14. Juni 2010

"Armida" live an der Met – und nicht in HD

Viele Rossini-Fans werden die „Live in HD“-Übertragung der Armida aus der Metropolitan Opera in New York am 1. Mai gesehen haben. Natürlich ist eine Opernausstrahlung im Kino etwas anderes (nicht automatisch minderwertig!) als das Live-Erlebnis eines Theaterbesuchs. Bei einer Übertragung ist die Kamera auf Nahaufnahmen fokussiert, und das Publikum sieht nur das, was der Fernsehregisseur ihm zeigen will. Außerdem kann man auf diesem Weg nur schwer das Stimmpotential eines Sängers einschätzen. Sitzt man hingegen im Theater, kann man die ganze Bühne einsehen – ob das immer ein Vorteil ist, sei dahingestellt! Der folgende Bericht handelt jedenfalls vom Besuch der Aufführung am 4. Mai 2010.

Wenn man die Tatsachen außer Acht lässt, dass die Armida nicht gerade aufregend, die Bühnenbilder hässlich, die Regie kaum spürbar, das Opernhaus für diese Oper zu groß, das Ballett schrecklich und die Tempi des Dirigenten zu langsam waren – ja dann war diese Produktion ganz gut. Positiv anzumerken ist, dass die Oper ungekürzt präsentiert wurde und dass die „Met“ 6 Tenöre aufbot, von denen zumindest 5 ausgezeichnet waren, und dann bleibt noch das unbe-streitbare Positivum, dass Amerikas berühmtestes Opernhaus dieses Werk überhaupt auf den Spielplan setzte.
Dies geschah natürlich vor allem deshalb, weil Renée Fleming, derzeit wohl die regierende Operndiva der „Met“, die Armida noch einmal singen wollte, nachdem sie sich 1992 in Pesaro als junge, unbekannte Sängerin an dieser Partie mit Erfolg versucht hatte. Viele von uns erinnern sich noch an jene phantastischen Aufführungen, als die Fleming für die Antonacci einsprang, die die Rolle zurückgegeben hatte. Nicht nur wir fragten uns, ob sie fast 20 Jahre und viele nicht-belcanteske Rollen später diese Partie noch singen konnte. Nun ja, in gewisser Weise schon. Wir hörten nicht alle Noten, die Rossini geschrieben hat, aber immerhin annähernd alle. Wir sahen eine sorgfältig erarbeitete Darstellung der Titelheldin, die aber nicht wirklich aufregend war. Renée Fleming liebt offensichtlich ungewöhnliche Belcanto-Rollen – sie hat Maria Padilla, Il pirata und Armida in ihrem Repertoire – doch meiner Meinung nach ist ihre samtig weiche Stimme besser für spätere Opern geeignet, die technisch weniger anspruchsvoll sind. Als Louise war sie ausgesprochen entzückend, sie war eine großartige Rusalka, aber an diesem Punkt ihrer Karriere ist sie nicht mehr als eine rollendeckende Armida. Natürlich sieht sie wunderbar aus; sie ist eine schöne und elegante Frau. Aber ich hatte den Eindruck, dass der Dirigent Riccardo Frizza in ihrem Interesse die Tempi etwas schleppender nahm und dass sie zu vorsichtig ihre Kräfte einteilte und damit ihre Interpretation der emotionalen Spannung beraubte, die großer Belcanto-Gesang erzeugen kann.
Die 6 Tenöre dagegen waren ausgezeichnet: José Maria Zapata als Gernando wirkte etwas schwächer als die übrigen, und Lawrence Brownlee war der eigentliche Star der Aufführung. Das Terzett der drei Tenöre im letzten Akt war hinreißend, und Frizza, der hier sein Tempo nicht mehr Frau Flemings Wünschen anpassen musste, trieb das Orchester bis zum Siedepunkt der Begeisterung. Brownlees Stimme ist nicht groß, aber seine Töne klingen mühelos und rein, und seine Technik ist so fundiert, dass man ihn nur mit Flórez vergleichen kann.
Die Inszenierung der Armida war Mary Zimmermans dritter Versuch an der „Met“, und kein einziger war wirklich erfolgreich (eine schwache Lucia, eine scheußliche Sonnambula und nun diese Armida). Die „Met“ sollte sie besser nicht mehr einladen oder ihr eine Regieaufgabe außerhalb des Belcanto-Bereiches geben. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie den Opernstoff ernst nehmen sollte oder ob er parodistisch gedacht ist (beispielsweise wippte der Chor der Kreuzfahrer im 1. Akt mit den Zehen im Rhythmus der Musik ). Neben der glanzlosen Regie war die Choreographie des Balletts (Graciela Daniele) schrecklich und – wenn männliche Teufel in Tutus tanzen – eindeutig tuntig. Dies passte nicht zu romantischer Ballettmusik.

Armidas „herrliche“ Insel der Liebe war ein weißer ovaler Raum mit einer Kassettendecke und einer Riesenspinne, die an der Wand hing: Rossinis „Zauberoper“ hatte in dieser Produktion sehr wenig Magisches an sich. Die wundervolle „Verwandlungsmusik“ – wenn der angsteinflößende Wald zu einer wunderschönen Liebeslaube wird – machte hier keinen Sinn.
Kurz und gut: Eine strichlose Aufführung kann wunderbar sein, wenn die Darbietungen fesselnd sind und die 4 Stunden wie im Flug vergehen. Aber in einer langweiligen Aufführung wie dieser am 4. Mai können alle Rezitative und Wiederholungen lang werden. Als der 3. Akt begann, war das Publikum in einem vorher fast vollen Haus um ein Viertel geschrumpft. Pech für die Besucher, die früher gingen, dass sie das tolle Terzett der Tenöre, den Höhepunkt dieses Abends, verpassten.

Armida wird auch in der nächsten Spielzeit wieder im Repertoire der „Met“ zu finden sein, und außerdem wird es eine Neuinszenierung des Comte Ory mit Juan Diego Flórez geben. Es wird eine Freude sein, Brownlee und Flórez so kurz nacheinander zu hören!

Charles Jernigan
(Übersetzung aus dem Amerikanischen von Walter K. Wiertz)

1 Kommentar:

  1. Gute Kritik und Abrechnung mit Peter Gelbs "neuer Met" (die Alten sollen zu Hause bleiben!)

    Dieter aus frankfurt

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