8. Juni 2010

G. F. Händels Oper "Orlando" in Halle

Das Opernhaus in Halle

Hand aufs Herz: Wie oft haben Sie in der Oper erlebt, dass ein Akteur zusammen mit vier Begleitern "in den Lüften" entschwunden ist? Oder, noch besser, dass gleich zwei Hauptpersonen auf einem Wagen zum Erstaunen des Publikums  davonflogen? Oder, dass ein Vogel mit Genien himmelwärts strebte? 

Händel wollte es so. Das Original-Libretto seiner Oper "Orlando", 1733 in London uraufgeführt, sieht nämlich vor:

2. Akt, 10. Szene, Angelica auf der Flucht verfolgt von Orlando:
"Angelica flieht, Orlando folgt ihr; eine große Wolke legt sich über die Sonne und verbirgt Angelica. Von vier Genien begleitet, entschwebt sie in die Lüfte."

Und weiter: 
2. Akt, 11. Szene:
"Er eilt wütend in die Grotte; sie explodiert, man sieht den Magier auf seinem Wagen in die Lüfte entweichen; er hält Orlando in seinen Armen."

Schließlich in der "Sinfonia" gegen Ende:
"Vier Genien begleiten einen Adler durch die Luft, der eine goldene Vase im Schnabel trägt."

Vielleicht ahnen Sie es: Derlei gab es in Halle nicht zu erleben, auch nicht die vielen stummen Genien, die Liebe in Gestalt eines Knaben auf einem Thron oder Atlas mit dem Himmel auf seinen Schultern. Hätte man es dem Publikum geboten, wäre doch vieles infolge mangelnder Kenntnis der barocken, auf die Antike zurückgehenden Symbolik, dem heutigen Theaterbesucher fremd geblieben. Dennoch ist die Absicht des Theatermannes Händel klar: Deutliche, unvergessliche Tableaus sollen den Eindruck der Musik verstärken. 

Und welche Bilder begleiten den Liebeswahn des rasenden Rolands auf der Hallenser Bühne? Der Titel des Beitrags im Programmheft "Menschen-Bilder und Denk-Landschaften" von Susanne Holfter zeigt es: 


Die Inszenierung Nicola Hümpels verzichtet auf eine eindeutige szenische Umsetzung der Zauberhandlung, sondern betont den Kammerspielcharakter des Geschehens und möchte dem Betrachter gleichzeitig mittels der eingeblendeten Texte von Nietzsche, Kant, den Beatles und anderen sowie anhand von Videoeinblendungen Denkanstöße geben, und auf die Abgründe und Widersprüche in den Seelen der Menschen verweisen, welche  zwischen Liebe und Vernunft, Treue und Verlangen, Flucht und Verblendung schwanken. Die Drehbühne ist karg, weist nach oben eine bogenförmige Begrenzung auf und fällt nach vorn jäh ab. Grau, Silber, Creme und Blau sind die beherrschenden Farbtöne. Angelica trägt ein Gewand, das sich plötzlich entfaltet und ihr das Aussehen eines prächtigen großen Schmetterlings verleiht; für die Kostüme zeichnet Frauke Ritter verantwortlich. 


Hier und da leuchtet es rot - Strümpfe, Krawatte, Wollfäden, ein Fächer, über dem Schmetterlinge zu schweben scheinen, der Schriftzug A + M (Angelica und Medoro) im Hain der Liebenden. Effekte werden durch aufwallende Nebel erzeugt und bedrohlich roten Feuerschein im Hintergrund. Bögen wölben sich aus dem Boden hervor, ziehen sich zusammen, verändern ohne sichtbares Zutun ihre Gestalt und brechen mit Getöse am Ende zusammen. Angelica entschwebt nicht in die Lüfte, sondern verschwindet, von Orlando bereits tot geglaubt, durch das höllische Inferno irrend, in der Unterwelt, bevor sie am Ende durch die Kraft des Magiers belebt, wieder die Bühne betritt.

Die Opernmusik wurde vom Händelfestspielorchester Halle unter der Leitung von Bernhard Forck auf historischen Instrumenten dargeboten. Sie atmet den Geist und den Glanz des Barock und enthält sowohl die berühmten Wut-Arien des liebeskranken Ritters Orlando als auch "Lamento-Arien" wie die der Schäferin Dorinda, in welcher diese Zwiesprache mit einer Nachtigall hält und um den Verlust ihrer Liebe trauert. Hinzu kommen die sonor fließenden Gesänge des Magiers Zoroastro, eines Vorgängers von Mozarts Sarastro, der hier ebenfalls der Vernunft zum Siege verhilft. Am Ende heilt er Orlando von seinem Wahnsinn und erinnert ihn erfolgreich an seine Pflichten als kriegerischer Ritter.

Wie in der literarischen Vorlage, dem Epos "Orlando furioso" von Ludovico Ariost von 1522, tauchen in der Händel-Oper die chinesische Prinzessin Angelica auf sowie ihr heidnischer Liebhaber, der einfache Soldat Medoro, der schon im Libretto als recht tumb gezeichnet wird, ein Eindruck, den die Inszenierung verstärkt: Medoro agiert unbeholfen und scheint das Geschehen um ihn herum nicht so recht zu begreifen. Anders die Schäferin Dorinda: Ihr billigt das Libretto zu, dass sie ganz ohne Zauber zur Vernunft kommt und auf Medoro verzichten will. Aber damit sie am Ende beteuern kann, "jeder Schmerz sei vergessen", lässt die Regie sie sich zuvor ebenfalls mit dem Zaubertrank, der schon Orlando geheilt hat, übergießen.

Das Publikum wurde mit einem homogenen Orchesterklang und herrlichen Stimmen verwöhnt. Der Countertenor Owen Williams überzeugte in der Titelrolle, ihm zur Seite stand Marie Friederike Schöder als Angelica mit hellem, vibratoarmem Sopran. Von berückender Schönheit war die Stimme von Sophie Klußmann als Dorinda, zu Recht wurde sie vom Publikum beim Schlussapplaus gefeiert. Dmitry Egorov, ebenfalls Countertenor, sang gut aufgelegt und sicher den Medoro, in der Rolle als Zoroastro gefiel Christoph Stegemanns warmer Bass.


Besonders zu Beginn überzeugten außerdem die ständig auf der Bühne präsenten "Performer" von "Nico and the Navigators" Miyoko Urayama und Patrick Schott bei ihrer pantomimisch-tänzerischen Darstellung des Konflikts zwischen Mars, dem Kriegsgott und Amor, der Liebe. Sie erinnerten an die Formensprache eines Tomaz Pandur in seiner Inszenierung der Divina Commedia nach Dante bei den Theaterformen in Braunschweig 1995. Die Spannung lässt aber nach, wenn, wie hier durch eine parallel laufende Performance die Oper zeitweilig den Charakter einer Commedia dell`arte erhält. Das ist dem Orlando-Stoff angemessen, der durchaus komische Seiten hat, wird der Händel-Oper in ihrer Eindringlichkeit aber nicht immer gerecht. 

Fazit: Kein Vollblut-Theater ausschließlich mit Ensemble-Kräften, sondern ein Experiment, das in dieser Form allerdings schon früher bei Händel-Festspielen erfolgreich ausprobiert wurde. Eine nachdenklich stimmende zurückhaltende, jedoch stilsichere Inszenierung, die einen neuen Zugang zur alten Zauberoper sucht. Musikalisch ist die herrliche Oper ohne Einschränkungen zu loben und die schöne Stadt Halle verdient auf jeden Fall einen Besuch. 
Besuchte Aufführung am 6. Juni 2010. Weitere Aufführung am 11. Juni 19 Uhr.

Astrid Fricke

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