Partitur betont lyrisch aus, vielleicht etwas zu einseitig. Davon profitierten zwar die verinnerlicht geprägten Passagen der Partitur, nicht jedoch die dramatischen Aktionen, die farblos blieben. Das Spannungsfeld der Oper liegt im Kontrast des inneren Erlebens der Protagonisten zu den äußeren Aktionen. Die Musik vermeidet hier in keiner Weise Konfrontationen. Davon war dann auch der gut singende Chor betroffen, der durch die Vorgaben von Dirigent und auch Regisseur seine dramatischen Momente des Finale 1 oder der Duellszene nicht recht ausspielen konnte.

Die musikalische Ausgestaltung und die Bühnenoptik hinterließen einen etwas zwiespältigen Eindruck. Nicht berauschend waren die Inszenierung und die in ihrer Komplexität nicht völlig ausgedeutete Partitur. Aber die Sängertrias ließ den Berichterstatter noch Tage nach der Aufführung von der Vielfalt des Ausdruckes und der klanglichen Schönheit des Gesanges träumen.

Dieter Kalinka (Besuchte Vorstellung am 2. November 2011)
Weitere Vorstellungen in der Mailänder Scala am 15. und 18.11.2011

11. Oktober 2011

MEYERBEER - RENAISSANCE !?

"Robert le diable" in Erfurt - "L’Africaine" in Würzburg
Meyerbeer Lives! prangt auf dem T-Shirt für Mitglieder des “Meyerbeer Fan Club“, dessen Website trotz vieler weiterhin verfügbarer Beiträge und Informationen leider nicht mehr aktiv ist. Und in der Tat: Wann hatte man schon Gelegenheit, innerhalb eines knappen halben Jahres drei seiner Grand Opéras in hiesigen Regionen zu erleben, noch dazu in bemerkenswerten Inszenierungen und musikalisch guten bis herausragenden Interpretationen?!
Warum Meyerbeer, der mit seinen spektakulären Musikdramen von Robert le diable bis L’Africaine Europas Musiktheater im zweiten Drittel des Ottocento dominierte, zwar nie vergessen, aber einfach nicht mehr gespielt worden ist, hat mehrere Gründe. Sie sind auch im Rahmen musikhistorischer Abhandlungen ausführlich dargelegt worden und müssen an dieser Stelle nicht wiederholt werden.
Nachdem La Monnaie in Brüssel, das frisch gekürte “Opernhaus des Jahres“, mit Les Huguenots, der “Operninszenierung des Jahres“(!), in diesem Sommer für Furore sorgte, eröffneten nun zwei Theater aus der sogenannten “Provinz“ ihre Spielzeit mit zweien seiner Meisterwerke: Erfurt mit Robert le diable und Würzburg mit L’Africaine. Es war ein glücklicher Zufall, dass wir beide an einem Wochenende sehen und hören konnten, und es ist sicher naheliegend, ja unvermeidlich, dass diese Konstellation (auch unbewusst ) zu Vergleichen herausforderte.


"Robert le diable" im Theater Erfurt
Bildschirmfoto vom Film, Quelle: Theater Erfurt
Der Videofilm ist auf Vimeo in bester Qualität zu sehen 

Jean-Louis Grinda, langjähriger Chef der Opéra Royal de Wallonie in Lüttich und seit 2007 Intendant der koproduzierenden Opéra de Monte Carlo, lässt Robert le diable in einem Hospital für Geisteskranke im 19. Jahrhundert spielen, das von Bertram geleitet wird. Dieses Konzept wurde zwar bis zum Schlussbild durchgehalten, hat sich mir aber nicht in allen Details und Konsequenzen erschlossen. Eine gute Lösung fand Grinda für das in den Handlungsverlauf stringent integrierte berühmte Nonnenballett, in dem drei Tänzerinnen aus ihren Katakombengräbern stiegen und Robert umgarnten. Ebenso sind das Bühnenbild von Hank Irwin Kittel (3. Akt !) und die Personenführung (auch der Chormitglieder!) Pluspunkte dieser Inszenierung, aber was dem Abend seine Geschlossenheit und bleibende Wirkung verlieh, war die musikalische Gestaltung, an der es kaum etwas auszusetzen gab. 
An erster Stelle möchte ich den amerikanischen Tenor Erik Fenton nennen, der trotz relativ kurzer Einarbeitungszeit die Titelfigur, einen typischen Meyerbeer-Helden, auch in den Extremhöhen bravourös sang und spielte. Ihm durchaus ebenbürtige Leistungen boten die beiden Sopranistinnen Claudia Sorokina als die umworbene Isabelle und Ilia Papandreou als Alice, die Verkörperung des Guten. Der armenische Bass Vazgen Ghazaryan brillierte stimmlich auch im tiefsten Register, blieb aber als  teuflischer Gegenpol mit väterlichen Gefühlen etwas blass und wirkte zu wenig dämonisch. Auch  Richard Carlucci glänzte mit schön timbriertem Tenor in der dankbaren Rolle des Raimbaut. 
Die Sänger und Sängerinnen des Opernchores , denen man ihre Freude über die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten anmerkte, überzeugten ebenso wie das Philharmonische Orchester Erfurt, mit dem Samuel Bächli einen Klangteppich ausbreitete, der Meyerbeers Herkunft aus dem Musikdrama des 18. Jahrhunderts verriet, gelegentlich aber etwas mehr Drive vertragen hätte. Dass es dieses frühe Meisterwerk (1831) nicht strichlos geben würde, hatten  Grinda (Interview im Opernglas) und der verantwortliche Dramaturg Berthold Warnecke schon im Vorhinein angekündigt, und ich denke, dass trotz der nicht gehörten Musik (so fehlte verständlicherweise die nachkomponierte “Mario-Arie“ des Titelhelden) die präsentierte Fassung schlüssig war und dem Handlungsablauf gerecht wurde. Und immerhin hörten wir wohl zum ersten Male das Finale II nach der neuen kritischen Ricordi-Ausgabe!


"L’Africaine" im Mainfranken-Theater Würzburg
Knapp vier Stunden dauerte tags darauf die vom Mainfranken-Theater in Würzburg erarbeitete Fassung der letzten und nicht ganz vollendeten Meyerbeer-Oper L’Africaine (1865), und es sei vorweg festgestellt: Es wurde hervorragend gesungen und musiziert! Enrico Calesso, neuer GMD in Würzburg, gestaltete fesselnd mit seinem Philharmonischen Orchester spannungsreiche Sequenzen, evozierte gefühlvoll Stimmungen und ließ die Stimmen wunderbar zur Entfaltung kommen (Arien der Sélika und der Inès). 
Quelle: Mainfranken Theater Würzburg 
Von dem nicht nur zahlenmäßig beeindruckenden Chor (Einstudierung Markus Popp) in den entsprechenden Szenen wirkungsvoll unterstützt, lieferten insbesondere Karen Leiber als betörende Titelheldin Sélika und als ihr bis in den Tod treu ergebener Sklave Nélusko Adam Kim grandiose Rollenporträts. Kaum weniger überzeugend Paul McNamara in der Rolle des Vasco de Gama, der in seinem Streben nach Ruhm und Unsterblichkeit alle privaten Bindungen hintanstellt (erneut ein typisch Meyerbeerscher “Held“! ) sowie Nathalie de Montmollin als bis zur Selbstaufgabe liebende Inès. Paolo Ruggiero in einer Doppelrolle als Don Diégo und als Oberpriester des Brahma sowie Johan F. Kirsten als unsympathischer Ratspräsident Don Pédro ergänzten ein wunderbar zusammengestelltes und lebendig agierendes Ensemble.
Regisseur Gregor Horres (in Zusammenarbeit mit Bühnenbildner Jan Bammes) wollte wohl einerseits eng am Libretto bleibend die drei Schauplätze der Oper - der portugiesische Hof, ein Schiff  kurz vor dem Kap der Guten Hoffnung und eine Insel im Indischen Ozean - auf die Bühne bringen, andererseits aber das auch dem Komponisten vertraute Thema “Kolonisation“ in ihrer modernen Version dem Publikum nahebringen. So besang Vasco in seinem Glanzstück zu Beginn des 4. Aktes die paradiesische Schönheit der neu entdeckten Gegend, die jedoch von einer Erdöl-Bohranlage beherrscht wird. 
Quelle: Mainfranken Theater Würzburg
In Erinnerung bleiben wird wohl eher die ungemein packende “Parlamentsdebatte“ mit Bischöfen und Großinquisitor im 1. Akt oder die auch von der Personenführung anrührende Finalszene unter den Zweigen des Manzanillobaumes.
Resümee: Es kann nicht hoch genug gelobt werden, dass zwei mittlere Opernhäuser wieder einmal Meyerbeer, diesen deutschen Komponisten, der nach Lern- und Wanderjahren in Italien in Frankreich seine musikalische Heimat fand, in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gehoben haben. Aufgrund der musikalischen Glanzpunkte sind beide Produktionen nicht nur Meyerbeer-Fans unbedingt zu empfehlen, gerade auch wegen der unterschiedlichen Regieansätze. 
Es bleibt zu hoffen, dass wir nicht bis zum Meyerbeer-Gedenkjahr 2014 warten müssen, um Robert le diable, Les Huguenots, Le prophète, Dinorah oder L’Africaine wieder einmal erleben zu können.
(Ein Videofilm zu Oper ist zurzeit auf der Startseite des Mainfrankentheaters abrufbar oder direkt auf Youtube im Kanal MFT Wuerzburg)

Walter Wiertz (Besuchte Aufführungen am 01.10 und 02.10.2011)

Im Theater Erfurt gibt es nur noch drei Aufführungstermine: 14.10.11/ 08.01.12/ 22.01.12.
Würzburg hingegen bietet “seinen“ Meyerbeer noch ein Dutzend Mal in diesem Jahr: 16./19./22./28.10. u. 04./06./22./26.11. sowie 04./07./11./16./22.12. 

17. April 2011

Donizettis "Lucrezia Borgia" in Halle und "Lucia di Lammermoor" in Magdeburg

Donizetti scheint momentan Hochkonjunktur zu haben: Denn neben der von viel Medienhype begleiteten Wiener Anna Bolena haben justament die Opernhäuser in Halle und Magdeburg zwei Donizetti–Opern auf die Bühne gebracht, und dies verdientermaßen mit großem Erfolg. Da die Terminplanung beider Theater es möglich machte, verbrachten wir zwei wunderschöne vorsommerliche Tage  in Sachsen-Anhalt und kamen an einem Wochenende in den Genuss zweier opere serie des Meisters aus Bergamo. 
2. April „Lucrezia Borgia“ in Halle:

Foto: Oper Halle
Im praktisch ausverkauften Opernhaus feierte das Publikum kurz vor 22 Uhr fast 15 Minuten lang eine mitreißende Aufführung, die vor allem musikalisch begeisterte. Das lag besonders an Romelia Lichtenstein, der Primadonna des Hauses, die darstellerisch überzeugend diese historische Titelfigur in ihrer schillernden Mischung aus “moralischer Abart, physischer Schönheit und königlicher Ausstrahlung“ (V. Hugo) verkörperte. In Kantilenen wie in dramatischen Koloraturen und Spitzentönen sang sie das Glück und die Verzweiflung ihrer neu entdeckten Rolle als Mutter, “das reinste Gefühl, das eine Frau empfinden kann“ (V.Hugo), aus sich heraus. Der in Wien lebende bisher wenig bekannte junge mexikanische Tenor Xavier Cortes  bot nach verhaltenem Beginn eine großartige Leistung als ihr Sohn Gennaro und krönte auch die Finali mit glanzvollen Spitzentönen. Mit seinem leicht verhangenen Timbre ist er nicht der typische Belcanto-Tenor und ließ bei einem begeisterten Opernfreund aus Bamberg Erinnerungen an Salvatore Fisichella wachwerden. Schade, dass er seine große (für Nicola Ivanoff nachkomponierte) Arie “T’amo qual s’ama un angelo“ zu Beginn des 2. Aktes, der in Halle als 3. Akt firmierte, nicht singen durfte! Mit machtvoller Baritonstimme dominierte in “seinen“ Szenen der Don Alfonso von Ki-Hyun Park, der bereits seit 2002 dort engagiert ist. Absolut überzeugend waren auch die Sänger der Clique um Gennaro, und in der Rolle des Orsini fügte mit schöntimbriertem Mezzo Ulrike Schneider eine weitere Rolle ihrem weitgefächerten Repertoire hinzu. Aus unerfindlichen Gründen verzichtete sie jedoch auf die 2. Strophe ihrer “ballata“.

Die musikalische Leitung dieser Aufführung hat eine eigene Geschichte: Der vorgesehene und auch auf Werbekarten und Flyern genannte Dirigent musste ein paar Wochen vor der Premiere aus gesundheitlichen Gründen aussteigen. Was der daraufhin eingesprungene Andreas Henning, der diese Oper sich neu erarbeiten musste, in der zur Verfügung stehenden Zeit mit Chor und Orchester  geleistet hat, war aller Ehren wert!! Chapeau!

Die Bühne, auch aus akustischen Gründen als Schräge angelegt, war minimal bestückt: Wippende kleine Gondeln zu Beginn (Venedig!), eine einschwebende Schaukel für Lucrezias Duett mit Gennaro im 1. Akt, ein deplaziert wirkender Barwagen (2. Bild im 1. Akt) sowie Lichtinstallationen, die wohl den fatalen Einfluss der Gestirne symbolisieren sollten, 3 Stühle und ein Stierkopf als Aggressionsobjekt für Alfonso im herzoglichen Palast. Verantwortlich für Ausstattung, die geschmackvollen Kostüme und die Inszenierung war Saskia Zschoch, die ihre beiden Protagonisten bei zentralen musikalischen Szenen immer wieder in einen eigens angelegten Kreis vorne an der Rampe platzierte. Vielleicht aus der Erkenntnis heraus, dass Donizettis Musik bei allen Regiekünsten im Zentrum stehen sollte?? So ergab sich auch ein durchaus anrührender Moment, als der vergiftete Gennaro in diesem Kreis in derselben leicht gekrümmten Lage starb, in der er sich in der 1. Szene zum Schlafen dort hingelegt hatte.

Die auch von weither angereisten Donizetti-Freunde zeigten sich bei der anschließenden stimmungsvollen Premierenfeier im Operncafé begeistert – und Operndirektor Axel Köhler war stolz auf diese großartige Leistung seines Ensembles und fügte bescheiden hinzu, dass das Engagement des einzigen Gastsängers (Xavier Cortes) “eine Ehre für dieses Haus sei“.

Ein Video der Bühnen Halle zur Lucrezia Borgia ist auf YouTube zu sehen


3. April „Lucia di Lammermoor“ in Magdeburg:

In dem trotz der ungewöhnlichen Anfangszeit (16 Uhr) sehr gut gefüllten Opernhaus wurden wir zusammen mit einem zunehmend mitgehenden Publikum Zeugen einer überdurchschnittlichen Lucia, die von einer ganz erstaunlichen Sopranistin in der Titelrolle und der schlüssigen und packenden Inszenierung durch Karen Stone, die Generalintendantin des Hauses, geprägt wurde. In wechselnden Bühnenbildern wurde die Ausweglosigkeit der in die viktorianische Zeit verlegten Familienfehde durch strenge Tristesse in Kostümen und ein heruntergekommenes Ambiente unterstrichen. Neben sparsam aber sinnvoll eingesetzten Videoprojektionen (z. B. beim Treueschwur des Liebespaars in der 2. Szene) blieben weitere Details dieser gelungenen Regiearbeit haften: Die “tombe degli avi mei“, die Edgardo in seiner großen Finalszene beschwört, waren hier die von Chormitgliedern vor ihre Gesichter gehaltenen verblichenen Fotos aus einer Ahnengalerie. Während Lucia in ihrem Wahn irrlichternd über die Bühne hastete, bot sich Chor und Publikum durch ein riesiges Schlüsselloch in voyeuristischer Manier der Blick auf den nackten, blutbefleckten Körper des gerade getöteten Arturo. Lucia selbst war mehr ein Teenager als eine junge Frau (In Walter Scotts literarischer Vorlage ist sie 17 Jahre alt !), deren Bett mit zahlreichen weißen Häschen übersät war. Wie die junge türkische Sängerin Hale Soner in Mimik und Gestik dieses junge Mädchen in seiner Eingeschlossenheit spielte und dabei sensationell sang (mit individuellen Verzierungen in der Wahnsinnsszene und mit allen denkbaren “acuti“), war allein die Reise nach Magdeburg wert. 

Quelle: Fotoshow des Theaters Magdeburg
Ihr Landsmann Kartal Karagedik sang einen ausdrucks- und willensstarken Enrico, der auch in seinen gefühlvolleren Momenten überzeugte. Der für diese Rolle vielleicht etwas zu junge Niederländer Martin-Jan Nijhof sang mit wunderbar strömendem Bass den Raimondo, nicht zuletzt auch in seiner ansonsten oft gestrichenen Szene nach dem Duett Lucia – Enrico. (Warum wurde aber das musikalisch so brillante Duett Edgardo – Enrico im Turm zu Wolferag weggelassen, zumal es das Verständnis der Schlussszene erleichtert??). Etwas schwächer fand ich in diesem komplett hauseigenen Ensemble den brasilianischen Tenor Iago Ramos als Edgardo. Er sang durchgehend mezzoforte ohne größere Abstufungen, hatte aber für seine hochliegende lange Finalszene immerhin genügend Kraftreserven. Der Chor des Theaters Magdeburg war ausdrucksstark und spielfreudig, und die Magdeburgische Philharmonie spielte unter ihrem neuen GMD Kimbo Ishii-Eto dynamisch und makellos, in emotionalen Passagen vielleicht etwas zu forsch.

Nach Dessau (La muette de Portici), Chemnitz (Il templario, Heimkehr des Verbannten, Wildschütz) und Weimar (Guillaume Tell, Don Pasquale, Wildschütz) haben sich jetzt auch Halle und Magdeburg auf unserer Opern- Landkarte im Osten unserer Republik fest etabliert!

Weitere Vorstellungen in Magdeburg am 7.5/29.5.2011 und in Halle am 22.4.2011

Walter Wiertz

23. März 2011

Rasiert wird überall – doch den „wahren“ Barbier gab`s in Lüttich

Ein halbfiktives Telefongespräch zweier Rossinifreunde, die getrennt voneinander am 15. und 19. März 2011 in Lüttich die Aufführungen der Opéra Royal de Wallonie von Rossinis 
„Barbiere di Siviglia“ besucht haben 

Walter:
Hallo, Dieter! Warst du in Lüttich? Hast du problemlos den Weg zum Opernzelt „Palais Opéra“ gefunden?

Dieter:
Na klar. Für Samstag, den 19., habe ich mit Mühe noch eine gute Einzelkarte bekommen. Nachmittags war ich vorher noch in der City am Opernhaus. Das ist ja eine gewaltige Baustelle. Die stocken sogar das Dach mit Probenräumen noch mächtig auf.

Walter:
Ja, der Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera ist augenblicklich ein vielbeschäftigter Mann. Er ist nicht nur seit knapp 2 Jahren mit den Restaurationsarbeiten an „seiner“ Opéra Royal de Wallonie (ORW) und den üblichen Pflichten als Chef dieses bedeutenden Theaters beschäftigt, sondern er inszeniert gern, oft und erfolgreich in seinem Haus.

Dieter:
Nun ja, Donizettis Rita habe ich im vergangenen Jahr von ihm gesehen.

Walter:
Besonders der komischen Opern aus der Zeit zwischen 1750 und 1850 nimmt er sich gerne an. Seine Regiearbeiten zu Cimarosas Matrimonio segreto, Donizettis Einaktern Rita und Il campanello di notte  und nicht zuletzt Galuppis L´inimico delle donne beweisen es.

Dieter:
Den Barbiere hat es doch in Lüttich schon mal vor nicht allzu langer Zeit gegeben?

Walter:
Aber ja, das war 2008. Die damals von ihm präsentierte Inszenierung hat Mazzonis, der ehemalige Intendant des Teatro Comunale di Bologna, nunmehr in leicht aufgefrischter Form auf die Bühne des Palais Opéra gebracht.



Dieter:
Eine Freude ist`s sicher, erneut die dezent farbenprächtigen Bühnenbilder von Jean-Guy Lecat zu sehen.

Walter:
Wie lebendig, andererseits aber auch praktikabel die Schauplätze der einzelnen Szenen gestaltet waren! Dazu als Hintergrund noch die Silhouette eines maurischen Turmes, der an Sevilla als Ort der Handlung erinnerte.

Dieter:
Endlich mal eine halbwegs klassische Bühne, die nicht mit einer weit hergeholten Umdeutung die Interpretation des Inhaltes vernebelte. Und wie die ungewöhnlich beredte Sprache der Personenführung den Zuschauern klarmachte, dass es selbst beim vielgespielten Barbiere noch viel Neues zu entdecken gibt.

Walter:
Hier fällt mir besonders ein Detail ein. Ich meine die Statisterie, die hier ihre  gewichtige Rolle spielt. Besonders der tumbe Hausdiener Ambrogio von Gilles Mahia bot - wie auch schon in Donizettis Rita - in Mimik und Gefühlsäußerungen ein Kabinettstückchen lautloser Schauspielkunst.

Dieter:
...nicht zuletzt im mitreißend choreografierten 1. Finale!

Walter:
Aber auch ein paar Gags sind mir aufgefallen. Warum auch nicht in einem dramma comico! Am Ende des 2. Aktes zog vom Zuschauerraum aus der von Dr. Bartolo zu Hilfe geholte Soldatentrupp auf die Bühne, mit der 1790 entstandenen patriotischen Lütticher Stadthymne „Valeureux Liégeois“ auf den Lippen. Bertas gezücktes Taschentuch entrollte sich kurz darauf zur belgischen Nationalflagge. Ein Fingerzeig wohl auf die derzeitigen politischen Befindlichkeiten?!

Dieter:
...und beim Finale 2!  Figaro saß als Rossini auf dem Sockel seines Denkmals und sang voller Wohlgefallen auf seine Mitstreiter herab. Bei der fast rossinigleichen Statur Alaimos konnte sich die Regie diesen Gag kaum entgehenlassen.



Walter:
Aber nichts geht über die Musik. Bereitete der visuelle Teil schon ungetrübte Freude, so begeisterte mich geradezu die musikalische Seite. Bessere Sängerdarsteller als die „Baritöner“ Nicola Alaimo in der Figarorolle und Bruno di Simone als Dottore Bartolo kann ich mir derzeit kaum vorstellen.

Dieter:
Beim Bruno di Simone hatte ich manchmal den Eindruck, der sei schon als Dottore geboren worden.



Walter:
Auch der Bassist Carlo Lepore als Basilio, erstmals in Lüttich zu hören, bot als gewiefter und bestechlicher Opportunist eine vortreffliche Leistung. Markig und grandios seine kellertiefen Töne. Die figürliche Mischung aus einem Mann der Kirche und einem Mafioso fand ich geradezu bezeichnend.

Dieter:
Vergiss aber nicht Rosina und den Grafen. Die waren nämlich auch klasse und überraschten musikalisch mit Neuigkeiten.



Walter:
Du meinst, weil sie die Sopranfassung gespielt haben? Das war für Paolo Arrivabeni, den musikalischen Chef der ORW, auch eine Premiere. In einem Interview habe ich gehört, dass er diese von Rossini tolerierte Fassung von 1819 zum ersten Mal dirigiert hat, und das, wie ich finde, großartig.

Dieter:
Auf dem Cembalo lag die Partitur. Sie haben offensichtlich die Revision von Alberto Zedda aus 1969 benutzt. Der hat als erster Zweifel an der Genauigkeit der üblichen Theaterpartituren gehabt und ins Autograf geschaut. Da gab es offensichtlich eine Menge zu lesen, das nichts mehr oder nur wenig mit Rossinis Original zu tun hatte. Es fanden sich zahllose Kürzungen an der Handlung und Veränderungen der musikalischen Struktur.

Walter:
Schwerwiegend ist zweifellos die auch heute noch übliche Streichung des Schlussrondos, dies besonders hinsichtlich der Personenkonstellation. Der normale Zuschauer denkt, Figaro sei der Held. In Wirklichkeit ist er der Versager. Der Conte Almaviva behält das Heft in der Hand und bestimmt den glücklichen Ausgang der Handlung.

Dieter:
Darum ist das Rondo auch so wichtig, schwierige Gesangspartie hin oder her.

Walter:
Der russische Tenor Sergei Romanovsky, ein junger Sänger, brachte für diese Rolle vom Timbre her eine gute Voraussetzung mit.

Dieter:
Ja, wie bei einem guten Baritenore waren Mittellage und Tiefe kraftvoll und unforciert vorhanden. Manuel García, der erste Almaviva, war auch ein Baritenore.

Walter:
Aber mit den Koloraturen und anderen Finessen hatte er doch seine gewisse Mühe.

Dieter:
Laut der Aussage eines Freundes, der bei der Internetübertragung in der Partitur mitgelesen hat, ersparte er sich viele Vorschläge und Triller.

Walter:
Seine Schlussarie hat er aber doch recht ordentlich gemeistert und den abschließenden Spitzenton mehr als anständig hingelegt?

Dieter:
Was sagst du zu Sumi Jo als Sopran-Rosina? Mir hat sie dieses Mal als Rosina weit besser gefallen als vor zwei Jahren im Fra Diavolo.


Il Barbiere di Siviglia with Sumi Jo - Rehearsal... von ORW
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Walter:
Normalerweise ist mir ein Mezzo als Rosina auch lieber. Allein wie Sumi Jo gespielt hat, war das eine Augenweide und ließ mich meine Gedanken an einen Mezzo glatt vergessen. In Spiel und Gesang war die Koreanerin eine zauberhafte Rosina. Dass sie vor dem Temporale noch Rosinas Zusatzarie „L´innocenza di Lindoro“ gesungen hat, setzte für mich dem Ganzen die Krone auf.

Dieter:
Wenn ich nicht irre, hat Rossini dieses Stück in Venedig anlässlich einer Aufführung für die Sopranistin Fodor-Mainvielle komponiert?

Walter:
Ja, und es passt so gut als Moment der Reflektion und des Innehaltens zur Handlung. Das Bühnenlicht gedämpft, ganz in sich gekehrt interpretiert und  glanzvoll gesungen zeigte Sumi Jo ein nachdenkliches und verletzliches junges Mädchen. Wie dieses nachher gereift und erfahrener als Gräfin sein wird, ist in Mozarts Nozze di figaro zu erleben.

Dieter.   Schwächer fand ich sie in ihrer Auftrittsarie „Una voce poco fa“. Hier klang ihre Stimme etwas klein und eng. Obwohl  Rosina  kein verhuschtes Mäuschen ist, war mir die Darstellung doch zu überdreht selbstbewusst.

Walter:
Nun, jeder hat eine etwas andere Sichtweise. Wir müssen ja auch nicht in allem einer Meinung sein.



Dieter:
In der Beurteilung der Berta stimmen wir doch hoffentlich überein? Alexise Yerna war eine recht ansehnliche Person. Ihre kurze Arie, verschmitzt dargestellt, sang sie überzeugend perfekt, gar nicht mit Nebenrollenhautgout. Recht so, dass Dr. Bartolo am Ende mit ihr sein Zweitglück suchte.

Walter:
Das sehe ich auch so.

Dieter:
Über das Orchester haben wir noch nicht gesprochen.

Walter:
Lass mich vorher nochmals kurz an Romanovsky und die Inszenierung erinnern. Toll fand ich zum Schluss das Pfauenrad auf dem Rücken des Conte Almaviva. Besser konnte nicht symbolisiert werden, dass nicht Verkleidungsspielchen, sondern die ausgeübte Macht hier der Weg zur Problemlösung sind.

Aber nun zum Orchester. Das hat es wahrlich verdient, lobend hervorgehoben zu werden. Nur als „glänzend“ kann man seine Leistung unter dem Dirigat von Arrivabeni bezeichnen. Spritziges Tempo, vibrierendes und akkurates Zusammenspiel der Instrumentengruppen, exzellente Bläser, fein differenzierte rhythmische Abstufungen der Melodielinien charakterisierten den Vortrag.

Dieter:
Stimmt! Eine Stelle ist mir als Beispiel für den homogenen Zusammenklang von Orchester und Sängern aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Am Ende des Finale 1, beim Einsatz der “Tutti“ verschmolzen Gesang und Instrumente in Lautstärke, Farbe und Rhythmus klanglich so perfekt, dass mir dies quasi als Symbol eines realistischen Aufruhrs erschien.

Walter:
Ich kann nur sagen: „Auch wer Rossinis Barbiere schon zigmal gesehen hat, der muss nach diesen drei Sternstunden eines hinreißenden Opernabends berauscht nach Hause gefahren sein.

Dieter:
Tja, wo du Recht hast, hast du Recht.

Das Gespräch führten Walter Wiertz, Aachen und Dieter Kalinka, Bochum          
            
Letzte Vorstellung als Gastspiel am 25. März 2011 um 20 Uhr in Heerlen, Holland