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11. Dezember 2010

'Moïse et Pharaon' in Rom

Riccardo Muti hat nicht den Ruf eines ausgesprochenen Rossini-Dirigenten und er hat nie in Pesaro dirigiert. Sein tatsächlich nur kleines Rossini-Repertoire ist aber bemerkenswert. Bereits 1972 hat er als Erster in neuer Zeit eine vollständige Aufführung von Guglielmo Tell am Maggio Musicale Fiorentino geleitet. Mit dieser Oper eröffnete er 1988 auch die Saison der Mailänder Scala. Dem italienischen, romantischen Rossini widmete er sich 1992 mit La donna del lago, ebenfalls in Mailand. Danach kehrte er zum französischen Rossini zurück, dieses Mal sogar in der Originalsprache: Mit Moïse et Pharaon eröffnete er die ins Teatro degli Arcimboldi verlegte Saison 2003 der Scala (die entsprechende DVD ist kürzlich erschienen und wurde soeben von Julia Poser im «Orpheus» 11+12/2010 besprochen). Mit dieser Oper machte er den Rossini der Grand Opéra im Sommer 2009 auch dem Salzburger Publikum schmackhaft. Und nun eröffnete er damit die neue Stagione der Römer Oper.
Dem Maestro gelingt es, auf übertriebene und effektheischende Akzente verzichtend, erhaben und würdevoll durch die Partitur zu führen, ohne je Langeweile aufkommen zu lassen. Die 4 ¼ Stunden lange Aufführung verging wie im Nu (inkl. Pausen nach dem 1. und 2. Akt). Er spielte eine absolut ungekürzte Fassung und erbrachte den Beweis, dass dies auch heute noch bei einer Grand Opéra einschließlich Ballettmusik sehr wohl möglich ist. Ich konnte bei der Live-Übertragung im italienischen Rundfunk die ganze Oper in der gedruckten Partitur von Troupenas (1827) mitverfolgen und feststellen, dass Muti taktgenau dieser Ausgabe folgte. Dementsprechend endete die Oper auch mit der instrumentalen Meeresstille und nicht mit dem choralen Cantique, das nur im Klavierauszug von Troupenas erschienen ist und dessen Partitur aufgrund der an der Pariser Opéra erhaltenen Quellen rekonstruiert werden konnte (aufgeführt in Pesaro, Mailand und Nürnberg. Die einzige Abweichung, die ich feststellen konnte: Im berühmten Gebet ließ Muti die dritte Solo-Strophe von Anaï singen, und nicht von Marie, wie dies Rossini vorgesehen hat (vielleicht, weil Anaï ihre Rolle mit der großen Arie vollendet hat und in die Reihen des Volkes zurückkehrt, während Marie zusammen mit Éliézer und Moïse zu den Führungspersönlichkeiten der Juden gehört).

Bei der Besetzung der Titelrollen setzte Muti wie in Salzburg wiederum auf Abdrazakov und Alaimo. Ildar Abdrazakov war, trotz der ihm fehlenden profunden Basstiefe, ein klangschöner, jugendlicher und charismatischer Moïse. Nicola Alaimo verlieh dem Pharaon die nötige Statur, während die in dieser Rolle verbliebenen Koloraturen aus der italienischen Fassung bei ihm etwas oberflächlich ausfielen; wie sein berühmter Onkel Simone ist ihm eine eher rudimentäre Stimmführung zu eigen, ohne dessen Bühnenpräsenz zu erreichen. Beide Sänger bedauerten in Interviews, dass sie in diesen Rollen keine Arie haben. Das hat Rossini in dieser Choroper freilich mit Kalkül so angelegt. Grundsolide Basstöne bot Riccardo Zanellato, zunächst als „Voix mistérieuse“, dann im 3. Akt als Oberpriester Osiride mit einer passenden plakativen Rhetorik.
Die Gruppe der Tenöre wurde von Eric Cutler angeführt, der die schwierige und etwas undankbare Rolle des Pharaonen-Sohnes Aménophis innehatte: auch er hat keine Arie, aber er muss zwei schwierige Duette (mit Anaï und mit Pharaon) meistern. Das tat er eher durchzogen, die Stimme schwankt zwischen sehr weichen lyrischen Akzenten und unschönen und forcierten Tönen. Als Éliziér musste sich Juan Francisco Gatell zunächst in dem extrem schwierigen Récit in der Introduktion exponieren („J’ai vu la superbe Memphis“), das etwas gepresst und auch vom Kampf mit den französischen Vokalen entstellt einen gemischten Eindruck hinterließ (die französische Aussprache war freilich bei allen Sängern die Krux, der eigentlich nur Muttersprachler entgehen). Mit einer interessanten, aber noch an Sicherheit zu gewinnenden Stimme präsentierte sich Saverio Fiore mit seinem Katastrophenbericht als Aufide im dritten Akt.
Anstelle der angekündigten Barbara Di Castri gab Nino Surguladze der Marie ihre Stimme. Anna Kasyan, die bei der Premierenübertragung durch eine gewisse Schärfe, aber durch eine große Partiturtreue auffiel, sang die Rolle der Anaï abwechselnd mit Erika Grimaldi, die ich bei der Sonntagsaufführung hörte. Obwohl die junge Sopranistin korrekt sang, fehlt ihr (noch?) die Sicherheit und die Autorität für diese große, dramatische Rolle, die ihren Höhepunkt in der für Paris neu geschriebenen Arie im 4. Akt findet. Sonia Ganassi hat ihr denn auch vollkommen die Show gestohlen, indem sie als Sinaïde zum Schluss des zweiten Aktes das Publikum zu beinahe hysterischen Begeisterungsstürmen hinriss. Das Publikum, und speziell das italienische, liebt es, seine Stars zu haben, und nichts ist dazu geeigneter, als ein berühmter (italienischer) Name und eine große Bravourarie, auch wenn nüchtern betrachtet diese Rolle nicht im Zentrum des inhaltlichen und musikalischen Interesses steht und die Mezzostimme in dieser Sopranrolle etwas verhalten klingt. Ungewöhnlich war, dass beim Schlussapplaus nicht Anaï-Grimaldi, die vom Rollenprofil her die Primadonna der Oper ist, sondern Frau Ganassi den Maestro auf die Bühne holte – eine m.E. eher problematische Entscheidung, die auf Wertung (und Abwertung) und nicht auf eine klare Rollenhierarchie abstellt.

Auf die Inszenierung von Pier’ Alli war ich auch deshalb gespannt, weil diesem Regisseur nächsten Sommer die Adelaide di Borgogna in Pesaro anvertraut wird. Denkt man an seine dortige Matilde di Shabran zurück, erkennt man den ihm eigenen Stil, mit dem er sich gerne gewisser Elemente bedient, wie z.B. hoher Wände, Grautönen, stilisierter Gegenstände. Neu hinzu kamen die – wie die Bühnenbilder und Kostüme von ihm stammenden – Videoprojektionen, eine in letzter Zeit im Theater aufkommende technische Innovation, deren künstlerische Nutzbarmachung als legitime Modernität die Oper auch in der heutigen Zeit als Gesamtkunstwerk positioniert (viele Gegner meiner Kritik am modernen Regietheater glauben, mein Welt- und Theaterbild auf Prospekte und Kerzenlicht reduzieren zu können). Hingegen entging Pier’ Alli der Plattitüde einer Handlungsaktualisierung und evozierte vielmehr mit Symbolen aus der Pharaonenzeit (Tiergestalten, Pyramiden) und einer fernen Zukunft (futuristische Skyline, Laserwaffen à la Star Trek) eine kosmische Allgemeingültigkeit des Stoffes – der Clash der Völker und Zivilisationen. Nicht alle Projektionen waren von gleicher Qualität und Wirkung. In der Finsternisszene zu Beginn des 2. Aktes erschienen Pharaonen- und Tierköpfe, die wie 3D-Objekte bedrohende Traumbilder schafften, während der göttliche Machtbeweis im 3. Akt (im Libretto der Einsturz der Isis-Statue) mit dem Herumfliegen von Steinbrocken nicht gelungen war. Um den Effekt des Tonartenwechsels in dem berühmten Gebet zu verstärken, ließ sich der Regisseur dazu hinreißen, gleißende Scheinwerferlichter in das Publikum zu blenden, was ich als krassen Angriff auf die Integrität der Zuschauer empfinde (ohne sie zu erhöhen, tat es wenigstens der musikalischen Wirkung keinen Abbruch: Muti folgte noch so gerne den Bis-Rufen und ließ das Stück, das in der italienischen Tradition fast so lebendig ist wie „Va pensiero“, wiederholen). Exzellent war der kardinale Moment der Oper gelöst, der Durchzug durch das Rote Meer, wenn sich die Wände wie zwei Tore nach hinten öffnen und die Wassermassen über die ganze Bühnenbreite projiziert werden und nur den Durchgang freilassen, den die Juden für ihre Flucht nutzen. Nach dem ebenso effektvollen Zurückschwappen der Wasser wirkte das Schlussbild bei der instrumentalen Meeresstille, eine reine Sandwüste, etwas enttäuschend als Bild einer hoffnungsvollen Zukunft, das die Musik ausdrückt.



Manchmal zog es der Regisseur vor, in kompletter Statik zu verharren. Das dritte Finale, die modernste und großartigste Musik, die Rossini für diese Oper schrieb, fand mit seinen fortschreitenden Abwärtsbewegungen in den Streichern vor einem vollkommen regungslosen Bild statt. Vielleicht war es aber gerade dieser Kontrast, der die Stücke wirken ließ, während eine Umsetzung der Musik in Bewegung rasch Gefahr läuft, konfus oder aufgesetzt zu wirken. Einer konventionellen Realisierung entzog sich auch das Ballett in der Choreographie von Shen Wei, das von der Handlung ziemlich losgelöst war und einen asymmetrischen, aber sauber koordinierten Tanz des Ensembles im 1. und 3. Stück und einen abstrakten Solotanz einer weitgehend nackten, gleichzeitig zerbrechlich und stark wirkenden Fang-Yi Sheu in der 2. Ballettmusik bot.
         Ebenso wie Chor und Orchester gehörte auch das Ballettensemble zum Teatro dell’Opera, womit die Römer Oper mit Bravour alle ihre Ressourcen für diese auch heute noch wirkungsvoll umsetzbare Grand Opéra nutzbar machte.

Reto Müller
Besuchte Aufführung: 5. Dezember (Vorpremiere: 30. November; Premiere: 2. Dezember: weitere Aufführungen am 9, 11 und 12. Dezember).


13. Mai 2010

Noch einmal: Moïse in Nürnberg

Diskussionen über Inszenierungskonzepte gleichen meist deswegen Dialogen zwischen Tauben, weil die Anhänger vermeintlich ‚werktreuer’ Regie Argumenten weitgehend unzugänglich sind und Forschungsergebnisse in den Bereichen Theatertheorie und –geschichte konsequent ignorieren. Anläßlich von Reto Müllers „Rückblick auf den Nürnberger Moïse“ sei dennoch ein weiteres Mal der Versuch unternommen, einiges klarzustellen.

Die Bedeutung eines Kunstwerks läßt sich nicht auf die Autorintention reduzieren (die im übrigen allenfalls in seltenen Ausnahmefällen eindeutig und vollständig zu erfassen sein wird). Vielmehr ist die ästhetische Qualität eines Werkes um so größer, je komplexer der Sinngehalt ist, d.h.: je zahlreicher und je unterschiedlicher die Wege sind, die zu einer in sich stimmigen Deutung führen können.

Natürlich hat der Moses des Alten Testaments weder Rossini noch seine Librettisten sonderlich interessiert. Unter den zahllosen Episoden des Alten Testaments wählten sie gerade diesen Stoff, weil er einem vor allem an seinen eigenen Problemen interessierten Publikum Identifikationsmöglichkeiten bot: Emilio Sala❶ hat kürzlich darauf hingewiesen, daß die biblische Moses-Figur im Sinne der Romantik umgewertet worden war. Da Europa 1818 noch unter dem Eindruck (oder dem Schock) von Napoléons Sturz stand➋, mag der eine oder andere Zuschauer bei Moses, der das Volk Israel ins Gelobte Land führte, an den Korsen gedacht haben, der während des Italienfeldzugs (1796/97) seinen Soldaten den Weg zu den Fleischtöpfen der norditalienischen Städte wies. Des weiteren war seit der Französischen Revolution die Frage der rechtlichen Stellung der jüdischen Mitbürger (gleichsam der Auszug der Juden aus dem Ghetto) in allen europäischen Ländern aktuell. Spätestens seit den 30er Jahren werden dann die Hebräer mit den unter der österreichischen Fremdherrschaft stöhnenden Italienern gleichgesetzt, wie Honoré de Balzacs Kommentar in seiner Novelle Massimilla Doni eindrucksvoll zeigt.

Als Giacomo Meyerbeer Le Prophète (UA 1849) komponierte, hat er Musik des 16. Jahrhunderts studiert (und Puccini verwendete später in Madama Butterfly fernöstliche Melodien). In die Partitur von Mosè und Moïse hat dagegen die jüdische musikalische Tradition keinen Eingang gefunden, denn in der italienischen Oper jener Zeit bedeutet die zeitliche und räumliche Situierung der Handlung nicht mehr und nicht weniger als die Entscheidung für ein (letztlich austauschbares) Kolorit. Weit stärker als durch die jeweilige Stoffvorlage werden Handlungsführung und Dramaturgie durch Besetzungskonventionen bestimmt (deshalb wird die heilsgeschichtliche Mission des Moses hier durch eine anekdotisch-banale Liebesgeschichte zwischen den Völkern gefährdet); deshalb ließen sich von der Zensur geforderte Änderungen von Schauplatz und Epoche relativ problemlos bewerkstelligen, deshalb auch können Dekor und Kostüm heute nicht (sakrosankter) Selbstzweck, sondern nur zeichenhaftes Mittel der Werkinterpretation sein.

Eine Opernaufführung ist keine Geschichtsstunde. Daß Rossinis Oper für die Zeitgenossen auf die Judenemanzipation verwies, bedeutet nicht, daß eine Inszenierung diesen Aspekt unterstreichen sollte; die doppelte Vermittlung des (für uns) historisch Fernen durch ein Beispiel aus dem Alten Testament erschwert einem (kaum noch  bibelfesten) heutigen Publikum das Verständnis, es gibt genügend historische wie literarische Beispiele aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die die Problematik sinnfälliger machen können.

David Mouchtar-Samorais Nürnberger Lesart setzt, so scheint es, bei der Einsamkeit des Moses an, der nicht nur die Ägypter, sondern auch sein eigenes, zweifelndes Volk von seinem göttlichen Auftrag überzeugen muß – hier liegt die Parallele zu Theodor Herzl, dessen Idee eines Judenstaats bei seinen Glaubensgenossen überwiegend auf Skepsis stieß. Trotz des göttlichen Auftrags und Beistands ist Rossinis Moses (der, anders als jener Arnold Schönbergs, die Stimme Gottes nicht hört) oft allein, wohl auch verzweifelt; indem die Inszenierung das deutlich macht, fügt sie der Figur wesentliche Facetten hinzu.

Diese Deutlichkeit hat freilich ihren Preis. Theodor Herzl ist ein Visionär, aber auch ein (neuzeitlicher, d.h innerweltlich denkender und argumentierender) Politiker. Aus politischer Sicht nun ist die Verbindung von Anaï und Aménophis das beste, was den Hebräern passieren kann; mit einer der ihren auf dem Pharaonenthron hätten sie nicht nur zum Zeitpunkt des Auszugs, sondern auch für die schwierige Phase der Konsolidierung ihres neuen Staates eine mächtige Verbündete. Die erratische Intransigenz von Rossinis Moses wird bei Moses-Herzl völlig unverständlich; und ich bekenne, daß er mir noch nie so auf die Nerven gegangen ist wie in der Nürnberger Inszenierung. Damit verstärkt der Regisseur freilich nur eine Tendenz, die im Libretto – als Konsequenz aus der Notwendigkeit,  Rollen für Sopran und Tenor zu schaffen – angelegt ist: Zwischen dem kosmisch-heilsgeschichtlichen Drama und der Liebeshandlung besteht eine groteske Disproportion, die vollständig zu kaschieren weder möglich noch sinnvoll ist. Sie statt dessen pointiert zuzuspitzen, ist sicher keine schlechte Idee.

Theater erzählt in Bildern. Die unmittelbar visuelle Evidenz des geglückten Bildes zeichnet das Schauspiel vor dem Roman, und die Oper vor dem Konzert aus; hier liegt – auch und gerade angesichts der Bilder-Inflation der Massenmedien – das Specificum, und die Chance des Theaters. Mouchtar-Samorai gelingt in der Schlußszene ein derart packendes Bild: Die Zerstörung des Bühnenraums, der von Beginn an allen Erschütterungen standgehalten hat, der Einsturz der Seitenwand macht unmittelbar einsichtig, daß Jahwe sein Volk nicht ins Paradies, sondern auf eine Baustelle geführt hat (der weitere Verlauf der biblischen Geschichte wird es bestätigen). Auch dieses Bild freilich hat seinen Preis: Wenn Pharaos Truppen vernichtet sind, Moses allein auf der Bühne zurückbleibt, der Schleier heruntergelassen wird, auf dem dann das Bild eines brennenden Gebäudes erscheint, wechselt die Perspektive von der symbolischen Konfrontation zwischen dem jüdischen Volk und seinen Feinden (Moses ‚ist’ eben nicht Theodor Herzl, sondern in Moses wie in Herzl verkörpert sich die sich gegen Unterdrückung und Bedrohung behauptende jüdische Identität) zu einem Abriß der Ereignisgeschichte von der Zeit Herzls bis zu Holocaust und Weltkrieg. Mit dieser Sequenz (die als optischer Kontrast zum Schlußbild, und wohl auch wegen des hinter dem Schleier vorzunehmenden Umbaus notwendig ist) hatte ich Schwierigkeiten, der Wechsel der Ebenen schien mir (unabhängig von der beklemmenden Unmittelbarkeit der projizierten Bilder selbst) der Wirkung des Ganzen eher abträglich zu sein. Dennoch bleibt der Eindruck einer von der vermittelten  Aussage wie der angewandten optisch-szenischen Mittel her eindrucksvollen Inszenierung.

Fazit: Selbstverständlich steht es jedem frei, den historisierenden Pseudo-Realismus der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zu mögen; nur sollte man bitte nicht den Eindruck zu erwecken suchen, diese Ästhetik hätte irgend etwas mit der Intention eines Werks wie Moïse et Pharaon, oder auch mit den Intentionen Rossinis, Tottolas, Balocchis oder Jouys, zu tun. Die Stoßrichtung der Inszenierungskritik scheint im übrigen darauf hinzudeuten, daß weniger eine bestimmte Form von Theater als die genuinen Ausdrucksformen der Kunstform Theater selbst den Stein des Anstoßes bilden; insofern wäre vielleicht zu überlegen, ob nicht eine Erweiterung des Kontingents an Hörplätzen, wie es sie zumindest in älteren Theatern zu geben pflegt, die Lösung des Problems darstellt.

Albert Gier


➊ Mosè in Egitto – Moïse et Pharaon, a cura di E.S., Pesaro 2008 (I Libretti di Rossini, 15), S. XXI-XXV.
➋ Klaus Ley (Latentes Agitieren: Nabucco, 1816-1842. Zu Giuseppe Verdis früher Erfolgsoper, ihren Prätexten, ihrem Modellcharakter, Heidelberg 2010) weist nach, daß der Nabucco in G.B. Niccolinis Tragödie (1819) für Napoléon steht; für Peter von Winters Maometto habe ich selbst eine ähnliche Deutung vorgeschlagen.

6. April 2010

Kommentar und weitere Aspekte zum Nürnberger Moïse

Reto Müller ein herzliches Dankeschön für seine ausführlichen Anmerkungen zum Nürnberger "Moïse". Die Präsentation dieser Oper war nicht so total abwegig, als dass sich ein solch ganz und gar negativer Grundsatz- "Verriss" darüber anböte, wie ihn beispielsweise Jacques Béranger über den Münchener Don Giovanni geschrieben hat (AnDante Kulturmagazin, 9. Ausgabe).

Erfreulich finde ich die Würdigung der gesanglichen Leistungen der Sänger von Moise und Pharao. In privatem Kreise oder der Presse wurden beide meist mit abwertenden Bemerkungen bedacht. Dass Intendant Peter Theiler den umfänglichen Kürzungen der Musik offensichtlich zugestimmt hat, wundert mich nicht. Der Staatsintendant stellt sich zwar gerne
seinem Publikum als bekennender Belcantofreund dar. Doch wer seine Guillaume-Tell-Aufführungen im Musiktheater Gelsenkirchen erlebt hat, dem dürfte die umfängliche Verwendung des Rotstiftes sehr bekannt vorkommen. Beim Tell versuchte Herr Theiler das noch mit der ungewöhnlich langen Spieldauer zu begründen, die man einem heutigen Publikum nicht mehr zumuten könne. Die im Vergleich zum Tell relativ kurze Spieldauer des Moise und die von Reto Müller zitierten Aufführungslängen von Zauberflöte und Tannhäuser lassen aber vermuten, dass man sich in Nürnberg mit den Darstellungsmitteln und der Sichtweise der Komponisten vor 1830 wohl überhaupt nicht näher beschäftigen möchte.

Schöne Musik zu spielen und akustisch Beeindruckendem nachzuspüren, reicht bei italienischen Opern völlig für ein Publikum, dem vordergründig meist lediglich Hörgenuss unterstellt wird. Bleibt zu hoffen, dass die Musikverantwortlichen die abwägenden und treffenden Ausführungen zu den Kürzungen und der Nummernproblematik auch zu lesen bekommen. Denn sonst bleibt sicher alles so, wie es ist...

Bei der Inszenierung möchte ich gern noch den räumlich-architektonischen Aspekt etwas stärker herausstellen. Die Bühne war als Einheitsraum mit variablem Hintergrund gestaltet. Der weiße Raum mit den Koffern an den Wänden und auf dem Boden vermittelte eindrucksvoll und grafisch von hoher Ästhetik die Grundsituation eines auf seine Abreise wartenden Volkes. Die Kofferschatten an den Wänden hielten auch im Schlussakt das Thema "Aufbruch", das dort durch andere Handlungen etwas zurückgedrängt wurde, ständig im Bewusstsein der Zuschauer.

Der Ortswechsel im Handlungsgeschehen steht einer Einheitsgestaltung grundsätzlich im Wege. Hier ersetzte im zweiten Akt eine geschickte Personenregie die räumliche Umgestaltung. Durch das Betonen der Privatheit im Auftreten des ägyptischen Herrscherpaares, verbunden mit einem Wechsel der Rückprospektoptik, wurde trotz des Einheitsbildes das Innere eines Palastes suggeriert. Dieser Teil der Inszenierung kann, für
sich betrachtet, durchaus auch ohne Historien- oder neuzeitlichen Bezug Gehalt und Aussage einer Handlung glaubhaft illustrieren.



Dieter Kalinka

5. April 2010

Rückblick auf den Nürnberger Moïse

Mit der Distanz von einigen Wochen wage ich einen Rückblick auf den Nürnberger Moïse, nicht zuletzt herausgefordert durch einige Betrachtungen von Astrid Fricke. Zunächst ein paar musikalische Eindrücke. Die Rolle des Protagonisten war bei Nicolai Karnolsky gut aufgehoben. Es zeigte sich einmal mehr, dass es für den Moïse keinen großartigen Belcanto-Bassisten braucht, sondern einen charismatischen Sänger-Darsteller. Karnolsky machte aus dem Theodor Herzl eine würdige und moralisch integre Figur, die er auch als Moses abgegeben hätte, wenn der Regisseur diesen nicht auf einen herumtänzelnden Stummrollen-Popanz reduziert hätte. Karnolsky und mit ihm der Pharaon des Melih Tepretmez (der einzige mit einem guten Französisch) waren unter den Männerstimmen die adäquatesten Besetzungen, wobei Daeyoung Kim in den Nebenrollen der Voix mistérieuse und des Priesters Oziride noch besonders hervorgehoben werden darf. David Yim mit seinem eigentlich schönen Timbre zeigte deutliche Limiten in der Rolle des Aménophis und wich teilweise mit abenteuerlichen harmonischen Wendungen seinen Spitzentönen aus. Doch hielt sich dieser Mangel in Grenzen, weil Rossini in dieser Oper für Adolphe Nourrit keine Tenorarie vorgesehen hat. Ganz schlimm war es um den Éliézer bestellt. Werden die gesanglichen Anforderungen an Moïse in der Regel überbewertet, so werden jene seines kleinen Bruders unterschätzt und die Rolle mit unzulänglichen Spieltenören besetzt. Vielleicht genügt es daran zu erinnern, dass Rossini diese Rolle für den selben Sänger schrieb, der dann auch den Fischer im Guillaume Tell kreierte. Die Rolle wird der Lächerlichkeit preisgegeben und gleichzeitig zur Pein, wenn sie unterbesetzt ist, was mit Richard Kindley leider der Fall war. Bei Hrachuhí Bassénz als Anaï fehlte mir die lyrische Innigkeit, und in manchen dramatischen Ausbrüchen dominierte eine gewisse Schärfe. Ihr Geschluchze im Duett mit Aménophis muss eine stilfremde Anleihe aus irgendwelchen Verismo-Opern gewesen sein, die mit Belcanto nichts zu tun hat. In ihrer großen Arie im vierten Akt war sie aber perfekt. Ezgi Kutlu entlockt dem Publikum durch ihr betörendes Auftreten als Sinaïde mitten in ihrer Arie viel Applaus, was auch ihrer stimmlichen Leistung zu verdanken war, wiewohl die Stimme durch einige Registerbrüche auffiel.
Insgesamt überzeugte die Nürnberger Produktion musikalisch weniger durch die Solisten als vor allem durch den Chor des Staatstheaters und das großartige Orchester, die Nürnberger Philharmoniker, die mit schöner Klangfarbe und solistisch sauberen Einsätzen auftrumpfen konnten. Die einfühlsame Leitung oblag Christian Reuter.


Inszenierung Paris 1827, 1. Akt (Bild: Wikipedia)


Erstaunlich ist, dass Staatsintendant Peter Theiler mit seiner wohlbekannten und segensreichen Liebe zur französischen Grand-Opéra beim ersten Teil dieses Gattungsbegriffs offenbar Kompromisse zulässt, die den Zweck der Übung ad absurdum zu führen drohen. Zum Vergleich: die 3 CDs, welche die Pesareser Aufführung von 1997 dokumentieren, dauern zusammen 3 Std. und 5 Minuten, die Nürnberger Produktion inkl. Pause 2 St. 50 Minuten, d.h. die Musik wurde um rund 45 Minuten gekürzt. Weggefallen sind erwartungsgemäß nicht nur die handlungsimmanenten Ballette, mit denen sich heutige Theater schwertun – auch Mehrspartenhäuser wie Nürnberg mit eigenem Ballett (vielleicht aus kameralistischen Gründen?!). Gestrichen wurde in teilweise schmerzhaft hörbarer Weise mitten in den Musiknummern – so z.B. in den Strettas der Introduktionen des 1. und 2. Aktes, oder im Duett der Liebenden, wo der ganze Abschluss fehlte (gegen 100 Takte oder ein Drittel der Nummer!), um nur die eklatantesten Striche zu nennen, die im Übrigen wie Guillotinenhiebe unerbittlich über jede Reprise niedersausten. Man fragt sich, ob es nicht klüger gewesen wäre, eine Nummer wie das Vater-Sohn-Duett (ein Überbleibsel aus der italienischen Fassung, das in dieser Choroper zwar einen schönen Kontrast schafft, aber nicht mehr, wie in der Neapolitaner Version, konstitutiv ist) ganz wegzulassen, wenn schon eine Spieldauer von drei Stunden als unzumutbar betrachtet wird. Angesichts dieser Kürzungen überrascht es auch, dass auf der anderen Seite ein Stück angefügt wurde, das von Rossini eliminiert wurde und somit vom Komponisten selbst als entbehrlich oder sogar als verfehlt empfunden wurde. Die Rede ist von dem Cantique, jenem Dankeschor, der an das instrumentale Finale anschließt und eine eigentliche „Doxologie“ zu dieser Bibeloper darstellt. Nun bin ich persönlich ein großer Anhänger dieser Nummer, die für mich eine formale und „moralische“ Vorwegnahme jener „Freiheitsanrufung“ ist, die den Guillaume Tell beschließt. Insofern bin ich dankbar, dass Nürnberg dieses Stück zu Gehör brachte, aber die Diskrepanz zu den drastischen Kürzungen innerhalb der Oper ist eklatant. Es macht mich sodann wütend, zu sehen, dass das selbe Opernhaus für eine Zauberflöte 3 Stunden und für einen Tannhäuser 4 Stunden 10 Minuten veranschlagt – mithin den deutschen Meistern Original- und Überlängen zugesteht, während man einen Rossini gnadenlos zusammenstaucht.


Inszenierung Paris 1827, 3. Akt (Bild: Wikipedia)


Theodor Herzl ist sicher eine spannende Figur für eine Operninszenierung. Ich würde es David Mouchtar-Samorai gönnen, wenn er in einer eigens auf diesen Stoff komponierten zeitgenössischen Oper Regie führen könnte. Allein, ihn über den biblischen bzw. rossinischen Moses zu stülpen, wird weder der einen noch der anderen Figur gerecht. Natürlich können wir dem Regisseur dankbar sein, dass er seine Moses-Metamorphose nur bis zu Herzl trieb und nicht, wie neulich zwei Enfants terribles von Pereiras Gnaden am Zürcher Opernhaus, zu einem Osama Bin Laden mutieren ließ; dankbar, dass er nicht den heutigen politischen und pseudo-religiösen Streit thematisierte (wie er selbst sagt: „Das wäre eine oberflächliche Antwort, die die Komplexität und die fatalen Probleme des jüdischen Staats […] ignoriert“). Die eingeblendeten Herzl-Zitate empfand ich denn auch nicht als politische, sondern mehr als philosophische Aussagen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der in einem symbolischen Akt nach Nürnberg berufene jüdische Regisseur zu einer „intellektuellen“ Betrachtung des Stoffes genötigt sah und dies in moderater, aber keineswegs naheliegender und werkstimmiger Weise getan hat. Vollends überfordert war er aber mit der Anforderung, den Cantique am Schluss der Oper noch in seine Inszenierung mit einzubeziehen. Er tat dies mit einem kompletten Stilbruch, wie es unserer schizophrenen Zeit offenbar angemessen ist. Nicht aber der Musik, denn der Cantique ist kein Stilbruch, sondern vielmehr eine Verdoppelung der einkehrenden Meeresstille im instrumentalen Finale. Es gab in den 80er Jahren in Pesaro in der italienischen Moses-Fassung jenes wunderschöne, harmonische Schlussbild von Pierluigi Pizzi, wo sich das ganze jüdische Volk zuletzt um Moses schart und in einem stummen Dankesgebet den Blick zum Himmel richtet. Genau dies ist der Cantique: das Volk dankt Gott, dass es vor der verfolgenden Armee gerettet wurde. Die Aussage von Operndramaturg Eule im Programmheft, wonach der Cantique eine Möglichkeit sei „zum guten Schluss, dem Liete fine [sic!] der Konvention, aufzuzeigen, dass die Errettung auch ihren bitteren Preis hat“ ist reine Phantasterei: eine solche Doppelbödigkeit ist weder im Text noch in der Musik angelegt, und mithin die Kriegs- und Holocaust-Episode des Regisseurs eine an der Dankbarkeitshymne Rossinis völlig vorbei inszenierte Willkürlichkeit.

In diesem Zusammenhang hat Astrid Fricke in ihrem Blog den erstaunlichen Satz geschrieben: „Die Forderung, die Oper so zu inszenieren, wie es dem historischen Rossini und seinen Librettisten vorschwebte, würde die Erfahrungen der letzten hundert Jahre ignorieren.“ Eine solche Sicht der Dinge ist ein Totschlagargument für jegliche genuine Darstellung historischer Stoffe; sie stellt die Bibel ebenso in Frage wie die immer wieder erfolgenden Historienverfilmungen der Moses-Legende; sie besagt, dass Oper, wie sie von ihren Schöpfern konzipiert und umgesetzt wurde (also nicht nur „vorschwebte“), heute keine Berechtigung mehr hat. Leider scheint dies die von der heutigen Regisseurengilde indoktrinierte Meinung zu sein. Die Dinge nur noch aus der Optik der eigenen (zwangsläufig beschränkten) Erfahrungswelt zu sehen, ist trivial; es ist eine sehr herabmindernde Sicht der Dinge, wenn man sich mit einer Thematik nur noch aus dem eigenen, gegenwärtigen Blickwinkel zu beschäftigen vermag und nicht mehr in der Lage ist, sich in andere Zeiten, andere Situationen und andere Menschen hineinzuversetzen und durch diese künstliche und künstlerische Horizonterweiterung die Reflexion über das eigene Ich und Jetzt zu schärfen. Insofern hat uns Theodor Herzl – zitiert im Nürnberger Programmheft – durchaus etwas zu sagen (aber eben als Theodor Herzl, nicht als Moses-Surrogat): „Traum ist von der Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum Traume“ – in der Umsetzung mancher modernen Inszenierung leider allzu oft zum Trauma.

Reto Müller
(Vorabdruck aus Mitteilungsblatt der Deutschen Rossini Gesellschaft, 50, April 2010)

15. März 2010

"Moïse et Pharaon" - Rossini in Nürnberg



Das Werk
Rossini überarbeitete 1827 seine 1818/1819 für Neapel geschriebene Oper  "Mosè in Egitto" (schon damals eine "Azione tragica-sacra") in der musikalischen Hauptstadt Paris für die Opéra, die große Bühne der Académie Royale de Musique. Er veränderte wesentlich den Stil und schuf ein "dramaturgisch, musikalisch und szenisch schlüssiges Musikdrama" (Johann Casimir Eule im Nürnberger Programmheft) mit der "französischen Kunst der Deklamation", "wunderbaren belcantistischen Soli" und "singenden" Rezitativen. "Nie zuvor bekam das Volk auf der Bühne solch eindrückliche Präsenz, spielte der Chor szenisch und musikalisch eine gewichtigere Rolle..." (Eule ebenda). Sogar der "Rossini-Verächter" Richard Wagner ließ sich herab, dieses Werk Rossinis mehrfach positiv zu erwähnen.

Die Inszenierung
Die Inszenierung wagt den Spagat zwischen biblischer Geschichte und Moderne. Biblische Geschichte wird zum Beispiel durch die stumme Rolle eines Moïse-Schauspielers und Pharao-Doppelgängers in einigen Szenen zum Leben erweckt, ein sehr theatralischer Ansatz, der allerdings bei einigen Zuschauern seine Wirkung verfehlte. Zwingender empfand ich die Darstellung der Plagen durch im Hintergrund laufende symbolträchtige Videos, welche Sonnenfinsternis und Heuschrecken (eher Spinnen!) darstellten. Gut choreographiert und durch Lichteffekte unterstützt zeichnete der Chor allein durch abgehackte Bewegungen die hereinbrechende Orientierungslosigkeit und Verzweiflung der Menschen nach, die sich zeitweise von Gott und der Welt verlassen fühlen mussten. Das Bühnenbild und die Ausstattung stellten mit ihrer "Koffersymbolik" ebenfalls Ausweglosigkeit dar: Bewegliche Koffer  in den Händen der Menschen, aber auch Koffer festgenagelt auf dem Boden, an den Wänden und sogar an der Decke. Einen Fluchtweg gibt es nicht in diesem Raum. Nur kurzfristig öffnet sich eine Tür im Hintergrund, dahinter ist es bedrohlich schwarz.

Viele Opernbesucher kennen die Koffer der Heimatlosen bereits von anderen Bühnen als Sinnbild von Flucht und Vertreibung. In dieser Inszenierung war es mehr: Die weißen, schnurgerade hintereinander aufgereihten Koffer gemahnten auch an das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, an das Stelenfeld. Und hier sind wir bei der "Moderne" angelangt, auf welche diese Inszenierung eines israelischen Regisseurs in der ehemaligen Hitler-Hochburg Nürnberg ebenfalls verweist. Moderne - das ist hier einmal die Zeit, in der Theodor Herzl (1860 - 1904) in seinen Schriften über das Judentum reflektierte: "Obwohl seinerzeit ohne greifbaren Erfolg, schuf Herzls Tätigkeit wesentliche Voraussetzungen für die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948." (Wikipedia). Herzls Foto ziert den transparenten Vorhang zu Beginn, seine Schriften werden eingeblendet, er ist hier ein moderner Moses.


Und dann ist "Moderne" in dieser Inszenierung auch die Zeit des untergegangenen "Stetl" mit seinen Progromen und schließlich das Dritte Reich mit seiner systematischen Judenverfolgung und - vernichtung. Indem der Regisseur David Mouchtar-Samorai insbesondere in der Schluss-Szene (Gang des Volkes durch das Rote Meer) andeutet, dass die "Rettung" des Volkes Israel nicht nur mit dem Untergang der ägyptischen Streitmacht einherging, sondern - natürlich in der Neuzeit - auf Seiten des jüdischen Volkes mit verheerenden Opfern verbunden war, wird auch der Holocaust erwähnt. Das Rote Meer wird nämlich zum Feuersturm hinter dem Vorhang, dem nur wenige entkommen können. 

Am Ende erheben alle ihre Stimmen, die Geretteten vor und die Opfer hinter dem Vorhang. Dies wirkte ergreifend und unterstrich mutig die musikalische und szenische Aussage.  Die Forderung, die Oper so zu inszenieren, wie es dem historischen Rossini und seinen Librettisten vorschwebte, würde die Erfahrungen der letzten hundert Jahre ignorieren.  Gerade durch das Aufgreifen und Sichtbarmachen historischer Ereignisse vermag es diese große Oper, auch heute noch zu erschüttern. Auch Rossini selbst wollte in seiner Grand Opéra nicht die Bibel illustrieren und vertonen, sondern durch die Schilderung privater Probleme und Verstrickungen übermenschliche Gestalten wie Moïse (Moses) lebendig machen und auch neue Figuren einfügen. Der Gang durch - hier genauer "über" - das rote Meer war übrigens durch eingeblendete Videos von aufgewühlten Meereswogen, die in der Mitte schließlich einen Gang freigeben, in dem sich die Fliehenden gleichsam auflösen, geschickt auf die Bühne gebracht.

Der Regisseur war sichtlich bemüht, der Oper, die am Hofe des Pharao spielt und zeitlose Probleme zwischen Liebenden, zwischen Vater und Sohn, aber auch Mutter und Sohn aufgreift, ein wenig das Pathos auszutreiben. Insbesondere Aménophis, Pharaos Sohn, wird als impulsiver Schwächling dargestellt, der sich auch mal auf den Boden wirft und mit den Fäusten darauf herumtrommelt. Mich hat diese psychologisch begründete Rollenauffassung, die natürlich nicht zu einem angehenden Herrscher passt, nicht gestört. Die Szenen, in denen die Beziehungen zwischen Liebenden thematisiert werden, hat der Regisseur packend auf die Bühne gebracht, ebenso den gesungenen Dialog zwischen Mutter und Sohn, in der Sinaïde mit eindringlichen und ergreifenden Tönen Aménophis anfleht, von seiner Liebe zu Anaï zu lassen. Sinaïde ist scheinbar kühl und siegessicher mit ihrer Toilette beschäftigt, kein Wunder, dass sie zunächst kein Gehör bei ihrem Sohn findet.


Der Chor
Wegen der überragenden Bedeutung des Chors, der gleichsam im kirchenmusikalischen Stil auftritt und Verdis Chöre (z.B. in Nabucco) vorwegnimmt, möchte ich als erstes hierauf eingehen, zumal mit Chorgesang die Oper in dieser Inszenierung beginnt und endet (Chor-Einstudierung Edgar Hykel). Der "große Chor" in dieser Oper tritt als Volk Israel auf, das sich in ägyptischer Gefangenschaft befindet. Das Volk singt mal gemeinsam, dann wieder gibt es den Frauen- und Männerchor im Dialog und gegeneinander singend. In dieser Weise ausgedrücktes Leid wird bei der vom Pharao in Aussicht gestellten Errettung durch Freudengesänge abgelöst. Und hier kommt es im Chor nicht zu "Gezappel", wie ein Kritiker schrieb, sondern zu dezent eingeblendeten Tanzszenen einiger Protagonisten, die vielleicht folkloristisch angehaucht sind, jedoch authentisch wirken und zur Musik passen. Die Kostüme erinnerten an zeitgenössische Fotos der im 19. und 20. Jahrhundert verfolgten Juden, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind und dadurch anrühren.

Orchester, Sängerinnen und Sänger
Die vorzüglichen Nürnberger Philharmoniker spielten unter der musikalischen Leitung von Christian Reuter schwungvoll und engagiert, die Sänger waren mit Können und Eifer bei der Sache: Nicolai Karnolski als Moïse, Melih Tepretmez als Pharaon, David Yim als Aménophis. Mich haben stimmlich besonders die Damen bezaubert, und anderen ging es wohl genauso, wenn man den Schlussbeifall berücksichtigt: Hrachuhí Bassénz in der großen Rolle der den Pharao-Sohn liebenden und schließlich diese Liebe opfernden Anaï und - ebenso großartig - Ezgi Kutlu als Sinaïde.
Ein Besuch dieser selten gespielten Oper ist allen Belcanto-Freunden dringend ans Herz zu legen!

Besuchte Aufführung: 21.2.2010
Weitere Aufführungen am 30.3./ 7.4./ 27.4. 2010
Informationen zur Oper mit Rezensionen, Bildergalerien und vier Hörproben: Staatstheater Nürnberg

Astrid Fricke