1. März 2010

"Otello" in Lausanne

Rossinis Otello in der Inszenierung von Giancarlo del Monaco kam 2007 beim Rossini Opera Festival in Pesaro heraus und war eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin und der Opéra de Lausanne. Während die Deutschen bisher keine Anstalten machten, das Werk auf ihren Spielplan zu setzen, haben die Schweizer nun ihre Pflicht erfüllt, wodurch man hierzulande Rossinis Meisterwerk nur eine Saison nach Biel/Solothurn erneut erleben durfte. Reduzierte die Bieler Produktion Rossinis Behandlung des Stoffes auf eine ironisierende metatheatralische Inszenierung, nahm Del Monaco die Handlung ernst (wenn auch mehr aus Shakespeares denn aus Rossinis Sicht) und verlieh ihr mit der metaphysischen Vermehrfachung des unheimlichen Jagos das Pathos einer Gruselnovelle[1].

René Magritte: La victoire Quelle

Die unendliche Weite des surrealen Meeres Magrittescher Inspiration, konzipiert für die breite Bühne der Pesareser Adriatic Arena, wirkte etwas eingezwängt auf der Szene der Salle Métropole, die nunmehr schon seit drei Spielzeiten als Ersatz für die in Renovation befindliche Opéra dient. Der Saal bietet simple Holzstühle mit dünnen Sitzkissen, dafür eine großzügige Reihenanordnung mit viel Beinfreiheit, und ist auch sonst ganz angenehm (von den surrende Scheinwerferkühlungen abgesehen) und beim Publikum beliebt, so dass auch diese letzte von vier Aufführungen vom 28. Februar 2010 vor vollen Rängen stattfinden konnte.



Foto Opéra de Lausanne / Marc Vanappelghem

Bot die Inszenierung keine Überraschung mehr, so durfte der Besetzung umso größeres Interesse entgegengebracht werden. Das gilt auch für die Primadonnenrolle der Desdemona, die als einzige aus der Pesareser Erstaufführung übrig geblieben ist. War es der etwas kleinere Saal, der ihr mehr Rückhalt bot, oder ist die Stimme und die Persönlichkeit von Olga Peretyatko seither gereift? Auf jeden Fall schienen die dramatischen Attacken im Terzett und in der Arie im zweiten Akt weniger fragil als noch vor zwei Jahren. Und die größere dramatische Wucht ging keineswegs auf Kosten ihrer lyrischen Innigkeit, die sie an den anderen Stellen der Rolle verlieh. Mit einem Wort: die junge Russin näherte sich dem Ideal einer Colbran-Rolle, und ich könnte sie mir jetzt gut als Elcìa oder als Elena vorstellen.

Gespannt war man auf John Osborn, der als große Rossini-Hoffnung gehandelt wird und übernächstes Jahr den Arnold in Pesaro singen soll (wie schon vor zwei Jahren konzertant in Rom). Obwohl kein eigentlicher Baritenor, eignet sich sein Timbre gut für die Nozzari-Rolle des Otello, vor allem dann, wenn sich dieses so gut von einer hellen und leichten Stimme wie derjenigen von Mironov abgrenzt. Auffallend war aber, wie vorsichtig und bedacht der Amerikaner die Rolle anging, so dass er beinahe träge wirkte, einschließlich der Koloraturen, die nicht mit natürlicher Leichtigkeit aus seiner Kehle kamen. Osborn war ein zuverlässiger und sicherer, aber kein leidenschaftlicher Otello, und sein Monolog im dritten Akt weckte keine großen Emotionen – kein Vergleich zu der charismatischen Rollengestaltung eines alten Kämpen wie Gregory Kunde. Auf einem ähnlichen Niveau bewegte sich der andere tenorale Hoffnungsträger, Maxim Mironov, der mit schöner und gut geführter (manchmal an Matteuzzi gemahnenden) Stimme einen etwas kühlen Rodrigo abgab – es fehlt der Stimme an einem berührenden Schmelz und seiner Gestaltung an jener Dreistigkeit, die die Rolle erst über ihre relative Belanglosigkeit hinaustragen kann. Erstaunlich war hingegen das Auftreten von Shi Yijie, den ich im letzten Sommer in Pesaro für die anspruchsvolle Hauptrolle des Comte Ory völlig unausgereift fand, und der aber in der bedeutend weniger fordernden Charakterrolle des Jago zeigte, dass er zu berechtigten Hoffnungen Anlass gibt, sofern ihm eine vernünftige Entwicklung gegönnt wird. Total überzeugend war auch Giovanni Furlanetto, der dem Elmiro nicht nur die nötige Basstiefe verlieh, sondern auch die Gestaltung eines Vaters, der neben seinem von Eigennutz und Stolz geprägten Machtgebaren auch Gewissensbisse erkennen lässt. Die Emilia der Isabelle Henriquez überzeugte mich dagegen nicht, dafür hätte ich mir eine lyrischere und wärmere Stimme gewünscht. Mit Sébastien Eysette aus dem Chor der Oper Lausanne war die Nebennebenrolle des Lucio angenehm besetzt, und ebenso hätte man sich den Dogen an Stelle des ausgesungenen Rémy Corazzo gewünscht. Der Gondoliere wurde von Yijie gesungen, und auch von einem der Jago-Komparsen gemimt, was diesem die „moralische Atmosphäre“ bildenden Geniestreichs Rossinis jenes Imaginär-Surreale verlieh, das Jagos Präsenz in dieser Inszenierung in Desdemonas Wahrnehmung auch sonst prägt.

Das Dirigat unter Corrado Rovaris war weniger transparent in der orchestralen Raffinesse als bei Palumbo in Pesaro, dafür aber auch bedeutend schwungvoller in den Rezitativen. Chor und Orchester leisteten saubere Arbeit. Die ganze ungekürzte Aufführung dauerte 3¼ Stunden (mit Pause) und mithin länger als der zusammengestrichene Nürnberger Moïse – offenbar haben die Romands trotz harter Stühle das bessere Sitzfleisch als die Franken.

Ausgezeichnet war übrigens die französische Übertitelung, nicht nur wegen der gelungenen (leider anonymen) Übersetzung, sondern auch wegen der mit der Musik und dem Bühnengeschehen klug abgestimmten Textdarstellung.

Reto Müller (Besuchte Aufführung 28. Februar 2010)
(Vorabdruck aus «Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft Nr. 50, April 2010)


[1] Aus meiner Besprechung von 2007 («Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft Nr. 42, September 2007): Ein raffiniertes Spiel mit neun beweglichen Türrahmen schuf immer neue Situationen und Räume innerhalb der schicksalhaften Weite eines blau in blau mit dem Himmel verschmelzenden Ozeans, dessen in sich ruhende konstante Wellenbewegung ganz der ondulierenden Musik Desdemonas entsprach (freilich schien Del Monaco in dieser ganzen Konzeption den Chor vergessen zu haben: so ließ er ihn dann von Fall zu Fall, ganz in rot eingekleidet, auf einem versenkbaren Balkon auftreten). Evozierte dieses Bild keinen direkten Bezug zu Venedig, so taten es die Kostüme, welche gut die Patrizierzeit der Adriarepublik darstellten: Das Bühnenbild und die Kostüme verschmolzen zu einem Ganzen, das der Musik und dem Libretto entsprach. Neun Jago-Mimen fungierten als unheimliche Kulissenschieber und die Szene im letzten Akt, wo zwei Jago-Typen einen Türrahmen zum Sarg Desdemonas umfunktionierten, schien einer Schauergeschichte aus Les milles et un fantômes von Alexandre Dumas entnommen zu sein. Die Personenführung war akkurat, manchmal etwas manieriert und nicht immer ganz stimmig mit den Charakteren: der schicksalhaften Todesahnung, die Desdemona von Anfang an lähmt, schien mir Del Monaco mit der mädchenhaften Verspieltheit der Rollenzeichnung nicht gerecht zu werden; durch die unbedarfte Hochstilisierung Jagos als Verrätertyp und seines Briefes als Mittel zum Zweck beschränkte sich Del Monaco auf den Stoff von Shakespeare und Verdi, statt sich mit der eigentlich „Desdemona“ zu nennenden Oper von Rossini wirklich tiefgründig auseinanderzusetzen. Insgesamt aber eine in sich stimmige, gut gemeinte Inszenierung, die auf Provokationen verzichtete.

3 Kommentare:

  1. Vielen Dank für diese sensible und kenntnisreiche Besprechung des "Otello". Es zeigt sich, dass es sich manchmal lohnt, den Weg einer Inszenierung über einen gewissen Zeitraum zu verfolgen und auf Veränderungen in der Besetzung sowie auf Besonderheiten des neuen Aufführungsortes einzugehen. Deshalb ist es auch besonders erfreulich, dass der Rezensent seine frühere Besprechung der ursprünglich in Pesaro aufgeführten Inszenierung zum Vergleich beifügt. So wird schließlich auch ein neues Interesse für einzelne Sänger (z.B. Olga Peretyatko) und Interpreten wie John Osborn geweckt, und auch sonst gibt es Begegnungen mit herausragenden Sängern, welche vielen Rossini-Freunden aus früheren Aufführungen ebenfalls bekannt sind.
    Ein zurückhaltender Otello und gar ein "kühler" Rodrigo? Das ist allerdings ein Wermutstropfen bei diesem leidenschaftlichen Liebesdrama in der Oper....hatte hier Bad Wildbad etwa gar die Nase vorn?

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  2. "War es der etwas kleinere Saal, der ihr mehr Rückhalt bot, oder ist die Stimme und die Persönlichkeit von Olga Peretyatko seither gereift?"

    Metropole hat 400 Plätze mehr als Arena in Pesaro

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  3. Rossinis „Otello“ aus Lausanne (Aufführung vom 26. Februar 2010) demnächst im Schweizer Rundfunk!!!


    Sonnabend, 3. April, 19.30 Uhr - Espace 2 (RSR - Radio Suisse Romande)

    Sonntag, 25. April, 21.00 Uhr – DRS 2 (SR - Schweizer Radio)

    Beide Sender bieten im Internet einen Livestream.

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