22. Juni 2010

Persönliche Erinnerungen an Giuseppe Taddei


Kurz vor seinem 94. Geburtstag ist Giuseppe Taddei am 2. Juni 2010 verstorben. In den Zeitungen vielfach nur eine kleine Notiz, - wer ihn auf der Bühne hat erleben dürfen, weiß, dass ein ganz Großer seinen Lebensweg vollendet hat. Sechs Jahrzehnte lang hat er seinem Publikum unvergessliche Erinnerungen geschenkt, die Bühne ließ ihn nicht los, und so erklärte er sogar einmal den Rücktritt vom Rücktritt und war wieder da.

Zum Weinen schön - mit Maria Callas in Verdis „La Traviata“,
1951 in Mexico City:



Sein Repertoire umfasste nicht nur alle großen Baritonpartien von Verdi und Puccini, sondern beispielsweise auch Partien wie Mozarts Figaro und Papageno, Rossinis Figaro und Don Magnifico und sogar Wagners Hans Sachs (in italienischer Sprache, 1962 RAI Torino).

Etwa 150 Partien sollen es gewesen sein, bis er 1995 nach einer großen Karriere an allen bedeutenden Opernhäusern der Welt seinen Abschied von der Bühne nahm. 2006 erschienen seine Erinnerungen unter dem Titel „Ich, Falstaff“. Mehr zu Giuseppe Taddeis Leben und Wirken bei Wikipedia und hier

Mitreißend fröhlich - Dulcamara in Donizettis „L’elisir d’amore“:



Besonders verbunden war er der Wiener Staatsoper, wo ich ihn 1982 als Michele in Puccinis „Il tabarro“ erleben durfte. In den frühen 1980er Jahren war er aber glücklicherweise auch des Öfteren Gast auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper. Mit großer Bühnenpräsenz und differenzierter stimmlicher Gestaltung gab er jeder Rolle seinen persönlichen Stempel: Unvergesslich sein Porträt des fiesen Barons Scarpia, der Tosca das Leben zur Hölle macht, immer wieder ein Ereignis sein pfiffiger Dulcamara - hinreißend im Zusammenspiel mit Kathleen Battle - in Donizettis „L’elisir d’amore“ und grandios als Rossinis „Guglielmo Tell“.

Besonders denkwürdig wurde eine der (konzertanten) Tell-Aufführungen aber nicht nur wegen der herausragenden musikalischen Darbietungen, sondern auch wegen eines besonderen Vorfalls, und ich bin sicher, dass nur der beruhigende Einfluss Taddeis den vorzeitigen Abbruch der Vorstellung verhindert hat. Was war geschehen? Gleich im ersten Akt im Duett Tell – Arnold verpasste Franco Bonisolli einen Einsatz und verließ schnurstracks die Bühne, als der Dirigent trotz heftigen Winkens weiter spielen ließ. Taddei sang das Duett alleine weiter, der Dirigent nahm die Tenorpassagen extrem schnell und sang auch mal einige Takte, - und dann folgten Dirigent und Solisten eiligst dem verschwundenen Tenor. Ratlos zurück blieben Publikum, Orchester und Chor, - es war die Zeit der Intendanz „Dochnieda“ ( v. Dóhnanyi), und als nichts geschah, machte sich schließlich der Konzertmeister auf den Weg und verkündete nach einigen Minuten, dass jetzt erst mal Pause wäre. Die zog sich hin. Als dann alle wieder Platz genommen hatten (und erleichtert auf der Bühne Orchester und Chor sitzen sahen), verkündete ein junger Mann, dass Herr Bonisolli sich aufgrund des Temperaturunterschiedes zwischen Garderobe und Bühne indisponiert gefühlt habe, man möge ihn freundlich empfangen. Dann der wohl durchdachte Einzug der Solisten, allen voran Giuseppe Taddei – mit Bravorufen begrüßt - wie ein Schutzschild vor Bonisolli, dessen Erscheinen allerdings einen Buh-Orkan insbesondere von den oberen Rängen auslöste, was wiederum zu lautstarken Auseinandersetzungen und gegenseitigen Beschimpfungen innerhalb des Publikums führte. Giuseppe Taddei stand da wie der Fels in der Brandung, von allen Seiten besorgte Blicke auf Bonisolli, ob er die Nerven behält, - bis dann vom vierten Rang mit Donnerstimme der Ruf „Ruhe“ ertönte, die auch sofort eintrat. Es wurde dann eine der besten Tell-Aufführungen, das Duett wurde allerdings nicht wiederholt.

Giuseppe Taddei – ein großer Sänger und eine große Persönlichkeit – bleibt unvergessen.

There used to be a saying in Italy: “We gave the rest of the world Tito Gobbi, but we kept Giuseppe Taddei for ourselves.” s. Times 5.6.2010


Giuseppe Taddei 2006 bei der Vorstellung seines Buches 

16. Juni 2010

Die Ehe ist schon etwas Komisches, oder ??

Seit Stefano Mazzonis di Pralafera als Intendant der Opéra Royal de Wallonie (ORW) in Lüttich für die Spielpläne verantwortlich ist, folgt er bei seiner Auswahl nicht nur dem “mainstream“, sondern er stellt in jeder Spielzeit auch Opern vor, die abseits des Standardrepertoires liegen. So brachte er ebenso Aubers Fra Diavolo und Lalos Le Roi d’Ys wie Cimarosas Matrimonio Segreto und 3 Intermezzi von Cherubini, Cimarosa und da Capua auf die Bühne. In seiner 3. Saison präsentierte er nun mit Rita und Il Campanello 2 Einakter von  Donizetti, in denen Heirat und Ehe Anlass für komisch - absurde Verwicklungen sind.


Die opéra comique "Rita ou Le mari battu" – komponiert 1841 doch erst nach Donizettis Tod 1860 in Paris uraufgeführt – erzählt die Geschichte der Gastwirtin Rita (köstlich gespielt und gesungen von der Sopranistin Priscille Laplace), die in ihrer Ehe mit Beppe (der ebenso höhensichere wie spielfreudige Tenor Aldo Caputo) nicht nur die Hosen anhat, sondern bei Bedarf (Titel !) auch zu körperlichen Maßnahmen greift. In deren Alltag bricht völlig unerwartet Ritas erster Ehemann Gaspar ein, der als tot galt: eine Paraderolle für den alten Kämpen Alberto Rinaldi, dessen Stimme aber etwas abgesungen klang – kein Wunder nach fast 50 Bühnenjahren.

In 3 Arien, 3 Duetten und einem abschließenden Terzett serviert uns ein komödiantischer Donizetti prickelnde Musik, wobei vor allem Beppes Arie “Je suis joyeux“ in den Ohren hängen bleibt. Der Hausherr hatte persönlich die Regie übernommen und ein heimeliges Café mit Außenbewirtschaftung auf die Bühne des Palais Opéra de Liège gestellt, in dem verschiedene Statisten das Drei - Personenstück nicht nur visuell belebten.

Eben dieses Bühnenbild bildete dann den Schauplatz der Eingangsszene der 1836  geschriebenen Farsa "Il campanello di notte", die mit der Hochzeit des schon etwas älteren neapolitanischen Apothekers Don Annibale Pistacchio mit der jungen und schönen Serafina beginnt. Auch in diesem vom Bergamasker Meister selbst verfassten Libretto kommt ein zweiter Mann ins Spiel, nämlich Serafinas Ex - Liebhaber Enrico. Um Don Annibale die Hochzeitsnacht zu vermasseln, zu der sich die junge Gattin in der oberen Etage der inzwischen auf der Drehbühne installierten Apotheke sichtbar zurecht macht, schlüpft Enrico in Outfit und Charakter von 3 nächtlichen Besuchern, die den Notdienst des Apothekers in Anspruch nehmen. Der Bariton Massimiliano Gagliardo bietet hier vor allem als Sänger mit Stimmproblemen eine Bravourleistung in gesanglicher und mimischer Hinsicht. Aber auch die beiden übrigen Protagonisten, Priscille Laplace und der Bass Domenico Colaianni, sorgen für die nötige Komik und musikalische Finessen in dieser kurzweiligen Momentaufnahme zwischenmenschlicher Beziehungen und Konflikte. In den Nebenrollen als Brautmutter und Hausdiener wussten Monica Minarelli und Aldo Caputo ebenso zu gefallen wie der  Chor der Opéra de Namur, dessen Mitglieder in ihren individuellen Kostümen und exaltierten Perücken für Farbtupfer sorgten.

Insgesamt fand das Nachtglöckchen mit seiner mitreißenden Musik, in der bewusste Zitate - z.B. aus Rossinis Otello (Desdemonas Lied von der Weide, die hier zum Maulbeerbaum wird) und aus Donizettis eigener Oper Marin Faliero - schmunzeln machten, beim Publikum noch mehr Anklang. Am Pult des klangvoll spielenden Orchesters der ORW stand der in der Barockmusik aber auch im Belcantobereich versierte Claudio Scimone, der trotz seiner fast 75 Jahre zum ersten Male in Liège gastierte und für Schwung und  musikalischen Esprit sorgte.

In der nächsten Saison wartet die ORW übrigens mit einer echten Rarität auf: Baldassare Galuppis "L’Inimico delle donne" aus dem Jahre 1771 (ab 28. Januar 2011)! Vielleicht kann man diese Oper dann nicht nur in Lüttich, sondern auch am heimischen Computer live erleben. Den Service "OperaLive" bietet die Lütticher Oper seit Februar 2010 an (vgl. auch den Bericht hier im Belcantoblog).

Walter Wiertz (Besuchte Vorstellung am 11. Mai )

15. Juni 2010

"Damen, Ritter, Waffen und Liebe. Ariosts Orlando furioso auf der Opernbühne"

Dieses war der Titel des Festvortrages, den Prof. Dr. Albert Gier, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, am 5. Juni 2010 anlässlich der Händel-Festspiele in Halle im gut besuchten Saal des Stadthauses am Markt hielt.

Halle (Saale): Stadthaus am Markt
Er wandte sich zunächst dem aus 46 nur lose miteinander verbundenen Gesängen bestehenden Versepos des italienischen Renaissance-Dichters Ludovico Ariost zu, das dieser zwischen 1505 und 1521 auch in der Absicht verfasste, seinem Gönner und Förderer, dem mächtigen Kardinal Ippolito d`Este, zu huldigen. In diesem Werk geht es, wie schon der Vortragstitel verrät, um das Rittertum, um den Kampf der Kreuzritter mit den Sarazenen und um Liebes-Verwicklungen. Wie auch im höfischen Roman der Zeit üblich, wird Ariosts märchenhafte Welt außer von Rittern auch von Feen, Magiern und Monstren bevölkert. (Einen schönen Einstieg in Ariosts "Orlando furioso" bietet übrigens das gleichnamige Hörspiel des WDR Köln, erschienen bei Random House Audio, 2004). 

Vortragsraum im Stadthaus am Markt

Gier zeigte auf, dass Ariost zeitlose Themen wie Liebe, Treue, Beharrlichkeit, Flatterhaftigkeit, Eifersucht, Kampfes- und Abenteuerlust in einer zwar unterhaltsamen, gleichzeitig jedoch vorurteilsfreien und relativ wertneutralen Weise dargestellt hat. Seine aufregenden und bildhaften Schilderungen machten ihn rasch berühmt. Zahlreiche Handlungsstränge seines Epos stießen dann später, insbesondere im Barock, auf großes Interesse auch der Librettisten und Komponisten. So gibt es zahllose Bearbeitungen, die aus dem riesigen Fundus an Personen des Ariost schöpften. Unter anderem wurden die Beziehungen zwischen den Geschlechtern von dem Renaissancedichter spannungsvoll abgehandelt. 

Allerdings wurde die quasi wissenschaftliche, vorurteilsfreie und neugierige Herangehensweise Ariosts an den Stoff später verändert: Dem Publikum wird im 17. und besonders im 18. Jahrhundert unmissverständlich klar gemacht, dass Vernunft und Moral siegen müssen, die Verirrung wird rechtzeitig beendet. Es ist ein großes Verdienst Giers, eine Vielzahl dieser Libretti aufgespürt, erkundet und auszugsweise seinem Publikum nahegebracht zu haben. Zu den Komplexen, die bereits bei Ariost vorkommen und von den späteren Komponisten und Librettisten erfolgreich aufgegriffen wurden, gehört unter anderem die Geschichte des vor Eifersucht "rasenden" Ritters Orlando, der aus unerfüllter Liebessehnsucht zeitweise sogar seinen Verstand verliert und schrecklich wütend, ausgestattet mit übermenschlicher Kraft, durch die Lande zieht. Hier bot sich dann die Gelegenheit, eindrucksvolle "Wut-Arien" zu verfassen - auch für Händel.

Astrid Fricke

14. Juni 2010

"Armida" live an der Met – und nicht in HD

Viele Rossini-Fans werden die „Live in HD“-Übertragung der Armida aus der Metropolitan Opera in New York am 1. Mai gesehen haben. Natürlich ist eine Opernausstrahlung im Kino etwas anderes (nicht automatisch minderwertig!) als das Live-Erlebnis eines Theaterbesuchs. Bei einer Übertragung ist die Kamera auf Nahaufnahmen fokussiert, und das Publikum sieht nur das, was der Fernsehregisseur ihm zeigen will. Außerdem kann man auf diesem Weg nur schwer das Stimmpotential eines Sängers einschätzen. Sitzt man hingegen im Theater, kann man die ganze Bühne einsehen – ob das immer ein Vorteil ist, sei dahingestellt! Der folgende Bericht handelt jedenfalls vom Besuch der Aufführung am 4. Mai 2010.

Wenn man die Tatsachen außer Acht lässt, dass die Armida nicht gerade aufregend, die Bühnenbilder hässlich, die Regie kaum spürbar, das Opernhaus für diese Oper zu groß, das Ballett schrecklich und die Tempi des Dirigenten zu langsam waren – ja dann war diese Produktion ganz gut. Positiv anzumerken ist, dass die Oper ungekürzt präsentiert wurde und dass die „Met“ 6 Tenöre aufbot, von denen zumindest 5 ausgezeichnet waren, und dann bleibt noch das unbe-streitbare Positivum, dass Amerikas berühmtestes Opernhaus dieses Werk überhaupt auf den Spielplan setzte.
Dies geschah natürlich vor allem deshalb, weil Renée Fleming, derzeit wohl die regierende Operndiva der „Met“, die Armida noch einmal singen wollte, nachdem sie sich 1992 in Pesaro als junge, unbekannte Sängerin an dieser Partie mit Erfolg versucht hatte. Viele von uns erinnern sich noch an jene phantastischen Aufführungen, als die Fleming für die Antonacci einsprang, die die Rolle zurückgegeben hatte. Nicht nur wir fragten uns, ob sie fast 20 Jahre und viele nicht-belcanteske Rollen später diese Partie noch singen konnte. Nun ja, in gewisser Weise schon. Wir hörten nicht alle Noten, die Rossini geschrieben hat, aber immerhin annähernd alle. Wir sahen eine sorgfältig erarbeitete Darstellung der Titelheldin, die aber nicht wirklich aufregend war. Renée Fleming liebt offensichtlich ungewöhnliche Belcanto-Rollen – sie hat Maria Padilla, Il pirata und Armida in ihrem Repertoire – doch meiner Meinung nach ist ihre samtig weiche Stimme besser für spätere Opern geeignet, die technisch weniger anspruchsvoll sind. Als Louise war sie ausgesprochen entzückend, sie war eine großartige Rusalka, aber an diesem Punkt ihrer Karriere ist sie nicht mehr als eine rollendeckende Armida. Natürlich sieht sie wunderbar aus; sie ist eine schöne und elegante Frau. Aber ich hatte den Eindruck, dass der Dirigent Riccardo Frizza in ihrem Interesse die Tempi etwas schleppender nahm und dass sie zu vorsichtig ihre Kräfte einteilte und damit ihre Interpretation der emotionalen Spannung beraubte, die großer Belcanto-Gesang erzeugen kann.
Die 6 Tenöre dagegen waren ausgezeichnet: José Maria Zapata als Gernando wirkte etwas schwächer als die übrigen, und Lawrence Brownlee war der eigentliche Star der Aufführung. Das Terzett der drei Tenöre im letzten Akt war hinreißend, und Frizza, der hier sein Tempo nicht mehr Frau Flemings Wünschen anpassen musste, trieb das Orchester bis zum Siedepunkt der Begeisterung. Brownlees Stimme ist nicht groß, aber seine Töne klingen mühelos und rein, und seine Technik ist so fundiert, dass man ihn nur mit Flórez vergleichen kann.
Die Inszenierung der Armida war Mary Zimmermans dritter Versuch an der „Met“, und kein einziger war wirklich erfolgreich (eine schwache Lucia, eine scheußliche Sonnambula und nun diese Armida). Die „Met“ sollte sie besser nicht mehr einladen oder ihr eine Regieaufgabe außerhalb des Belcanto-Bereiches geben. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie den Opernstoff ernst nehmen sollte oder ob er parodistisch gedacht ist (beispielsweise wippte der Chor der Kreuzfahrer im 1. Akt mit den Zehen im Rhythmus der Musik ). Neben der glanzlosen Regie war die Choreographie des Balletts (Graciela Daniele) schrecklich und – wenn männliche Teufel in Tutus tanzen – eindeutig tuntig. Dies passte nicht zu romantischer Ballettmusik.

Armidas „herrliche“ Insel der Liebe war ein weißer ovaler Raum mit einer Kassettendecke und einer Riesenspinne, die an der Wand hing: Rossinis „Zauberoper“ hatte in dieser Produktion sehr wenig Magisches an sich. Die wundervolle „Verwandlungsmusik“ – wenn der angsteinflößende Wald zu einer wunderschönen Liebeslaube wird – machte hier keinen Sinn.
Kurz und gut: Eine strichlose Aufführung kann wunderbar sein, wenn die Darbietungen fesselnd sind und die 4 Stunden wie im Flug vergehen. Aber in einer langweiligen Aufführung wie dieser am 4. Mai können alle Rezitative und Wiederholungen lang werden. Als der 3. Akt begann, war das Publikum in einem vorher fast vollen Haus um ein Viertel geschrumpft. Pech für die Besucher, die früher gingen, dass sie das tolle Terzett der Tenöre, den Höhepunkt dieses Abends, verpassten.

Armida wird auch in der nächsten Spielzeit wieder im Repertoire der „Met“ zu finden sein, und außerdem wird es eine Neuinszenierung des Comte Ory mit Juan Diego Flórez geben. Es wird eine Freude sein, Brownlee und Flórez so kurz nacheinander zu hören!

Charles Jernigan
(Übersetzung aus dem Amerikanischen von Walter K. Wiertz)

8. Juni 2010

G. F. Händels Oper "Orlando" in Halle

Das Opernhaus in Halle

Hand aufs Herz: Wie oft haben Sie in der Oper erlebt, dass ein Akteur zusammen mit vier Begleitern "in den Lüften" entschwunden ist? Oder, noch besser, dass gleich zwei Hauptpersonen auf einem Wagen zum Erstaunen des Publikums  davonflogen? Oder, dass ein Vogel mit Genien himmelwärts strebte? 

Händel wollte es so. Das Original-Libretto seiner Oper "Orlando", 1733 in London uraufgeführt, sieht nämlich vor:

2. Akt, 10. Szene, Angelica auf der Flucht verfolgt von Orlando:
"Angelica flieht, Orlando folgt ihr; eine große Wolke legt sich über die Sonne und verbirgt Angelica. Von vier Genien begleitet, entschwebt sie in die Lüfte."

Und weiter: 
2. Akt, 11. Szene:
"Er eilt wütend in die Grotte; sie explodiert, man sieht den Magier auf seinem Wagen in die Lüfte entweichen; er hält Orlando in seinen Armen."

Schließlich in der "Sinfonia" gegen Ende:
"Vier Genien begleiten einen Adler durch die Luft, der eine goldene Vase im Schnabel trägt."

Vielleicht ahnen Sie es: Derlei gab es in Halle nicht zu erleben, auch nicht die vielen stummen Genien, die Liebe in Gestalt eines Knaben auf einem Thron oder Atlas mit dem Himmel auf seinen Schultern. Hätte man es dem Publikum geboten, wäre doch vieles infolge mangelnder Kenntnis der barocken, auf die Antike zurückgehenden Symbolik, dem heutigen Theaterbesucher fremd geblieben. Dennoch ist die Absicht des Theatermannes Händel klar: Deutliche, unvergessliche Tableaus sollen den Eindruck der Musik verstärken. 

Und welche Bilder begleiten den Liebeswahn des rasenden Rolands auf der Hallenser Bühne? Der Titel des Beitrags im Programmheft "Menschen-Bilder und Denk-Landschaften" von Susanne Holfter zeigt es: 


Die Inszenierung Nicola Hümpels verzichtet auf eine eindeutige szenische Umsetzung der Zauberhandlung, sondern betont den Kammerspielcharakter des Geschehens und möchte dem Betrachter gleichzeitig mittels der eingeblendeten Texte von Nietzsche, Kant, den Beatles und anderen sowie anhand von Videoeinblendungen Denkanstöße geben, und auf die Abgründe und Widersprüche in den Seelen der Menschen verweisen, welche  zwischen Liebe und Vernunft, Treue und Verlangen, Flucht und Verblendung schwanken. Die Drehbühne ist karg, weist nach oben eine bogenförmige Begrenzung auf und fällt nach vorn jäh ab. Grau, Silber, Creme und Blau sind die beherrschenden Farbtöne. Angelica trägt ein Gewand, das sich plötzlich entfaltet und ihr das Aussehen eines prächtigen großen Schmetterlings verleiht; für die Kostüme zeichnet Frauke Ritter verantwortlich. 


Hier und da leuchtet es rot - Strümpfe, Krawatte, Wollfäden, ein Fächer, über dem Schmetterlinge zu schweben scheinen, der Schriftzug A + M (Angelica und Medoro) im Hain der Liebenden. Effekte werden durch aufwallende Nebel erzeugt und bedrohlich roten Feuerschein im Hintergrund. Bögen wölben sich aus dem Boden hervor, ziehen sich zusammen, verändern ohne sichtbares Zutun ihre Gestalt und brechen mit Getöse am Ende zusammen. Angelica entschwebt nicht in die Lüfte, sondern verschwindet, von Orlando bereits tot geglaubt, durch das höllische Inferno irrend, in der Unterwelt, bevor sie am Ende durch die Kraft des Magiers belebt, wieder die Bühne betritt.

Die Opernmusik wurde vom Händelfestspielorchester Halle unter der Leitung von Bernhard Forck auf historischen Instrumenten dargeboten. Sie atmet den Geist und den Glanz des Barock und enthält sowohl die berühmten Wut-Arien des liebeskranken Ritters Orlando als auch "Lamento-Arien" wie die der Schäferin Dorinda, in welcher diese Zwiesprache mit einer Nachtigall hält und um den Verlust ihrer Liebe trauert. Hinzu kommen die sonor fließenden Gesänge des Magiers Zoroastro, eines Vorgängers von Mozarts Sarastro, der hier ebenfalls der Vernunft zum Siege verhilft. Am Ende heilt er Orlando von seinem Wahnsinn und erinnert ihn erfolgreich an seine Pflichten als kriegerischer Ritter.

Wie in der literarischen Vorlage, dem Epos "Orlando furioso" von Ludovico Ariost von 1522, tauchen in der Händel-Oper die chinesische Prinzessin Angelica auf sowie ihr heidnischer Liebhaber, der einfache Soldat Medoro, der schon im Libretto als recht tumb gezeichnet wird, ein Eindruck, den die Inszenierung verstärkt: Medoro agiert unbeholfen und scheint das Geschehen um ihn herum nicht so recht zu begreifen. Anders die Schäferin Dorinda: Ihr billigt das Libretto zu, dass sie ganz ohne Zauber zur Vernunft kommt und auf Medoro verzichten will. Aber damit sie am Ende beteuern kann, "jeder Schmerz sei vergessen", lässt die Regie sie sich zuvor ebenfalls mit dem Zaubertrank, der schon Orlando geheilt hat, übergießen.

Das Publikum wurde mit einem homogenen Orchesterklang und herrlichen Stimmen verwöhnt. Der Countertenor Owen Williams überzeugte in der Titelrolle, ihm zur Seite stand Marie Friederike Schöder als Angelica mit hellem, vibratoarmem Sopran. Von berückender Schönheit war die Stimme von Sophie Klußmann als Dorinda, zu Recht wurde sie vom Publikum beim Schlussapplaus gefeiert. Dmitry Egorov, ebenfalls Countertenor, sang gut aufgelegt und sicher den Medoro, in der Rolle als Zoroastro gefiel Christoph Stegemanns warmer Bass.


Besonders zu Beginn überzeugten außerdem die ständig auf der Bühne präsenten "Performer" von "Nico and the Navigators" Miyoko Urayama und Patrick Schott bei ihrer pantomimisch-tänzerischen Darstellung des Konflikts zwischen Mars, dem Kriegsgott und Amor, der Liebe. Sie erinnerten an die Formensprache eines Tomaz Pandur in seiner Inszenierung der Divina Commedia nach Dante bei den Theaterformen in Braunschweig 1995. Die Spannung lässt aber nach, wenn, wie hier durch eine parallel laufende Performance die Oper zeitweilig den Charakter einer Commedia dell`arte erhält. Das ist dem Orlando-Stoff angemessen, der durchaus komische Seiten hat, wird der Händel-Oper in ihrer Eindringlichkeit aber nicht immer gerecht. 

Fazit: Kein Vollblut-Theater ausschließlich mit Ensemble-Kräften, sondern ein Experiment, das in dieser Form allerdings schon früher bei Händel-Festspielen erfolgreich ausprobiert wurde. Eine nachdenklich stimmende zurückhaltende, jedoch stilsichere Inszenierung, die einen neuen Zugang zur alten Zauberoper sucht. Musikalisch ist die herrliche Oper ohne Einschränkungen zu loben und die schöne Stadt Halle verdient auf jeden Fall einen Besuch. 
Besuchte Aufführung am 6. Juni 2010. Weitere Aufführung am 11. Juni 19 Uhr.

Astrid Fricke

3. Juni 2010

Freie Opernvideos auf Classicaltv

Das Angebot auf Classicaltv.com umfasst derzeit über 250 Videos aus den Bereichen Klassische Musik, Oper, Tanz, Jazz und mehr. Das Anschauen dieser Videos kostet zwischen 5 und 10$ für 72 Stunden.

Es werden jedoch auch freie Videos angeboten; im Opernbereich ca. 20 Gesamtaufnahmen, dazu Sängerportraits.

Hier haben Sie z. B. Zugang zu zwei Gluck-Opern:
"Orphee et Eurydiceund "Alceste"

(Die unteren Bildschirmfotos haben keine Links)