In seinen zwei letzten Spielzeiten am Züricher Opernhaus versucht Intendant Pereira noch einiges wettzumachen, was er Rossini schuldig geblieben war: denn außer der Semiramide zu Beginn seiner Ära bot er nur die komischen Repertoire-Opern des italienischen Rossini. Nun hat er mit Mosè in Egitto und den zwei letzten, französischen Opern, Le Comte Ory und Guillaume Tell, zu einem rossinischen Endspurt angesetzt. Erwies sich der Tell als Hohelied auf eine ironisch betrachtete Swissness und als Veräppelung Rossinis und der Grand-Opéra (erst recht, wenn man jetzt sieht, dass der Tannhäuser-Aufführung eine volle Stunde mehr an Spielzeit zugestanden wird), so konnte dieser Ory in musikalischer und philologischer Hinsicht auch die Rossinianer zufrieden stellen. Angekündigt wurde nämlich nichts weniger als die Erstaufführung der neuen Bärenreiterausgabe, die auf bislang nie berücksichtigten Aufführungsmaterialien der Pariser Uraufführung von 1828 basiert. Philip Gossett, der Leiter von „Works of Gioachino Rossini“, hat die wichtigsten Ergebnisse bereits in einem Artikel vorgestellt (vgl. «[t]akte», Das Bärenreiter-Magazin, 2|2010, S. 4-5 bzw. www.takte-online.de). Aufgefallen sind die zusätzlichen „Choryphées“ im Finale des ersten Aktes und die zusätzliche Passage im Finale des zweiten Aktes; aber auch die übrigen geöffneten Striche wurden in Zürich gespielt. Doch erst die Erläuterungen im Kommentar zu der kritischen Ausgabe werden ein Urteil darüber erlauben, ob die Rücknahme der ggf. vom Komponisten gewollten oder gutgeheißenen Veränderungen auch sinnvoll ist. Der Herausgeber der Ausgabe, Damien Colas, hat in seinem Programmheftbeitrag schon einmal interessante Ausführungen zum „Troubadour-Stil“ der Verse, zum „Esprit gaulois“ des Stoffes und zu den historischen Figurenbezügen in dem Livret von Scribe gemacht. Vom ausführlichen Vorwort der gedruckten Ausgabe darf man sodann Antworten auf weitere Fragestellungen erwarten: Wieso haben in Frankreich immer zwei Librettisten an einem Text zusammengearbeitet, und wie sah im konkreten Fall die Arbeitsteilung zwischen Scribe und Delestre-Poirson aus? Weshalb zeigte Rossini nie ein Interesse, für die Opéra-Comique zu schreiben, um stattdessen einen für dieses Theater prädestinierten Stoff auf der Bühne der Académie Royale de Musique (also der Opéra) zu etablieren, indem er ihn durch auskomponierte Rezitative (statt der Dialoge) den Gepflogenheiten dieser Bühne anpasste, aber auf die obligate Ballettmusik verzichten konnte? Wie war es möglich, dass ein solcher Stoff, den ein Operninspektor als „dermaßen unanständig“ geißelte, fast unbemerkt das ganze, sonst so strenge Annahmeverfahren umgehen konnte? Diente die unerwartete Beschäftigung mit diesem Stoff Rossini als eine weitere Art „Vorstudie“ für seine seit langem erwartete genuine, französische Oper? So meisterhaft die Umarbeitungen einzelner Stücke aus dem Viaggio a Reims sein mögen (einige davon gewinnen an Prägnanz, etwa die Arie des Don Profondo durch die Ergänzung des Chors für die „Weinarie“ des Raimbaud; andere verlieren sie eher, etwa die radikale Transformierung der Lord Sidney-Arie für den Gouverneur), so sind es doch die neu komponierten Stücke, die den Komponisten auf der Höhe seines Schaffens zeigen. Mit dem Duett Isolier-Ory adaptierte er perfekt das herrliche Modell aus Boieldieus La dame blanche, beeinflusste seinerseits Aubers Fra Diavolo und bildete eine Symbiose von französischer Leichtigkeit und italienischer Melodik, die bis hin zur Operette Offenbachs den französischen Stil prägte. Mit dem Frauenchor und der Gewitterszene im zweiten Akt schöpfte er die harmonischen und klangfarblichen Möglichkeiten seines Orchesters aus und schuf eine Vorlage, die von dem Frauenterzett im Tell kaum mehr übertroffen wird. Den Höhepunkt der Oper bildet aber das bezwingende Terzett, in dem Rossini zwischen Wollust und Frust seine letzte Synthese von Spaß und Ernst findet.
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Le Comte Ory, Finale 1. Akt
(c) Jef Rabillon / Opernhaus Zürich |
Die fast einhellig hochgelobte Regie löste in mir weder Begeisterung noch Ärger aus, sondern nur ein paar kritische Bemerkungen. In dem obligaten Programmheft-Interview machen die beiden Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier ein paar intelligente Bemerkungen, wie z.B.: „Dass es ein Stoff aus dem Mittelalter ist, heisst noch nicht, dass er für ein modernes Publikum uninteressant wäre“. Trotzdem suchten sie einen „Anlass, die Geschichte in unsere Generation zu überführen – in das Frankreich vor 1968, die Zeit vor der sexuellen Befreiung“. Es versteht sich von selbst, dass eine solche „Überführung“ für die Geschichte und für deren Verständnis überhaupt nichts bringt außer den üblichen Widersprüchen, die solche Transformationen meist zur Folge haben – beispielsweise die Unwahrscheinlichkeit einer in den 1960-er Jahren Zuflucht suchenden Nonnenkongregation: Man muss sich fragen, was das für eine Gräfin und Entourage ist, die in unserer Zeit auf so etwas hereinfällt. Gerade eine Komödie muss ja bei der Motivation der Handlungen glaubwürdig bleiben, sonst ergibt sich keine natürliche Situationskomik. (Leisher hält im Interview selber ein richtiges Plädoyer gegen „Theater im Theater“.) Dazu gehört z.B. auch, dass der Gouverneur, hier ein hoher Militärattaché, sich standesgemäß von seinem „Chauffeur“ Isolier vorfahren lässt, dann aber grundlos ohne diesen davon fährt (im Mittelalter kann er gut alleine weggehen, denn zu Fuß oder zu Pferd braucht er keinen Begleiter). Das mit Spannung erwartete Terzett war eine ziemlich plumpe Darstellung eines kopulierenden Ory; man schaue sich zum Vergleich die erotisch-sinnliche Umsetzung von Glyndebourne 1997 an; ich denke auch gerne an das subtile Schattenspiel in der Wildbader Inszenierung von 2002 zurück. Wenn man heutzutage durch die Fernsehprogramme zappt, wundert es freilich nicht, dass die Leute mit ein paar wedelnden Unterwäschestücken oder einer lasziv an die Hüfte gehaltenen Baguette zufrieden sind. Auch sonst kamen die Einfälle der beiden Herren nicht „hoch zwei“, sondern eher eindimensional daher: In Isoliers ständigem Griff zum Glimmstengel kann ich auf jeden Fall weder eine Personen- noch eine Zeitcharakterisierung erkennen, sondern nur abgeschmackte Einfallslosigkeit.
Das Bühnenbild von Christian Fenouillat war hübsch anzusehen, und der Prospekt mit dem verschlafenen Städtchen im ersten Akt erinnerte in seiner provinziellen Beschaulichkeit an den französischen Erfolgsfilm Bienvenue chez les Ch’tis. Nichts gegen die Kostüme von Agostino Cavalca, aber die Mode aus diesem bürgerlich-biederen Milieu mit ihrer an eine Altkleidersammlung gemahnende Ausstaffierung erinnert immer an Schüleraufführungen.
Da das Orchestra La Scintilla der Oper Zürich auf historischen Instrumenten spielt, stand zu befürchten, dass dem Werk die gewohnte Brillianz fehlen würde; ich fand aber, dass das Ensemble unter der Leitung von Muhai Tang spritzig spielte, und genoss den besonderen Klangcharakter, den vor allem einige Holzbläser entfalteten. Aufgefallen ist auch die Verwendung eines Schellenbaums im Schlagwerk, vor allem in der Introduktion.
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Le Comte Ory 2. Akt - Javier Camarena, Cecilia Bartoli
(c) Jef Rabillon / Opernhaus Zürich |
Alle sechs Aufführungen waren komplett ausverkauft. Es wäre illusorisch zu glauben, dass es dieser seltene Operntitel war, der so zugkräftig wirkte. Grund für den Hype war, dass La Bartoli wieder einmal ein Rollendebüt gab, und zwar in einer Oper desjenigen Komponisten, der ganz am Anfang ihrer Karriere gestanden hatte. Das war vor über 20 Jahren, damals noch als große Hoffnung im rossinischen Mezzofach. Für mich war Cecilia Bartoli schon als Clarice in La pietra del paragone 1988 in Catania eine echte Entdeckung. Kurz darauf schien sich mit der Lucilla in La scala di seta in Pesaro ein Aufstieg in den Olymp der dortigen Rossini-Sänger anzubahnen, zumal an der Mailänder Scala ihr Debüt im Comte Ory (freilich als Isolier) und in Zürich – exakt mit dem Beginn der Ära Pereira – Rosina und Cenerentola folgten. Ein herber Rückschlag für die Fans war ihre kurzfristige Absage bei dem großen Kantatenabend 1991 in Pesaro. Neue Hoffnungen weckte sie mit einer zweiten Rossini-CD, die dieses Mal aber ganz den Colbran-Rollen (und damit schon einen Schritt weg vom eigentlichen Mezzofach) gewidmet war. Das Gerücht einer Donna del lago in Zürich machte die Runden... stattdessen debütierte sie dort 2002 eher überraschend als Fiorilla im Turco in Italia. Seither hat sie sich zu einem veritablen Star entwickelt, und alles, was sie anpackte, tat sie mit großem Engagement und Charisma, ob es nun Mozart, das Repertoire der Malibran, die Erkundung des Barockfachs mit Vivaldi oder die Auseinandersetzung mit dem Kastratentum war. Ist die Comtesse ein ‚Back to the roots‘? Wohl kaum, vielmehr eine Art nicht unbedingt logische, aber doch plausible Entwicklung: mit der Marcolini zu starten und bei der Cinti zu landen, ist auf jeden Fall ein rossinischer Weg.
Bei aller Hochachtung vor der Person und der Künstlerin muss ich vorausschicken, dass mir ihre vokale Metamorphose nie besonders behagt hat. Auch heute höre ich noch mit unsäglichem Vergnügen ihre erste Rossini-CD, auf der sie ihr so betörendes Timbre auf die authentischste Weise verströmt, während ich ihre späteren, manchmal hypernervösen Sopranexploits eher strapaziös finde. Gespannt auf ihre Comtesse war ich dennoch. Mein spontaner Eindruck: La Bartoli hat sich eine Technik angeeignet, bei der sie es tunlichst vermeidet, ihre Spitzentöne unkontrolliert gehen zu lassen; sie macht ihre Stimme kleiner als sie ist. Während sie ihr enges Sarah-Palin-Outfit löste, blieb sie vokal in ihrem selbstverpassten Korsett stecken. Ihre „Bravourarie“ im ersten Akt geriet denn auch nicht zu einem Feuerwerk, sondern zu einer Glut, die schön zusammengehalten wurde. Die für sie perfekte Tessitur fand sie in der Introduktion des zweiten Aktes, wo sie in der Mittellage und in der Tiefe ihr typisches Timbre und ihre Farben spielen lassen konnte. Im übrigen drängte sie sich nicht in den Vordergrund, obwohl sie der Star des Abends war, und ließ ihrem Kollegen den wohlverdienten Platz als Titelheld, was sie als große Künstlerin ungemein ehrt.
Javier Camarena ist zweifellos ein hoffnungsvoller Rossini-Tenor. Leider fand ich seinen Auftritt etwas verschenkt. Als falscher und zudem noch blinder Eremit wollten die Regisseure mehr seine Lüsternheit hervorheben, statt dass er seinem Auftritt jene salbungsvolle Geste verleihen durfte, die die Situation so unheimlich komisch macht. Der Schmelz der Stimme wird durch eine leichte Belegung des Timbres beeinträchtigt. In stilistischer Hinsicht vermisste ich eine gewisse Raffinesse. Richtig gut gefiel er mir nur in den Koloraturpassagen in den Duetten mit Isolier und der Gräfin.
Rebeca Olvera brachte als Isolier viel Frische in die Aufführung, aber eigentlich ist ihre Stimme zu soubrettig für diese Mezzorolle. Obwohl dem Gouverneur die Typenkomik eines Dottor Bartolo oder eines Don Magnifico völlig abgeht, wusste Carlos Chausson auch allein mit seiner schönen Bassstimme zu überzeugen. Oliver Widmer verfügt nicht über große stimmliche Mittel und ist auch keine charismatische oder komödiantische Persönlichkeit. Sein Auftritt in der Introduktion geriet farblos (und verblasste bei den wenigen Worten der sonoren Bassstimme von Henri Bernard als „Un paysan“ in der Stretta erst recht), während er seine große Weinarie im zweiten Akt zumindest bei der Derniere sehr respektabel über die Bühne brachte. Ein solches Kabinettsstück fehlt der Rolle der Ragonde, in der Liliana Nikiteanu leider nur enttäuschte. Allerdings darf man nicht vergessen, dass auch das Opernhaus Zürich nur mit Wasser kocht und im Prinzip auf einem Ensemble aufbaut, also möglichst viele Rollen mit den hauseigenen Leuten besetzt, die in einem breit gefächerten Repertoire eingesetzt werden. Insofern darf man nicht mäkeln, und der Vergleich mit der bevorstehenden und mit Spannung erwarteten Luxusbesetzung der New Yorker Met (Diana Damrau als Comtesse, Juan Diego Flórez als Ory und sogar Joyce DiDonato als Isolier) wird vielleicht ungerecht, aber unvermeidlich sein.
Reto Müller
Besuchte Aufführung: Derniere vom 5. Februar 2011