Das Theater Biel Solothurn – es ist in dem deutsch-/französischsprachigen Städtchen Biel/Bienne am Jurasüdfuß ansässig, bespielt auch Solothurn und tourt regelmäßig durch einige Schweizer Kleinstädte – ist seit Jahren nicht nur ein Geheimtipp für Belcantofans, sondern auch eine Fluchtstätte für regiegeschädigte Opernliebhaber aus Basel, Luzern und anderen Orten, die mit sog. modernen Inszenierungen weite Kreise eines konventionsliebenden Publikums programmatisch fern halten. Die neuste Produktion, nichts Geringeres als Rossinis Otello, ist geneigt, die Belcantofans vollkommen zu befriedigen, die Inszenierung aber kritisch zu hinterfragen.
Regisseure brauchen ja angeblich immer einen „Schlüssel“ (Paul Esterhazy im Programmheft: „Ich suche bei jeder Inszenierung nach einem Schlüssel“) – es geht also nicht darum, das Stück einfach umzusetzen, wie es sich präsentiert, sondern eine Lesart zu finden, mit der diese Schöpfungsberufenen dem Stück ihren eigenen Stempel aufdrücken können. Was tun, wenn das Stück vermeintlich schwach ist? Man greift zu der abgenutzten Idee des „Theaters im Theater“, immer öfter nicht nur in der komischen sondern auch in der ernsten Oper, wo der Effekt dann umso drastischer ist. Unser Regisseur hat das Stück überhaupt nicht verstanden, weil er Shakespeare, Boito/Verdi und die englischen bzw. anglophilen Kritiker Byron und Stendhal zum Maßstab nimmt und mit den Konventionen von Rossinis Musiktheater scheinbar überhaupt nicht vertraut ist. So stellt er fälschlicherweise „das zentrale Thema Eifersucht“ und eine „seltsame Unbeholfenheit des Librettos“ fest. Esterhazy hat nicht realisiert, dass Rossini und Berio di Salsa das Grundmuster einer herkömmlichen Viererkonstellation mit einem festlichen Beginn (Ouvertüre) bis hin zum bitteren Ende als dramaturgisches Crescendo inszenieren, dessen Weg von den beiden ersten konventionellen Akten zum modernen dritten Akt Programm ist und wo die dramaturgische und musikalische Verbindung zwischen den Akten durch die eigentliche Hauptrolle, Desdemona, geschaffen wird, deren tragische Vorahnung ihres Schicksals im Zentrum steht. Statt diese spannende und eigentlich gar nicht so schwer zu erkennende Thematik als roten Faden aufzugreifen, zementiert Esterhazy alte Vorurteile einer „Unentschiedenheit zwischen Tragischem und Komödiantischem in Rossinis Musik“ und veräppelt das Stück mit metatheatralischen Gemeinplätzen.
Die Oper beginnt in Biel mit dem Finale: Kaum hat sich Otello umgebracht, ertönen Lautsprecheranweisungen, „Alles nochmals von vorne, wir tauschen jetzt die Tenorrollen zwischen Otello und Rodrigo aus“, und so beginnt die ganze Oper (selbstredend bei inszenierter Ouvertüre) von vorne als Probensituation des 1. und 2. Aktes, und nur der dritte Akt darf dann (als einziger „dramaturgisch schlüssig ausgearbeitet, sogar mit einer gewissen Nähe zu Shakespeare“) als richtige Inszenierung daher kommen. Während sich also der eine Tenor abschminkt und sich der andere schwarze Farbe ins Gesicht schmiert, räkelt sich die gelangweilte Sopranistin auf dem Bett und klopft sich der Sänger des Dogen bei jedem seiner fehlerhaften Auftritte auf die Stirn – wir fühlen uns dauernd an Donizettis Theaterulk Convenienze ed inconvenienze teatrali („Viva la mamma“) erinnert (der, nebenbei bemerkt, auch zwei Otello-Stücke parodiert) und nicht mehr an das exemplarische Meisterwerk, das Rossini selber in seiner tragischen Oper sah. Der vom Komponisten „musikalisch recht stiefmütterlich behandelte“ Jago bekommt endlich eine ihm würdige Aufgabe – er wird Regisseur! Ob der Intrigant, der alles um sich herum verleugnet, verrät und in den Abgrund reißt, auch als durchaus plausible Metapher des modernen Regisseurs gemeint war, bleibe hier dahingestellt.
Im Übrigen kennt Paul Esterhazy sein Handwerk (und nichts anderes verlangen wir von ihm!), wenn er gekonnte Auf- und Abtritte, eindrückliche Bilder (vor allem dort, wo er sich strikt – von ihm freilich ironisch gemeint – an konventionelle Gesten hält) und lebendige Chorbewegungen (Chapeau, auf der kleinen Bühne) schafft. Dazu kommt, dass ihm Pia Janssen „sozusagen eine ideale historische Operninszenierung“ (sie sagt es selbst!) mit klassischen Kostümen und herrlichen Bühnenbild-Versatzstücken schafft. Der ganze dritte Akt kommt in seiner, dem kleinen Theater angepassten schlichten und doch alle Illusionen weckenden Renaissance-Pracht so daher, wie man sich auch die ersten zwei gewünscht hätte! Ganz zum Schluss muss freilich der Regisseur nochmals seine Fratze zeigen, wenn – nachdem die ganze Oper ohne Darstellung roher Gewalt ausgekommen ist – nach Otellos Selbstmord ein Gondoliere hereinstürzt und mit einem Messer im blutüberströmten Rücken zusammenbricht.
Ach, und noch ein Genieblitz des Regisseurs darf nicht unerwähnt bleiben: Er bringt uns das ach so wichtige, unentbehrliche Taschentuch zurück, das dieser Ignorant von einem Berio di Salsa durch ein dümmliches Billett mit einer Haarlocke ersetzt hat, povero Shakespeare! Der Schatten von Otello (ein richtiger Schwarzer, ein älterer Herr mit charakteristischem Glatzkopf) schlurft immer wieder durch die Inszenierung und hebt das fatale Tuch mal vom Bühnenboden auf, mal legt er es wieder hin. Das stört nicht, ist aber auch nichts Weiteres als eine weitere überflüssige Duftnote des Regisseurs.
Meine Kritik zielt auf das Konzept, auf den „Schlüssel“ und auf die durchaus konventionell-bornierte Rossini-Rezeption, nicht so sehr auf die Umsetzung, die gegenüber etwa der im DRG-«Mitteilungsblatt» Nr. 46 besprochenen Baseball-Inszenierung in St. Moritz oder der Wiegandschen Türenknallerei in Weimar richtig genießbar ist. Dass die Inszenierung der Inszenierung im Heute spielte, war allenfalls an den Turnschuhen, dem Handy und der Blenderei durch Scheinwerfer zu bemerken, aber insgesamt wurde man kaum mit der ödesten aller Inszenierungsphantasien, der Gegenwart, konfrontiert. Freilich gab es auch Leute, denen das „Theater im Theater“ zu dumm war und die in der Pause gingen, oder solche, von denen man an der Garderobe hörte „schon lange nicht mehr so einen Blödsinn gesehen zu haben“, aber insgesamt kommt alles recht harmlos und durch die erwähnte großartige bühnen- und kostümbildnerische Leistung gemildert daher, so dass der musikalische Genuss nicht wirklich gestört wird.
Und der war ziemlich groß und für ein kleines Provinztheater alles andere als selbstverständlich. Violetta Radomirska (sie hatte ihr Rollendebüt als Desdemona bereits in St. Moritz) besitzt einen schön timbrierten und höhensicheren Mezzosopran, der sich in idealer Weise für die Sopranpartien eignet, die Rossini für Isabella Colbran geschrieben hat. Sie verfügt über die beseelte Mittellage, die dramatische Attacke und die Koloraturgewandtheit dieses ebenso dramatischen wie lyrischen Stimmtypus. Wenn sie als Figur insgesamt etwas blass blieb, lag das an der Inszenierung, die das Geschehen rossinifremd (siehe oben) auf die Tenöre fokussierte.
Raimund Wiederkehr spielte nicht nur die ihm auferlegte Rolle des nervenden Regisseurs überzeugend, er sang auch die Tenorpartie des Jago prächtig. William Lombardi, nicht immer perfekt intoniert und bei den Spitzentönen manchmal gefährlich am Abgrund, war insgesamt ein überzeugender Rodrigo, der seine Partie mit dem passenden Anstrich von leidendem Schmelz sang. Anders als es die Inszenierung suggerierte, sind die von Rossini für Giovanni David (Rodrigo) und Andrea Nozzari (Otello) komponierten Tenorrollen keineswegs einfach so austauschbar; Lombardi verfügt über jene helle, hoch liegende Tenorino-Stimme, die den so wichtigen Gegensatz zu dem dunkel gefärbten Baritenore schafft. Letzterer, unter dem Namen Oscar Roa, war die eigentliche Entdeckung des Abends. Aussehen, Attitüde, Stimmtimbre und Stimmführung des Mexikaners erinnern an seinen Landsmann Francisco Araiza, dessen Meisterklassen er besucht hat. Exponierte sich Araiza noch nicht in den schweren Nozzari-Partien (damals die Domäne von Chris Merritt), könnte sein Schüler Roa heute ein Hoffnungsträger für dieses weitgehend brach liegende Fach werden. Die Stimme ist etwas heller und vor allem nicht so nasal wie in gewissen Lagen bei Araiza. Roas Koloraturen scheinen nicht eine naturgegebene Gabe seiner Stimmbänder zu sein, aber sie zeugen von einer soliden Gesangsschule, die freilich gepflegt sein will, um nicht in der Sackgasse des romantischen Fachs zu landen. Auch die Stimmführung bezeugt einen höchst intelligenten, gepflegten Belcantostil. Während Lombardi im Tenorduell/duett mit seinem abenteuerlich angesungenen Spitzenton fast Schiffbruch erlitt, demonstrierte Roa einen zwar ebenfalls kühn angegangenen, aber perfekt und ausgesprochen lang ausgehaltenen Spitzenton, dem er die pièce de résistance einer jeden Nozzari-Partie folgen ließ, nämlich den atemberaubenden Doppeloktavsprung nach unten. Diese tiefe Baritonlage sollte er noch festigen, aber das Material und die technischen Voraussetzungen sind da für einen neuen Nozzari!
Weniger überzeugen konnte mich Ingrid Alexandre, die lauthals eine Emilia ohne große Differenzierung vortrug, was in ungefähr auch für Yongfan Chen-Hauser galt, der dem Elmiro freilich eine mächtige Bassstimme verlieh. Adäquat für ihre kurzen Auftritte waren die weiteren Tenöre Konstantin Nazlamov (Doge und Gondoliere, hier mit etwas viel Vibrato) und Valentin Vassilev (Lucio). Letzterer hat auch den vorzüglichen Chor einstudiert, der eine schöne, kompakte Klangfülle produzierte. Erstaunlich gut kam auch der auf den Bieler Orchestergraben reduzierte Klangkörper zur Geltung, u.a. mit noch perfektionierbaren „Hornkoloraturen“ in der Einleitung des Duettinos Desdemona-Emilia und mit berückend schönen Harfenklängen in der Weidenarie. Während der Ouvertüre schien mir das Dirigat von Franco Trinca ziemlich zäh und schwer, vielleicht hatte er die Absicht, der federnden, festlichen Musik einen dramatischen Anstrich zu verleihen. Im übrigen ließ er keine Langeweile aufkommen, die dramatischen Ensemblenummern waren von großer Wirkung, und zu den musikalischen Glanzpunkten gehörten das Duett Jago-Rodrigo, die beiden Largo-Stücke im Finale I und das große Duett-Terzett im zweiten Akt. Es gab Kürzungen, die einigermaßen subtil vorgenommen wurden und die Gesamtdauer der Oper (inkl. Pause) auf ca. 2 Stunden 50 Minuten brachten. Die Übertitel auf Deutsch und Französisch waren weitgehend exakt und sauber gemacht. Eine halbe Stunde vor Beginn gibt es jeweils eine Einführung der Dramaturgin Merle Fahrholz, die offenbar einem Bedürfnis des Publikums entspricht und dieses auch mit den wichtigsten, wenn auch nicht immer korrekten (und mehr oder weniger auf der Linie der Regie liegenden) Informationen bediente.
Weitere Aufführungen in Biel/Bienne: 31. März, 3, 7, 17. April, 3, 6. Mai, 5, 14, 18, 20, 21. Juni; in Solothurn: 15, 24. April, 20, 28, 30. Mai, 7, 12. Juni; in Winterthur: 29. April; in Burgdorf: 14. Mai; in Baden: 16. Mai; in Visp: 23. Mai; in Vevey: 9. Juni 2009.
Reto Müller (Besuchte Aufführung: Premiere vom 27. März 2009)
Vorabdruck aus «Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft, Nr. 47 (April 2009)
Fotos: Theater Biel Solothurn
Bei Youtube gibt es bereits eine ganze Reihe Videos mit Oscar Roa, - hier ein Beispiel:
Regisseure brauchen ja angeblich immer einen „Schlüssel“ (Paul Esterhazy im Programmheft: „Ich suche bei jeder Inszenierung nach einem Schlüssel“) – es geht also nicht darum, das Stück einfach umzusetzen, wie es sich präsentiert, sondern eine Lesart zu finden, mit der diese Schöpfungsberufenen dem Stück ihren eigenen Stempel aufdrücken können. Was tun, wenn das Stück vermeintlich schwach ist? Man greift zu der abgenutzten Idee des „Theaters im Theater“, immer öfter nicht nur in der komischen sondern auch in der ernsten Oper, wo der Effekt dann umso drastischer ist. Unser Regisseur hat das Stück überhaupt nicht verstanden, weil er Shakespeare, Boito/Verdi und die englischen bzw. anglophilen Kritiker Byron und Stendhal zum Maßstab nimmt und mit den Konventionen von Rossinis Musiktheater scheinbar überhaupt nicht vertraut ist. So stellt er fälschlicherweise „das zentrale Thema Eifersucht“ und eine „seltsame Unbeholfenheit des Librettos“ fest. Esterhazy hat nicht realisiert, dass Rossini und Berio di Salsa das Grundmuster einer herkömmlichen Viererkonstellation mit einem festlichen Beginn (Ouvertüre) bis hin zum bitteren Ende als dramaturgisches Crescendo inszenieren, dessen Weg von den beiden ersten konventionellen Akten zum modernen dritten Akt Programm ist und wo die dramaturgische und musikalische Verbindung zwischen den Akten durch die eigentliche Hauptrolle, Desdemona, geschaffen wird, deren tragische Vorahnung ihres Schicksals im Zentrum steht. Statt diese spannende und eigentlich gar nicht so schwer zu erkennende Thematik als roten Faden aufzugreifen, zementiert Esterhazy alte Vorurteile einer „Unentschiedenheit zwischen Tragischem und Komödiantischem in Rossinis Musik“ und veräppelt das Stück mit metatheatralischen Gemeinplätzen.
Die Oper beginnt in Biel mit dem Finale: Kaum hat sich Otello umgebracht, ertönen Lautsprecheranweisungen, „Alles nochmals von vorne, wir tauschen jetzt die Tenorrollen zwischen Otello und Rodrigo aus“, und so beginnt die ganze Oper (selbstredend bei inszenierter Ouvertüre) von vorne als Probensituation des 1. und 2. Aktes, und nur der dritte Akt darf dann (als einziger „dramaturgisch schlüssig ausgearbeitet, sogar mit einer gewissen Nähe zu Shakespeare“) als richtige Inszenierung daher kommen. Während sich also der eine Tenor abschminkt und sich der andere schwarze Farbe ins Gesicht schmiert, räkelt sich die gelangweilte Sopranistin auf dem Bett und klopft sich der Sänger des Dogen bei jedem seiner fehlerhaften Auftritte auf die Stirn – wir fühlen uns dauernd an Donizettis Theaterulk Convenienze ed inconvenienze teatrali („Viva la mamma“) erinnert (der, nebenbei bemerkt, auch zwei Otello-Stücke parodiert) und nicht mehr an das exemplarische Meisterwerk, das Rossini selber in seiner tragischen Oper sah. Der vom Komponisten „musikalisch recht stiefmütterlich behandelte“ Jago bekommt endlich eine ihm würdige Aufgabe – er wird Regisseur! Ob der Intrigant, der alles um sich herum verleugnet, verrät und in den Abgrund reißt, auch als durchaus plausible Metapher des modernen Regisseurs gemeint war, bleibe hier dahingestellt.
Im Übrigen kennt Paul Esterhazy sein Handwerk (und nichts anderes verlangen wir von ihm!), wenn er gekonnte Auf- und Abtritte, eindrückliche Bilder (vor allem dort, wo er sich strikt – von ihm freilich ironisch gemeint – an konventionelle Gesten hält) und lebendige Chorbewegungen (Chapeau, auf der kleinen Bühne) schafft. Dazu kommt, dass ihm Pia Janssen „sozusagen eine ideale historische Operninszenierung“ (sie sagt es selbst!) mit klassischen Kostümen und herrlichen Bühnenbild-Versatzstücken schafft. Der ganze dritte Akt kommt in seiner, dem kleinen Theater angepassten schlichten und doch alle Illusionen weckenden Renaissance-Pracht so daher, wie man sich auch die ersten zwei gewünscht hätte! Ganz zum Schluss muss freilich der Regisseur nochmals seine Fratze zeigen, wenn – nachdem die ganze Oper ohne Darstellung roher Gewalt ausgekommen ist – nach Otellos Selbstmord ein Gondoliere hereinstürzt und mit einem Messer im blutüberströmten Rücken zusammenbricht.
Ach, und noch ein Genieblitz des Regisseurs darf nicht unerwähnt bleiben: Er bringt uns das ach so wichtige, unentbehrliche Taschentuch zurück, das dieser Ignorant von einem Berio di Salsa durch ein dümmliches Billett mit einer Haarlocke ersetzt hat, povero Shakespeare! Der Schatten von Otello (ein richtiger Schwarzer, ein älterer Herr mit charakteristischem Glatzkopf) schlurft immer wieder durch die Inszenierung und hebt das fatale Tuch mal vom Bühnenboden auf, mal legt er es wieder hin. Das stört nicht, ist aber auch nichts Weiteres als eine weitere überflüssige Duftnote des Regisseurs.
Meine Kritik zielt auf das Konzept, auf den „Schlüssel“ und auf die durchaus konventionell-bornierte Rossini-Rezeption, nicht so sehr auf die Umsetzung, die gegenüber etwa der im DRG-«Mitteilungsblatt» Nr. 46 besprochenen Baseball-Inszenierung in St. Moritz oder der Wiegandschen Türenknallerei in Weimar richtig genießbar ist. Dass die Inszenierung der Inszenierung im Heute spielte, war allenfalls an den Turnschuhen, dem Handy und der Blenderei durch Scheinwerfer zu bemerken, aber insgesamt wurde man kaum mit der ödesten aller Inszenierungsphantasien, der Gegenwart, konfrontiert. Freilich gab es auch Leute, denen das „Theater im Theater“ zu dumm war und die in der Pause gingen, oder solche, von denen man an der Garderobe hörte „schon lange nicht mehr so einen Blödsinn gesehen zu haben“, aber insgesamt kommt alles recht harmlos und durch die erwähnte großartige bühnen- und kostümbildnerische Leistung gemildert daher, so dass der musikalische Genuss nicht wirklich gestört wird.
Und der war ziemlich groß und für ein kleines Provinztheater alles andere als selbstverständlich. Violetta Radomirska (sie hatte ihr Rollendebüt als Desdemona bereits in St. Moritz) besitzt einen schön timbrierten und höhensicheren Mezzosopran, der sich in idealer Weise für die Sopranpartien eignet, die Rossini für Isabella Colbran geschrieben hat. Sie verfügt über die beseelte Mittellage, die dramatische Attacke und die Koloraturgewandtheit dieses ebenso dramatischen wie lyrischen Stimmtypus. Wenn sie als Figur insgesamt etwas blass blieb, lag das an der Inszenierung, die das Geschehen rossinifremd (siehe oben) auf die Tenöre fokussierte.
Raimund Wiederkehr spielte nicht nur die ihm auferlegte Rolle des nervenden Regisseurs überzeugend, er sang auch die Tenorpartie des Jago prächtig. William Lombardi, nicht immer perfekt intoniert und bei den Spitzentönen manchmal gefährlich am Abgrund, war insgesamt ein überzeugender Rodrigo, der seine Partie mit dem passenden Anstrich von leidendem Schmelz sang. Anders als es die Inszenierung suggerierte, sind die von Rossini für Giovanni David (Rodrigo) und Andrea Nozzari (Otello) komponierten Tenorrollen keineswegs einfach so austauschbar; Lombardi verfügt über jene helle, hoch liegende Tenorino-Stimme, die den so wichtigen Gegensatz zu dem dunkel gefärbten Baritenore schafft. Letzterer, unter dem Namen Oscar Roa, war die eigentliche Entdeckung des Abends. Aussehen, Attitüde, Stimmtimbre und Stimmführung des Mexikaners erinnern an seinen Landsmann Francisco Araiza, dessen Meisterklassen er besucht hat. Exponierte sich Araiza noch nicht in den schweren Nozzari-Partien (damals die Domäne von Chris Merritt), könnte sein Schüler Roa heute ein Hoffnungsträger für dieses weitgehend brach liegende Fach werden. Die Stimme ist etwas heller und vor allem nicht so nasal wie in gewissen Lagen bei Araiza. Roas Koloraturen scheinen nicht eine naturgegebene Gabe seiner Stimmbänder zu sein, aber sie zeugen von einer soliden Gesangsschule, die freilich gepflegt sein will, um nicht in der Sackgasse des romantischen Fachs zu landen. Auch die Stimmführung bezeugt einen höchst intelligenten, gepflegten Belcantostil. Während Lombardi im Tenorduell/duett mit seinem abenteuerlich angesungenen Spitzenton fast Schiffbruch erlitt, demonstrierte Roa einen zwar ebenfalls kühn angegangenen, aber perfekt und ausgesprochen lang ausgehaltenen Spitzenton, dem er die pièce de résistance einer jeden Nozzari-Partie folgen ließ, nämlich den atemberaubenden Doppeloktavsprung nach unten. Diese tiefe Baritonlage sollte er noch festigen, aber das Material und die technischen Voraussetzungen sind da für einen neuen Nozzari!
Weniger überzeugen konnte mich Ingrid Alexandre, die lauthals eine Emilia ohne große Differenzierung vortrug, was in ungefähr auch für Yongfan Chen-Hauser galt, der dem Elmiro freilich eine mächtige Bassstimme verlieh. Adäquat für ihre kurzen Auftritte waren die weiteren Tenöre Konstantin Nazlamov (Doge und Gondoliere, hier mit etwas viel Vibrato) und Valentin Vassilev (Lucio). Letzterer hat auch den vorzüglichen Chor einstudiert, der eine schöne, kompakte Klangfülle produzierte. Erstaunlich gut kam auch der auf den Bieler Orchestergraben reduzierte Klangkörper zur Geltung, u.a. mit noch perfektionierbaren „Hornkoloraturen“ in der Einleitung des Duettinos Desdemona-Emilia und mit berückend schönen Harfenklängen in der Weidenarie. Während der Ouvertüre schien mir das Dirigat von Franco Trinca ziemlich zäh und schwer, vielleicht hatte er die Absicht, der federnden, festlichen Musik einen dramatischen Anstrich zu verleihen. Im übrigen ließ er keine Langeweile aufkommen, die dramatischen Ensemblenummern waren von großer Wirkung, und zu den musikalischen Glanzpunkten gehörten das Duett Jago-Rodrigo, die beiden Largo-Stücke im Finale I und das große Duett-Terzett im zweiten Akt. Es gab Kürzungen, die einigermaßen subtil vorgenommen wurden und die Gesamtdauer der Oper (inkl. Pause) auf ca. 2 Stunden 50 Minuten brachten. Die Übertitel auf Deutsch und Französisch waren weitgehend exakt und sauber gemacht. Eine halbe Stunde vor Beginn gibt es jeweils eine Einführung der Dramaturgin Merle Fahrholz, die offenbar einem Bedürfnis des Publikums entspricht und dieses auch mit den wichtigsten, wenn auch nicht immer korrekten (und mehr oder weniger auf der Linie der Regie liegenden) Informationen bediente.
Weitere Aufführungen in Biel/Bienne: 31. März, 3, 7, 17. April, 3, 6. Mai, 5, 14, 18, 20, 21. Juni; in Solothurn: 15, 24. April, 20, 28, 30. Mai, 7, 12. Juni; in Winterthur: 29. April; in Burgdorf: 14. Mai; in Baden: 16. Mai; in Visp: 23. Mai; in Vevey: 9. Juni 2009.
Reto Müller (Besuchte Aufführung: Premiere vom 27. März 2009)
Vorabdruck aus «Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft, Nr. 47 (April 2009)
Fotos: Theater Biel Solothurn
Bei Youtube gibt es bereits eine ganze Reihe Videos mit Oscar Roa, - hier ein Beispiel:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.