15. März 2010

"Moïse et Pharaon" - Rossini in Nürnberg



Das Werk
Rossini überarbeitete 1827 seine 1818/1819 für Neapel geschriebene Oper  "Mosè in Egitto" (schon damals eine "Azione tragica-sacra") in der musikalischen Hauptstadt Paris für die Opéra, die große Bühne der Académie Royale de Musique. Er veränderte wesentlich den Stil und schuf ein "dramaturgisch, musikalisch und szenisch schlüssiges Musikdrama" (Johann Casimir Eule im Nürnberger Programmheft) mit der "französischen Kunst der Deklamation", "wunderbaren belcantistischen Soli" und "singenden" Rezitativen. "Nie zuvor bekam das Volk auf der Bühne solch eindrückliche Präsenz, spielte der Chor szenisch und musikalisch eine gewichtigere Rolle..." (Eule ebenda). Sogar der "Rossini-Verächter" Richard Wagner ließ sich herab, dieses Werk Rossinis mehrfach positiv zu erwähnen.

Die Inszenierung
Die Inszenierung wagt den Spagat zwischen biblischer Geschichte und Moderne. Biblische Geschichte wird zum Beispiel durch die stumme Rolle eines Moïse-Schauspielers und Pharao-Doppelgängers in einigen Szenen zum Leben erweckt, ein sehr theatralischer Ansatz, der allerdings bei einigen Zuschauern seine Wirkung verfehlte. Zwingender empfand ich die Darstellung der Plagen durch im Hintergrund laufende symbolträchtige Videos, welche Sonnenfinsternis und Heuschrecken (eher Spinnen!) darstellten. Gut choreographiert und durch Lichteffekte unterstützt zeichnete der Chor allein durch abgehackte Bewegungen die hereinbrechende Orientierungslosigkeit und Verzweiflung der Menschen nach, die sich zeitweise von Gott und der Welt verlassen fühlen mussten. Das Bühnenbild und die Ausstattung stellten mit ihrer "Koffersymbolik" ebenfalls Ausweglosigkeit dar: Bewegliche Koffer  in den Händen der Menschen, aber auch Koffer festgenagelt auf dem Boden, an den Wänden und sogar an der Decke. Einen Fluchtweg gibt es nicht in diesem Raum. Nur kurzfristig öffnet sich eine Tür im Hintergrund, dahinter ist es bedrohlich schwarz.

Viele Opernbesucher kennen die Koffer der Heimatlosen bereits von anderen Bühnen als Sinnbild von Flucht und Vertreibung. In dieser Inszenierung war es mehr: Die weißen, schnurgerade hintereinander aufgereihten Koffer gemahnten auch an das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, an das Stelenfeld. Und hier sind wir bei der "Moderne" angelangt, auf welche diese Inszenierung eines israelischen Regisseurs in der ehemaligen Hitler-Hochburg Nürnberg ebenfalls verweist. Moderne - das ist hier einmal die Zeit, in der Theodor Herzl (1860 - 1904) in seinen Schriften über das Judentum reflektierte: "Obwohl seinerzeit ohne greifbaren Erfolg, schuf Herzls Tätigkeit wesentliche Voraussetzungen für die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948." (Wikipedia). Herzls Foto ziert den transparenten Vorhang zu Beginn, seine Schriften werden eingeblendet, er ist hier ein moderner Moses.


Und dann ist "Moderne" in dieser Inszenierung auch die Zeit des untergegangenen "Stetl" mit seinen Progromen und schließlich das Dritte Reich mit seiner systematischen Judenverfolgung und - vernichtung. Indem der Regisseur David Mouchtar-Samorai insbesondere in der Schluss-Szene (Gang des Volkes durch das Rote Meer) andeutet, dass die "Rettung" des Volkes Israel nicht nur mit dem Untergang der ägyptischen Streitmacht einherging, sondern - natürlich in der Neuzeit - auf Seiten des jüdischen Volkes mit verheerenden Opfern verbunden war, wird auch der Holocaust erwähnt. Das Rote Meer wird nämlich zum Feuersturm hinter dem Vorhang, dem nur wenige entkommen können. 

Am Ende erheben alle ihre Stimmen, die Geretteten vor und die Opfer hinter dem Vorhang. Dies wirkte ergreifend und unterstrich mutig die musikalische und szenische Aussage.  Die Forderung, die Oper so zu inszenieren, wie es dem historischen Rossini und seinen Librettisten vorschwebte, würde die Erfahrungen der letzten hundert Jahre ignorieren.  Gerade durch das Aufgreifen und Sichtbarmachen historischer Ereignisse vermag es diese große Oper, auch heute noch zu erschüttern. Auch Rossini selbst wollte in seiner Grand Opéra nicht die Bibel illustrieren und vertonen, sondern durch die Schilderung privater Probleme und Verstrickungen übermenschliche Gestalten wie Moïse (Moses) lebendig machen und auch neue Figuren einfügen. Der Gang durch - hier genauer "über" - das rote Meer war übrigens durch eingeblendete Videos von aufgewühlten Meereswogen, die in der Mitte schließlich einen Gang freigeben, in dem sich die Fliehenden gleichsam auflösen, geschickt auf die Bühne gebracht.

Der Regisseur war sichtlich bemüht, der Oper, die am Hofe des Pharao spielt und zeitlose Probleme zwischen Liebenden, zwischen Vater und Sohn, aber auch Mutter und Sohn aufgreift, ein wenig das Pathos auszutreiben. Insbesondere Aménophis, Pharaos Sohn, wird als impulsiver Schwächling dargestellt, der sich auch mal auf den Boden wirft und mit den Fäusten darauf herumtrommelt. Mich hat diese psychologisch begründete Rollenauffassung, die natürlich nicht zu einem angehenden Herrscher passt, nicht gestört. Die Szenen, in denen die Beziehungen zwischen Liebenden thematisiert werden, hat der Regisseur packend auf die Bühne gebracht, ebenso den gesungenen Dialog zwischen Mutter und Sohn, in der Sinaïde mit eindringlichen und ergreifenden Tönen Aménophis anfleht, von seiner Liebe zu Anaï zu lassen. Sinaïde ist scheinbar kühl und siegessicher mit ihrer Toilette beschäftigt, kein Wunder, dass sie zunächst kein Gehör bei ihrem Sohn findet.


Der Chor
Wegen der überragenden Bedeutung des Chors, der gleichsam im kirchenmusikalischen Stil auftritt und Verdis Chöre (z.B. in Nabucco) vorwegnimmt, möchte ich als erstes hierauf eingehen, zumal mit Chorgesang die Oper in dieser Inszenierung beginnt und endet (Chor-Einstudierung Edgar Hykel). Der "große Chor" in dieser Oper tritt als Volk Israel auf, das sich in ägyptischer Gefangenschaft befindet. Das Volk singt mal gemeinsam, dann wieder gibt es den Frauen- und Männerchor im Dialog und gegeneinander singend. In dieser Weise ausgedrücktes Leid wird bei der vom Pharao in Aussicht gestellten Errettung durch Freudengesänge abgelöst. Und hier kommt es im Chor nicht zu "Gezappel", wie ein Kritiker schrieb, sondern zu dezent eingeblendeten Tanzszenen einiger Protagonisten, die vielleicht folkloristisch angehaucht sind, jedoch authentisch wirken und zur Musik passen. Die Kostüme erinnerten an zeitgenössische Fotos der im 19. und 20. Jahrhundert verfolgten Juden, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind und dadurch anrühren.

Orchester, Sängerinnen und Sänger
Die vorzüglichen Nürnberger Philharmoniker spielten unter der musikalischen Leitung von Christian Reuter schwungvoll und engagiert, die Sänger waren mit Können und Eifer bei der Sache: Nicolai Karnolski als Moïse, Melih Tepretmez als Pharaon, David Yim als Aménophis. Mich haben stimmlich besonders die Damen bezaubert, und anderen ging es wohl genauso, wenn man den Schlussbeifall berücksichtigt: Hrachuhí Bassénz in der großen Rolle der den Pharao-Sohn liebenden und schließlich diese Liebe opfernden Anaï und - ebenso großartig - Ezgi Kutlu als Sinaïde.
Ein Besuch dieser selten gespielten Oper ist allen Belcanto-Freunden dringend ans Herz zu legen!

Besuchte Aufführung: 21.2.2010
Weitere Aufführungen am 30.3./ 7.4./ 27.4. 2010
Informationen zur Oper mit Rezensionen, Bildergalerien und vier Hörproben: Staatstheater Nürnberg

Astrid Fricke

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