26. Februar 2011

Alberto Zedda: „Den ‚ernsten‘ Rossini verstehen und würdigen“

Am 14. Januar 2011 haben rund 40 Mitglieder der Deutschen Rossini Gesellschaft eine Aufführung der Semiramide unter der Leitung von Alberto Zedda besucht. Obwohl unser Ehrenpräsident die Oper völlig ungekürzt dirigiert hat und es entsprechend spät wurde, besuchte er anderntags um 11 Uhr putzmunter unsere Jahreshauptversammlung. Dabei richtete er einige Worte zum Thema „Rossini und Deutschland“ an uns, die ich so gut wie möglich zusammenfasste, natürlich ohne auf die Schnelle die Tiefe und Bedeutung seines Diskurses adäquat wiedergeben zu können. Auf meine Bitte hin hat Alberto Zedda seine Gedanken nachträglich für uns niedergeschrieben. Die entsprechende Übersetzung legte ich Prof. Claus-Artur Scheier vor, der noch so gerne für den korrekten philosophischen Wortschatz sorgte und seine gewandte Sprache mit einfließen ließ, „denn“ – wie Scheier urteilte – „dieser Text von Zedda ist tatsächlich so philosophisch und so präzis kalkuliert, dass ich ihn nur bewundern kann. Übrigens hat Zedda all denen, die dem deutschsprachigen Kulturraum angehören, ein sehr artiges Kompliment gemacht, das wir mit grazie entgegennehmen sollten“.

Klicken, um den ganzen Text zu lesen

 Das italienische Original gibt es hier.


Reto Müller

P.S. Bei der Gelegenheit komme ich nicht umhin, mich gerne an Prof. Scheiers eigene philosophische Auseinandersetzung mit Rossini zu erinnern:
http://www.rossinigesellschaft.de/members/scheier/cas.html

19. Februar 2011

London entdeckt eine Belcanto-Perle - "Belisario" von Donizetti

Flavius Belisarius (505-565), Feldherr des Kaisers Justinian I. (Quelle: Wikipedia)
Die lokale Presse war sich nach der Premiere von Gaetano Donizettis Belisario am 4. Februar 1836 im Teatro La Fenice in Venedig einig: “[Donizetti] kam, sah und eroberte das dichtgefüllte Auditorium“. Alexander Weatherson, der englische Ottocento-Musikologe und Vorsitzende der “Donizetti Society“, schreibt in seinem Beitrag für das Programmheft der Londoner Aufführung am 13. Februar 2011 sogar, dass diese tragedia lirica eine der wenigen Opern dieser Zeit war, die bei ihrer Uraufführung einen eindeutigen und unumstrittenen Erfolg errungen hat. Umso unerklärlicher ist – wieder einmal – die Rezeptionshistorie dieses Meisterwerks, das anscheinend von Anfang an im Schatten seines “Vorgängers“ stand, der ein knappes halbes Jahr vorher entstandenen Lucia di Lammermoor. Dass wir heute überhaupt die Musik dieser 53. Oper im Oeuvre des Bergamasker Maestro hören können, verdanken wir dem Opernhaus ihrer Uraufführung, La Fenice, das 1969 die Neuerweckung des Belisario in einem Live- Mitschnitt festhielt. Mit Leyla Gencer, Nicola Zaccaria und Giuseppe Taddei in der Titelpartie waren die Hauptrollen glänzend besetzt. Danach gab es nur vereinzelt weitere Wiederaufnahmen: zweimal in Buenos Aires (1981 im Teatro Colon und 2010 im Teatro Avenida), eine offensichtlich recht eigenwillige, aber gut gesungene Inszenierung in Istanbul 2005 (Ausschnitte auf YouTube) und eine szenische (!) Musikhochschul-Produktion der North Carolina School of Art. Dort kann man neben einigen Fotos Einzelheiten von der schwierigen und spannenden Suche nach Aufführungsmaterialien finden, da die vorher verfügbaren beim Brand des Fenice 1996 vernichtet wurden.

Liegt die Ursache für die mehr als dürftige Präsenz des Belisario vielleicht am Libretto? Die Geschichte, die der häufig für Donizetti arbeitende Salvatore Cammarano (Librettist u.a. von Lucia di Lammermoor, L’assedio di Calais, Pia de Tolomei, Roberto Devereux, Poliuto) erzählt, ist voller dramatischer Wendungen und glaubwürdiger als beispielsweise Verdis Il trovatore. Vier der fünf Protagonisten sind bekannte Gestalten aus der Geschichte des Mittelmeerraums im 6. Jhdt. n. Chr.: der römisch-byzantinische Kaiser Justinian I., sein erfolgreicher Heerführer Belisario, dessen Frau Antonina und deren Tochter Irene. Im 1. Akt “Il trionfo“ kehrt Belisario nach erfolgreichen Kämpfen gegen die Goten unter großem Jubel nach Byzanz zurück. In diese Festesfreude hinein platzt seine Frau mit der Nachricht, dass ihr Mann ihren gemeinsamen Sohn vor Jahren habe umbringen lassen und dass er ferner plane, die Herrschaft an sich zu reißen. Als Beweise bringt sie – zusammen mit einem hohen Offizier, der sich Hoffnungen auf sie macht - eine Zeugenaussage und einen (wie sie später zugibt, gefälschten) Brief bei. Belisario wird verbannt, und der 2. Akt “L’esilio“ schildert bewegend, wie der seines Augenlichts beraubte Mann - er sollte den Kaiser nie mehr ansehen dürfen - von seiner Tochter Irene aus dem Gefängnis abgeholt wird. Hier werden natürlich Assoziationen an Oedipus und Antigone wach. Dieser kurze Akt wird geprägt von einem wunderschönen Vater-Tochter-Duett, enthält aber auch die große Tenorarie der fünften Hauptperson: Dies ist Alamiro, ein freigelassener Kriegsgefangener, der Belisario verehrt und in einer martialischen Cabaletta “Trema Bisanzio“ zur Rache aufruft. Im 3. Akt “La morte“ entpuppt sich dieser als der eigentlich totgeglaubte Sohn Alexis. In einem Terzett genießen Vater, Sohn und Tochter ihr neu gewonnenes doch kurzes Familienglück. Inzwischen hat Antonina von Schuld gepeinigt dem Kaiser ihre Intrige gebeichtet, will aber vor der Vollstreckung ihres Todesurteils noch die Verzeihung ihres Gatten erhalten; doch in diesem Augenblick wird Belisarios tödliche Verwundung bei weiteren Kampfhandlungen gemeldet. Der Tod soll ihr jetzt erspart bleiben, doch – wie der Chor abschließend singt - “ogni istante di  tua vita cruda morte fia per te“.

Im musikalischen Mittelpunkt der Oper (incl. der großartigen aria-finale) steht mit Antonina eine intrigant handelnde Frau und nicht das von vielen Opernstoffen her vertraute weibliche Opfer von Intrige, Verrat, Untreue o.ä. Eingängige und berührende Melodien bieten aber auch das Duett Alamiro-Belisario sowie ein Quartett, das in das Finale des 1. Aktes mündet.


Die konzertante Version des Belisario wurde von der Chelsea Opera Group
(COG) in der an der Themse gelegenen Queen Elizabeth Hall aufgeführt. Diese “charity organization“, deren Präsident der Dirigent Sir Colin Davis ist, veranstaltet seit 1950 in der Regel drei Opern pro Jahr in konzertanter Form und stellt hierfür ein eigenes Orchester und eigenen Chor (ca. 70 Sänger(innen) !) bereit, die aus begabten Amateuren bestehen und die ihre Begeisterung für Musik und Opern eint. Neben den üblichen Repertoireopern hat sich die COG auf die Fahnen geschrieben, seltener aufgeführte Werke der Öffentlichkeit vorzustellen, darunter auch eine Reihe von Belcanto-Opern wie Donizettis L’esule di Roma, Lucrezia Borgia, Poliuto, La favorite oder Rossinis Semiramide, Guillaume Tell, Ermione, Le siège de Corinthe sowie Bellinis Il pirata und Beatrice di Tenda. Nur die Gesangssolisten und Dirigenten sind  junge z.T. auch arrivierte Berufsmusiker.
Nelly Miricioiu am 13. 2. 2011
"Belisario" in der Queen Elizabeth Hall, London (Foto: Forum Opéra)
Vokaler Star dieser Belisario- Produktion war die in vielen Belcanto-Opern versierte in London lebende Nelly Miricioiu als Antonina. Der am Schluss aufbrausende z.T. frenetische Beifall galt aber vielleicht unbewusst mehr ihren Verdiensten und  Darbietungen im Belcantofach überhaupt, von denen es ja bei OperaRara genügend Kostproben gibt. Denn ihre Leistung an diesem Abend ließ hörbar ihre Mühe mit dieser Rolle erkennen (vielleicht auch eine Folge von Nervosität oder mancher Verismo-Partie?). Nicht immer gelang ihr ein belcanteskes Legato, und am Ende ihres Schuldbekenntnisses waren Konditionsmängel nicht zu überhören. Allerdings überstrahlte sie das Finale mit einem fulminanten Spitzenton, der wahrscheinlich das Wohlwollen einiger Zuhörer rechtfertigte und sie letztlich mit der vorangegangenen Darbietung aussöhnte. 
Von links: Yvonne Howard (Irene), David Soar (Belisario), Nelly Miricioiu (Antonina),
Richard Bonynge (Dirigent), Aldo Di Toro (Alamiro) am 13. 2. 2011
"Belisario" in der Queen Elizabeth Hall, London (Foto: Forum Opéra)
David Soar bot in der Titelrolle eine im Wesentlichen überzeugende Darbietung, doch scheint er mehr seine Stärken im Bassregister zu haben; denn der das lange, kraftraubende Duett mit Irene krönende hochliegende Schlusston misslang kläglich. Der Bass Graeme Broadbent als Giustiniano war rollendeckend, aber die beeindruckendste voluminöse Bass-Stimme dieses Abends präsentierte der Waliser Richard Wiegold in zwei winzigen Rollen. Ihn würde ich gerne einmal in einer größeren Partie hören! Ohne Fehl und Tadel und anrührend sang Yvonne Howard die Irene, doch die eigentliche Überraschung war für mich der australische in Italien lebende Tenor Aldo di Toro als Alamiro. Der ursprünglich vorgesehene Michael Spyres hatte aus  nicht bekannten Gründen diese Rolle zurückgegeben. Mit seiner schönklingenden Stimme, guter Technik und sicheren Spitzentönen machte dieser “Ersatzmann“ in seiner Arie wie in den Ensembleszenen jedenfalls einen starken Eindruck.
Chor und Orchester standen an diesem Abend erstmals unter der Leitung des für  Opern des 19. Jhdts. prädestinierten Dirigenten Richard Bonynge, der schon bei seinem Erscheinen mit Bravorufen begrüßt wurde. Ihm war es vor allem zu verdanken, dass Donizettis Musik trotz der genannten Schwachstellen die Belcanto-Liebhaber begeisterte. So galt dann auch verdientermaßen der größte Beifall des ausverkauften Hauses dem australischen Grandseigneur. Blumen gab es jedoch nur für die drei Damen!
Es wäre an der Zeit, dass sich ein deutsches Opernhaus einmal zutrauen würde, dieses Meisterwerk zu entdecken und auf die Bühne zu bringen. Wäre Belisario  nicht eine reizvolle Aufgabe für die Belcanto-Hochburg Nürnberg??!!

Walter Wiertz (Besuchte Vorstellung am 13.02.11)

13. Februar 2011

'Le Comte Ory' mit Cecilia Bartoli in Zürich

In seinen zwei letzten Spielzeiten am Züricher Opernhaus versucht Intendant Pereira noch einiges wettzumachen, was er Rossini schuldig geblieben war: denn außer der Semiramide zu Beginn seiner Ära bot er nur die komischen Repertoire-Opern des italienischen Rossini. Nun hat er mit Mosè in Egitto und den zwei letzten, französischen Opern, Le Comte Ory und Guillaume Tell, zu einem rossinischen Endspurt angesetzt. Erwies sich der Tell als Hohelied auf eine ironisch betrachtete Swissness und als Veräppelung Rossinis und der Grand-Opéra (erst recht, wenn man jetzt sieht, dass der Tannhäuser-Aufführung eine volle Stunde mehr an Spielzeit zugestanden wird), so konnte dieser Ory in musikalischer und philologischer Hinsicht auch die Rossinianer zufrieden stellen. Angekündigt wurde nämlich nichts weniger als die Erstaufführung der neuen Bärenreiterausgabe, die auf bislang nie berücksichtigten Aufführungsmaterialien der Pariser Urauf­führung von 1828 basiert. Philip Gossett, der Leiter von „Works of Gioachino Rossini“, hat die wichtigsten Ergebnisse bereits in einem Artikel vorgestellt (vgl. «[t]akte», Das Bärenreiter-Magazin, 2|2010, S. 4-5 bzw. www.takte-online.de). Aufgefallen sind die zusätzlichen „Choryphées“ im Finale des ersten Aktes und die zusätzliche Passage im Finale des zweiten Aktes; aber auch die übrigen geöffneten Striche wurden in Zürich gespielt. Doch erst die Erläuterungen im Kommentar zu der kritischen Ausgabe werden ein Urteil darüber erlauben, ob die Rücknahme der ggf. vom Komponisten gewollten oder gutgeheißenen Veränderungen auch sinnvoll ist. Der Herausgeber der Ausgabe, Damien Colas, hat in seinem Programmheftbeitrag schon einmal interessante Ausführungen zum „Troubadour-Stil“ der Verse, zum „Esprit gaulois“ des Stoffes und zu den historischen Figurenbezügen in dem Livret von Scribe gemacht. Vom ausführlichen Vorwort der gedruckten Ausgabe darf man sodann Antworten auf weitere Fragestellungen erwarten: Wieso haben in Frankreich immer zwei Librettisten an einem Text zusammengearbeitet, und wie sah im konkreten Fall die Arbeitsteilung zwischen Scribe und Delestre-Poirson aus? Weshalb zeigte Rossini nie ein Interesse, für die Opéra-Comique zu schreiben, um stattdessen einen für dieses Theater prädestinierten Stoff auf der Bühne der Académie Royale de Musique (also der Opéra) zu etablieren, indem er ihn durch auskomponierte Rezitative (statt der Dialoge) den Gepflogenheiten dieser Bühne anpasste, aber auf die obligate Ballettmusik verzichten konnte? Wie war es möglich, dass ein solcher Stoff, den ein Operninspektor als „dermaßen unanständig“ geißelte, fast unbe­merkt das ganze, sonst so strenge Annahmeverfahren umgehen konnte? Diente die unerwartete Beschäftigung mit diesem Stoff Rossini als eine weitere Art „Vorstudie“ für seine seit langem erwartete genuine, französische Oper? So meisterhaft die Umarbeitungen einzelner Stücke aus dem Viaggio a Reims sein mögen (einige davon gewinnen an Prägnanz, etwa die Arie des Don Profondo durch die Ergänzung des Chors für die „Weinarie“ des Raimbaud; andere verlieren sie eher, etwa die radikale Transformierung der Lord Sidney-Arie für den Gouverneur), so sind es doch die neu komponierten Stücke, die den Komponisten auf der Höhe seines Schaffens zeigen. Mit dem Duett Isolier-Ory adaptierte er perfekt das herrliche Modell aus Boieldieus La dame blanche, beeinflusste seinerseits Aubers Fra Diavolo und bildete eine Symbiose von französischer Leich­tigkeit und italienischer Melodik, die bis hin zur Operette Offenbachs den französischen Stil prägte. Mit dem Frauenchor und der Gewitterszene im zweiten Akt schöpfte er die harmonischen und klang­farblichen Möglichkeiten seines Orchesters aus und schuf eine Vorlage, die von dem Frauenterzett im Tell kaum mehr übertroffen wird. Den Höhepunkt der Oper bildet aber das bezwingende Terzett, in dem Rossini zwischen Wollust und Frust seine letzte Synthese von Spaß und Ernst findet.

Le Comte Ory, Finale 1. Akt
(c) Jef Rabillon / Opernhaus Zürich
 
Die fast einhellig hochgelobte Regie löste in mir weder Begeisterung noch Ärger aus, sondern nur ein paar kritische Bemerkungen. In dem obligaten Programmheft-Interview machen die beiden Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier ein paar intelligente Bemerkungen, wie z.B.: „Dass es ein Stoff aus dem Mittelalter ist, heisst noch nicht, dass er für ein modernes Publikum un­interessant wäre“. Trotzdem suchten sie einen „Anlass, die Geschichte in unsere Generation zu überführen – in das Frankreich vor 1968, die Zeit vor der sexuellen Befreiung“. Es versteht sich von selbst, dass eine solche „Überführung“ für die Geschichte und für deren Verständnis überhaupt nichts bringt außer den üblichen Widersprüchen, die solche Transformationen meist zur Folge haben – beispielsweise die Unwahrscheinlichkeit einer in den 1960-er Jahren Zuflucht suchenden Nonnenkongregation: Man muss sich fragen, was das für eine Gräfin und Entourage ist, die in unserer Zeit auf so etwas hereinfällt. Gerade eine Komödie muss ja bei der Motivation der Handlungen glaubwürdig bleiben, sonst ergibt sich keine natürliche Situationskomik. (Leisher hält im Interview selber ein richtiges Plädoyer gegen „Theater im Theater“.) Dazu gehört z.B. auch, dass der Gouverneur, hier ein hoher Militärattaché, sich standesgemäß von seinem „Chauffeur“ Isolier vorfahren lässt, dann aber grundlos ohne diesen davon fährt (im Mittelalter kann er gut alleine weggehen, denn zu Fuß oder zu Pferd braucht er keinen Begleiter). Das mit Spannung erwartete Terzett war eine ziemlich plumpe Darstellung eines kopulierenden Ory; man schaue sich zum Vergleich die erotisch-sinnliche Umsetzung von Glyndebourne 1997 an; ich denke auch gerne an das subtile Schattenspiel in der Wildbader Inszenierung von 2002 zurück. Wenn man heutzutage durch die Fernsehprogramme zappt, wundert es freilich nicht, dass die Leute mit ein paar wedelnden Unterwäschestücken oder einer lasziv an die Hüfte gehaltenen Baguette zufrieden sind. Auch sonst kamen die Einfälle der beiden Herren nicht „hoch zwei“, sondern eher ein­dimensional daher: In Isoliers ständigem Griff zum Glimmstengel kann ich auf jeden Fall weder eine Personen- noch eine Zeitcharakterisierung erkennen, sondern nur abgeschmackte Einfallslosigkeit.
Das Bühnenbild von Christian Fenouillat war hübsch anzusehen, und der Prospekt mit dem verschlafenen Städtchen im ersten Akt erinnerte in seiner provinziellen Beschaulichkeit an den französischen Erfolgsfilm Bienvenue chez les Ch’tis. Nichts gegen die Kostüme von Agostino Cavalca, aber die Mode aus diesem bürgerlich-biederen Milieu mit ihrer an eine Altkleider­sammlung gemahnende Ausstaffierung erinnert immer an Schüleraufführungen.
Da das Orchestra La Scintilla der Oper Zürich auf historischen Instrumenten spielt, stand zu befürchten, dass dem Werk die gewohnte Brillianz fehlen würde; ich fand aber, dass das Ensemble unter der Leitung von Muhai Tang spritzig spielte, und genoss den besonderen Klangcharakter, den vor allem einige Holzbläser entfalteten. Aufgefallen ist auch die Verwendung eines Schellen­baums im Schlagwerk, vor allem in der Introduktion.

Le Comte Ory 2. Akt - Javier Camarena, Cecilia Bartoli
(c) Jef Rabillon / Opernhaus Zürich

Alle sechs Aufführungen waren komplett ausverkauft. Es wäre illusorisch zu glauben, dass es dieser seltene Operntitel war, der so zugkräftig wirkte. Grund für den Hype war, dass La Bartoli wieder einmal ein Rollendebüt gab, und zwar in einer Oper desjenigen Komponisten, der ganz am Anfang ihrer Karriere gestanden hatte. Das war vor über 20 Jahren, damals noch als große Hoffnung im rossinischen Mezzofach. Für mich war Cecilia Bartoli schon als Clarice in La pietra del paragone 1988 in Catania eine echte Entdeckung. Kurz darauf schien sich mit der Lucilla in La scala di seta in Pesaro ein Aufstieg in den Olymp der dortigen Rossini-Sänger anzubahnen, zumal an der Mailänder Scala ihr Debüt im Comte Ory (freilich als Isolier) und in Zürich – exakt mit dem Beginn der Ära Pereira – Rosina und Cenerentola folgten. Ein herber Rückschlag für die Fans war ihre kurzfristige Absage bei dem großen Kantatenabend 1991 in Pesaro. Neue Hoffnungen weckte sie mit einer zweiten Rossini-CD, die dieses Mal aber ganz den Colbran-Rollen (und damit schon einen Schritt weg vom eigentlichen Mezzofach) gewidmet war. Das Gerücht einer Donna del lago in Zürich machte die Runden... stattdessen debütierte sie dort 2002 eher überraschend als Fiorilla im Turco in Italia. Seither hat sie sich zu einem veritablen Star entwickelt, und alles, was sie anpackte, tat sie mit großem Engagement und Charisma, ob es nun Mozart, das Repertoire der Malibran, die Erkundung des Barockfachs mit Vivaldi oder die Auseinandersetzung mit dem Kastratentum war. Ist die Comtesse ein ‚Back to the roots‘? Wohl kaum, vielmehr eine Art nicht unbedingt logische, aber doch plausible Entwicklung: mit der Marcolini zu starten und bei der Cinti zu landen, ist auf jeden Fall ein rossinischer Weg.
Bei aller Hochachtung vor der Person und der Künstlerin muss ich vorausschicken, dass mir ihre vokale Metamorphose nie besonders behagt hat. Auch heute höre ich noch mit unsäglichem Ver­gnügen ihre erste Rossini-CD, auf der sie ihr so betörendes Timbre auf die authentischste Weise verströmt, während ich ihre späteren, manchmal hypernervösen Sopranexploits eher strapaziös finde. Gespannt auf ihre Comtesse war ich dennoch. Mein spontaner Eindruck: La Bartoli hat sich eine Technik angeeignet, bei der sie es tunlichst vermeidet, ihre Spitzentöne unkontrolliert gehen zu lassen; sie macht ihre Stimme kleiner als sie ist. Während sie ihr enges Sarah-Palin-Outfit löste, blieb sie vokal in ihrem selbstverpassten Korsett stecken. Ihre „Bravourarie“ im ersten Akt geriet denn auch nicht zu einem Feuerwerk, sondern zu einer Glut, die schön zusammengehalten wurde. Die für sie perfekte Tessitur fand sie in der Introduktion des zweiten Aktes, wo sie in der Mittellage und in der Tiefe ihr typisches Timbre und ihre Farben spielen lassen konnte. Im übrigen drängte sie sich nicht in den Vordergrund, obwohl sie der Star des Abends war, und ließ ihrem Kollegen den wohlverdienten Platz als Titelheld, was sie als große Künstlerin ungemein ehrt.
Javier Camarena ist zweifellos ein hoffnungsvoller Rossini-Tenor. Leider fand ich seinen Auftritt etwas verschenkt. Als falscher und zudem noch blinder Eremit wollten die Regisseure mehr seine Lüsternheit hervorheben, statt dass er seinem Auftritt jene salbungsvolle Geste verleihen durfte, die die Situation so unheimlich komisch macht. Der Schmelz der Stimme wird durch eine leichte Belegung des Timbres beeinträchtigt. In stilistischer Hinsicht vermisste ich eine gewisse Raffinesse. Richtig gut gefiel er mir nur in den Koloraturpassagen in den Duetten mit Isolier und der Gräfin.
Rebeca Olvera brachte als Isolier viel Frische in die Aufführung, aber eigentlich ist ihre Stimme zu soubrettig für diese Mezzorolle. Obwohl dem Gouverneur die Typenkomik eines Dottor Bartolo oder eines Don Magnifico völlig abgeht, wusste Carlos Chausson auch allein mit seiner schönen Bassstimme zu überzeugen. Oliver Widmer verfügt nicht über große stimmliche Mittel und ist auch keine charismatische oder komödiantische Persönlichkeit. Sein Auftritt in der Introduktion geriet farblos (und verblasste bei den wenigen Worten der sonoren Bassstimme von Henri Bernard als „Un paysan“ in der Stretta erst recht), während er seine große Weinarie im zweiten Akt zumindest bei der Derniere sehr respektabel über die Bühne brachte. Ein solches Kabinettsstück fehlt der Rolle der Ragonde, in der Liliana Nikiteanu leider nur enttäuschte. Allerdings darf man nicht vergessen, dass auch das Opernhaus Zürich nur mit Wasser kocht und im Prinzip auf einem Ensemble aufbaut, also möglichst viele Rollen mit den hauseigenen Leuten besetzt, die in einem breit gefächerten Repertoire eingesetzt werden. Insofern darf man nicht mäkeln, und der Vergleich mit der bevorstehenden und mit Spannung erwarteten Luxusbesetzung der New Yorker Met (Diana Damrau als Comtesse, Juan Diego Flórez als Ory und sogar Joyce DiDonato als Isolier) wird vielleicht ungerecht, aber unvermeidlich sein. 

Reto Müller
Besuchte Aufführung: Derniere vom 5. Februar 2011 

Artikel aus «Mitteilungsblatt» Deutschen Rossini Gesellschaft, Nr. 52 (Februar 2010), S. 18-21

7. Februar 2011

Das besondere Jubiläum: 333 Jahre Oper in Hamburg – Vorschau und ein kleiner Blick zurück auf das Repertoire der Gänsemarktoper



In Hamburg begeht man zur Zeit gern schräge Jubiläen. So feiern die Hamburger Bücherhallen seit einigen Monaten ihr 111-jähriges Bestehen, und am 18. Januar 2011 gab es im Parkett-Foyer der Hamburgischen Staatsoper die Auftaktveranstaltung „333 Jahre Oper in Hamburg – Das Hamburger Bürgertum und seine Oper in historischer und aktueller Perspektive“ mit Kurzreferaten von Prof. Dr. Dorothea Schröder (Die Gründung der Hamburger Oper – eine „mutige Tat glücklicher Kaufleute“?) und von Prof. Dr. Dr. h. c. Udo Bermbach (Die Situation der Oper im Hamburg der Gegenwart). Nach der Ankündigung im Journal sollte die Auftaktveranstaltung auch den Programmschwerpunkt „333 Jahre Oper in Hamburg“ für die Spielzeit 2011/12 vorstellen, Operndirektor Francis Hüsers verriet in seiner Begrüßung und Einführung aber leider keine Details außer der für Oktober 2011 vorgesehenen Aufführung der Oper „Flavius Bertaridus“ von Georg Philipp Telemann, uraufgeführt in Hamburg am 23. November 1729, aus der Ann-Beth Solvang eine Arie vortrug. Aber jedenfalls was diese Telemann-Oper angeht, weiß das Internet mehr: Es handelt sich um eine Co-Produktion der Innsbrucker Festwochen und der Hamburgischen Staatsoper.


(Zum Vergrößern ins Bild klicken)


Das "Hamburger Abendblatt" (Magazin vom 5./6.2.2011) berichtet, dass im Juli 2012 die Spielzeit mit einer Oper von Johann Mattheson als Produktion des Internationalen Opernstudios enden soll.

Und wenn es denn auch noch die Wiederaufnahme einer Oper von Händel gäbe, der an der Gänsemarktoper von 1703 bis 1705 als Violinist und Cembalist engagiert war und für sie seine ersten Opern geschrieben hat, wäre dieses ungewöhnliche Jubiläum zugleich eine höchst willkommene Wiedergutmachung für die Enttäuschung über ein an der Hamburgischen Staatsoper spurlos vorübergegangenes Händeljahr. Hamburg darf sich auch heute noch als Händel-Stadt rühmen, besitzt die Musiksammlung der Staats- und Universitätsbibliothek doch einen einmaligen Schatz, nämlich Händels Direktionspartituren zu rund 60 Opern und Oratorien Händels, aus denen der Komponist einst selbst dirigierte und zahlreiche aufführungsspezifische Bearbeitungsspuren darin hinterließ, ein Quellenbestand von außerordentlicher Bedeutung für Händel-Forschung und Musikpraxis.

"Händel wurde auch nach seiner Abreise in Hamburg nicht vergessen. Zwei seiner hier noch entstandenen Opern, "Florindo" und "Dafne", wurden 1708 in der Hansestadt uraufgeführt. Ab 1721 hat sich Georg Philipp Telemann in hohem Maße urn die Etablierung von Händels Opern in Hamburg verdient gemacht. Viele von Händels dann in England entstandenen Opern - darunter "Giulio Cesare", "Admeto" und "Pora"- wurden unverzüglich in Hamburg gegeben. 1732 setzte Telemann dann auch erneut „Almira" auf den Spielplan. Carl Philipp Emanuel Bach, Nachfolger Telemanns als Hamburger Musikdirektor, setzt die Händel-­Tradition mit verschiedenen Oratorien-Aufführungen fort. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erarbeitet dann Friedrich Chrysander, der wohl bis heute wichtigste Händel-Forscher überhaupt, in Hamburg die erste Händel-Werkausgabe und eine bis heute Maßstäbe setzende Händel-Biographie. Chrysanders Bibliothek mit den Dirigierpartituren Händels zählt heute zu den größten Schätzen in der Musiksammlung der Staats- und Universitätsbibliothek. Hamburg darf sich mithin als "Händel- Stadt" begreifen. Diese Tradition zu pflegen und sie weiter zu ent­wickeln sollte heute eine selbstverständliche Aufgabe und Pflicht sein. Die Aufführungen der "Almira" im Bucerius Kunst Forum - 300 Jahre nach ihrer Entstehung - machen hierfür den Anfang."
Philipp Adlung  (Aus dem Programmheft zur Aufführung von Händels "Almira")  

Kurzer Abriss der ersten 100 Jahre

Am 2. Januar 1678 wurde das von Girolomo Sartorio erbaute Opernhaus am Gänsemarkt als erstes öffentliches Opernhaus Deutschlands mit dem Singspiel "Adam und Eva oder Der Erschaffene, Gefallene und Aufgerichtete Mensch" von Johann Theile eröffnet.

Von etwa 1686 bis 1738 war die Hamburger Oper eines der führenden musikalischen Zentren in Europa mit Aufführungen der Opern von Reinhard Keiser, Johann Mattheson, Georg Philip Telemann (ab 1721 Hamburger Stadtmusikdirektor) sowie Georg Friedrich Händel. Als durch finanzielle Misswirtschaft und mangelndes Publikumsinteresse die Oper in ihrer Existenz bedroht war, fühlten sich die pietistisch orientierten Theologen, denen die Sinnlichkeit der Oper schon lange ein Dorn im Auge war, nur bestätigt, und ihre Attacken nahmen zu. Das Haus wurde schließlich 1738 als selbstständiges Unternehmen geschlossen. Bis zum endgültigen Abriss des Gebäudes im Jahr 1763 diente es vor allem durchziehenden Komödiantentruppen als Spielort. Auf diese Weise wurde allerdings auch die italienische Oper in Hamburg bekannt. So trat 1748 der zweiunddreißigjährige Christoph Willibald Gluck mit der Operntruppe Antonio Mingottis in Hamburg auf. Am 31. Juli 1765 wurde auf Initiative Konrad Ernst Ackermanns das „Ackermann'sche Comödiantenhaus" eröffnet. Einen reinen Opernbetrieb nahm man nicht mehr auf, sondern mischte Musiktheater und Schauspiel. Ab 1767 hieß das Theater auf Lessings Einfluss hin „Deutsches Nationaltheater". Lessing war bis 1779 Dramaturg in Hamburg und veröffentlichte während dieser Tätigkeit seine „Hamburger Dramaturgie"...
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Der Hamburger Opernstil

Die meisten der an der Gänsemarktoper gespielten Werke waren von Reinhard Keiser, - in der Dokumentation „Geschichte der Hamburger Oper 1678 – 1978“ von Joachim E. Wenzel sind über 70 Opern von Keiser aufgelistet, die im Zeitraum von 1694 bis 1734 auf dem Spielplan standen. Von Telemann sind 27 Opern für die Zeit von 1721 bis 1736 angegeben und von Mattheson 7 Opern für die Jahre 1699 bis 1723. Von den meisten Werken sind jedoch nur die Texte erhalten, nicht aber auch die Musik. Die Musiksammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg enthält eine Libretto-Sammlung zur Hamburger Gänsemarkt-Oper mit rund 450 gedruckten Libretti zu etwa 310 Opern, die zwischen 1678 und 1738 im Hamburger Opernhaus am Gänsemarkt aufgeführt wurden.

Kennzeichnend für den damaligen Hamburger Opernstil ist eine Mischung von deutsch oder aber auch mit italienischem Originaltext gesungenen Arien mit deutsch gesungenen Rezitativen im italienischen Stil, Ouvertüre und Tänze waren dagegen meist im französischen Stil. Gern wurden aus eigenen Werken, aber auch aus Opern anderer Komponisten Arien übernommen, die beim Publikum besonders beliebt waren. Eingeflochten wurden zudem Anspielungen auf tagesaktuelle Ereignisse des politischen und gesellschaftlichen Lebens.

Reinhard Keiser – "Der lächerliche Prinz Jodelet" (1726)



Bei einer Aufführung in der heutigen Zeit sollten „kabarettistische“ Einlagen zur Wahrung des Hamburger Opernstils m. E. nach Möglichkeit beibehalten bzw. „aktualisiert“ werden. So mit Erfolg geschehen bei der Inszenierung von Keisers „Der lächerliche Prinz Jodelet“ an der Hamburgischen Staatsoper. Die Premiere (22. Februar 2004) fiel – wie der Zufall es so wollte – in die Zeit vorgezogener Neuwahlen in Hamburg, was Anregung für einige Regieeinfälle bot. Aber wer wird bereits heute noch verstehen, wen die Dame darstellen sollte, die plötzlich auf der Bühne herumwuselte und an alle am Bühnengeschehen Beteiligten Exemplare des Buches „Die Entdeckung der Currywurst“ (ein übrigens wirklich lesenswertes Buch von Uwe Timm) verteilte? Seinerzeit war das aufgrund der Aktualität ein großer Heiterkeitserfolg. Das parodierte „Original“ saß bei der Premiere übrigens in der ersten Reihe: die damalige Kultursenatorin, die mit teils skurillen Ideen – beispielsweise ein „Aquadome“ in der Hafencity als eine Kombination aus Konzertsaal und Aquarium (mit Haitunnel als Zugang zum Konzertsaal!) – auch überregional von sich reden machte ("Amok im Aquarium").





Johann Mattheson – „Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Trohn“ (1710)

Diese Oper hatte Mattheson zwar 1710 für die Gänsemarktoper komponiert, zur Aufführung kam sie dort aber nicht. Möglicherweise – so wird spekuliert - befürchteten die Hamburger Kaufleute, dass ihre gut gedeihenden Handelsbeziehungen zu dem gerade erst gegründeten St. Petersburg Schaden nehmen könnten... Und so blieb das Werk vergessen, in den Wirren des Zweiten Weltkriegs gelangte das Notenmaterial nach Armenien, wo es von dem Kirchenmusiker und Musikforscher Johannes Pausch in den sog. „Eriwan-Beständen“ aufgespürt wurde, die dann 1999 an die Hamburger Staatsbibliothek zurück gelangten. Die konzertante Aufführung unter Rudolf Kelber am 29. Januar 2005 im Bucerius Kunst Forum war somit die Uraufführung dieser Hamburger Barockoper! (Details)

Bei dieser Vorgeschichte war man natürlich gespannt auf die komponierte „Verschlagenheit“, - die erschöpft sich allerdings in der List des Boris, Desinteresse am Zarenthron zu heucheln und sich solange in ein Kloster zurückzuziehen, bis alle ihn inständigst bitten, ihr Zar zu werden. 
Ein Mitschnitt der Hamburger Uraufführung ist in der „Edition Musik Landschaften Hamburg“ erschienen (RP 15287 – 3 CDs).



Die erste szenische Aufführung des „Boris Goudenow“ brachte kurze Zeit später das Boston Early Music Festival im Juni 2005. Aber auch in Hamburg gab es schon bald eine szenische Aufführung des „Boris Goudenow“, und zwar am 30. August 2007 im St. Pauli Theater. Anlässlich des 50jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und St. Petersburg wurde eine „experimentelle Barocktheaterproduktion von EARLYMUSIC RUSSIA“ aus dem Mikhailovsky Teatr St. Petersburg gezeigt, eine Inszenierung in der Regie von Klaus Abromeit, bei der auf - mit Ausnahme von Podesten - fast leeren Bühne die in prächtige Barockkostüme gewandeten Solisten meist statuarisch verharrten und die musikalischen Affekte in stark formalisierte, aber ausdrucksstarke Gesten umsetzten.





Zwei Videos von einer St. Petersburger Aufführung
der in Hamburg gezeigten Produktion: 





Hamburger Aufführungen von weiteren Werken der Gänsemarktoper:

Unter der Leitung von Rudolf Kelber gab es noch weitere Werke der Gänsemarktoper in konzertanten Aufführungen im Bucerius Kunst Forum:


Händel - „Der in Krohnen erlangte Glücks-Wechsel oder
Almira, Königin von Kastilien“ (November 2005)



Mattheson - „
Die betrogene Staats-Liebe oder Die
unglückselige Cleopatra, Königin von Egypten“
(Oktober 2006)





Händel - „
Zenobia“ (Hamburger Fassung 1722 von „Radamisto“
mit deutschen Rezitativen von Mattheson) (April 2009)


Zum Abschluss ein Video von einer Aufführung der Innsbrucker Festwochen 2007. In Hamburg war „Der geduldige Sokrates“ (1721) von Telemann am 29. August 2007 in der Laeiszhalle in der Innsbrucker Besetzung unter René Jacobs halbszenisch – d.h. ohne Kostüme, aber mit viel Aktion auf einem zwischen Orchester und Publikum aufgebauten breiten Steg - aufgeführt worden, in diesem Fall wohl die erfreulichere Variante...




Rückblick auf die Händel-Festspiele 2010 in Halle

Händel-Denkmal auf dem Markt von Halle (alle Fotos: R. Fricke)

Schwerpunkt der Händel-Festspiele 2010 war diesmal das "Orlando-Thema". Für das von Ludovico Ariost 1516 erschienene Versepos "Orlando furioso", das von Rittern, Helden, kämpfenden Damen, Zauberern und Fabeltieren handelt, begeisterten sich auch Komponisten, darunter Georg Friedrich Händel. 

Da wir die Opernfassungen von Vivaldi ("Orlando furioso" in der Oper Frankfurt a.M.) und Haydn ("Orlando paladino" im Staatstheater Braunschweig)  schon gehört und besprochen hatten, waren wir sehr gespannt nicht nur auf die Vertonung von Händel, sondern auch auf einige weitere Veranstaltungen, die den Paladin Orlando behandelten.

Händels Oper "Orlando", die am 27. Januar 1733 im Londoner King´s Theatre ihre Uraufführung erlebte und als "herrlichste aller Händel-Opern" bezeichnet wird, begründete auch 1922 in Halle die Händel-Festspieltradition.

Über die Inszenierung dieser Oper haben wir hier im Belcantoblog schon berichtet, ebenfalls über den Festvortrag von Prof. Dr. Albert Gier mit dem Titel "Damen, Ritter, Waffen und Liebe. Ariosos Orlando furioso auf der Opernbühne".

Erwähnt sei hier noch das "Literarische Konzert" von und mit Uwe Schweikert am 4. Juni im Händel-Haus, bei der verschiedene Genres gemischt wurden: Dichtung und Musik, eingebettet in eine moderierende Einführung durch Uwe Schweikert. Ihm gelang es, die Zeitlosigkeit und fortwährende Faszination des Stoffes, der unzählige Male von Dichtern, Malern und Opernkomponisten aufgegriffen wurde, zu vermitteln. Jörg Lichtenstein trug ausgewählte Verse Ludovico Ariosts aus dem "Rasenden Roland" vor, Luciana Mancini sang mit herrlichem kultiviertem Mezzo Arien aus den Ariosto-Opern Händels Alcina und Ariodante, schließlich das ergreifende "Già l´ebro mio ciglio" aus dem 3. Akt der Oper Orlando begleitet von  Mitgliedern der LAUTTEN COMPAGNEY Berlin.

Der Ausflug ins historische Goethe-Theater in Bad Lauchstädt mit den zum Orlando-Thema passenden Opern "Il Palazzo incantato" und "Il Combattimento" wurde hier im Blog ebenfalls schon behandelt.

Zum "Muss" in Halle zählt natürlich auch ein Besuch des Händel-Hauses, ein Gang über den Marktplatz und der Besuch einer Orgelmusik in der Marktkirche:


Markt und Marktkirche zu Halle
Während der Festspiele war zwischen dem 3. und 12. Juni 2010 täglich bei freiem Eintritt um 12 Uhr eine halbe Stunde Orgelmusik zu hören. Es gab Orgelmusiken zum 300. Geburtsjahr von Wilhelm Friedemann Bach, dem "hallischen Musikdirektor und wohlbestallten Organisten" gespielt von seinem Amtsnachfolger Irénée Peyrot. Am Samstag, den 5. Juni erklang zunächst auf der kleinen Orgel, auf der Georg Friedrich Händel (1685-1759) selbst das Orgelspiel erlernt hatte, Händels Suite F-Dur HWW 427. 

Kleine Orgel in der Marktkirche

Diese Orgel steht auf der Osttempore, sie wurde 1663-1664 von Georg Reichel erbaut; das Werk besitzt sechs Register. 1972 wurde die Orgel umfassend restauriert und erklingt seitdem wieder in der ursprünglichen Stimmung (etwa eine kleine Terz = 1 1/2 Töne - über der heutigen Normalstimmung). "Musik besonders des 16. und 17. Jahrhunderts erklingt dadurch in großer Klarheit und Eindrücklichkeit" (Programmzettel). Diese Einschätzung stimmt, die Orgel "singt" regelrecht, klingt zu Beginn weich und relativ leise, wird dann allmählich volltönender - ein wahrhafter Hörgenuss.

Große Orgel (1713-16) in der Marktkirche
Im Gegensatz dazu dann die große Orgel auf der Westtempore mit 56 Registern und über 4000 Pfeifen, vom Halberstädter Christoph Cuntius  in den Jahren 1713-1716 erbaut und am 3. Mai 1716 in Anwesenheit Johann Sebastian Bachs eingeweiht. Auf ihr erklangen ebenfalls an diesem Samstag Werke von Samuel Scheidt (1587-1654), Wilhelm Friedemann Bach sowie Johann Sebastian Bach (1685-1750). Hier nahm uns nun der mächtigere, kühlere Orgelton gefangen, den wir gewöhnt sind.

Nach diesem Kunstgenuss genossen wir bei herrlichem Sonnenschein im Café Rossini den Ausblick auf den Marktplatz und die Marktkirche.


Im Schatten des wuchtigen Händel-Denkmals freuten wir uns als Rossini-Freunde über die Referenz an Rossini, die das Ristorante italiano "Rossini" dem Sohn aus Pesaro auch auf der Eis- und Getränkekarte erwiesen hatte.



Rossini und Händel auf der Karte des "Rossini" in Halle (Vergrößern: Bitte in das Bild klicken) 
Einige der vielen roten Straßenbahnen rollten mit dem Endziel "Frohe Zukunft" an uns vorbei. Das wünschen wir auch den nächsten Händel-Festspielen 2011, dessen Programm schon vorliegt.

Astrid Fricke

"Il Palazzo incantato" et "Il Combattimento" in Bad Lauchstädt

Goethe-Theater in Bad Lauchstädt (Alle Fotos: R. Fricke)
Das Goethe-Theater in Bad Lauchstedt bot anlässlich der Händel-Festspiele 2010 am 5. und 6. Juni 2010 zwei bemerkenswerte Stücke, einmal in Auszügen und halb szenisch Luigi Rossis bereits 1642 komponierte und auf Ariosts "Orlando furioso" zurückgehende  Oper "Il Palazzo incantato", zum anderen Claudio Monteverdis berühmtes  "Il Combattimento di Tancredi e Clorinda", den "Liebeskampf", welcher auf Torquato Tassos "Gerusalemme liberata" beruht. Ausführende waren Christina Pluhar (musikalische Leitung und Theorbe) und ihr Ensemble L´Arpeggiata, welches auf historischen Instrumenten musizierte (Echo-Klassik-Preisträger 2009).

In der Rossi-Oper geht es um den Wettstreit zwischen Malerei, Poesie und Musik, der nur unter Zuhilfenahme von Magie entschieden werden kann. Die Handlung spielt im Palast des Zauberers Atalante, in dem sich unter anderem der Ritter Orlando, die von Atalante entführte Prinzessin Angelica sowie Ruggiero und dessen Verlobte Bradamante befinden. Es gibt zahlreiche Liebesverwicklungen bis am Ende die getrennten Paare wieder vereinigt werden und das Reich des alten Zauberers versinkt.

In ihrer Rolle als Bradamante begeisterte die Mezzosopronistin Luciana Mancini, die bereits das literarische Konzert mit Uwe Schweikert am Vortag bereichert hatte. Bei den Tänzern gefiel mir besonders der sprunggewaltige blonde Vincenzo Capezzuto, den ich später im Park des Bad Lauchstädter Theaters inmitten seiner Truppe entdeckte: Er war der Hauptsänger (!) beim spontanten A-capella-Gesang der Ensemble-Künstler und wurde nicht nur durch Hände-Klatschen der Umstehenden angefeuert, sondern auch von einem Musiker begleitet, der  kunstvoll das Krummhorn blies.

Nach der Pause dann Monteverdis Vertonung eines tödlich endenden Streits, der lange, erbittert und - schließlich widerwillig - bis zur Erschöpfung zwischen dem Kreuzritter Tancredi und der Sarazenin Clorinda geführt wird. Mitreißend waren die wunderbar choreographierten Tanzszenen der mit Schild und Degen - beides nur pantomimisch dargestellt - aufeinander treffenden Kontrahenten. Erst nach der tödlichen Verwundung der als Kämpferin verkleideten Clorinda entdeckt Tancredi, das Visier der Gegnerin abnehmend, dass er nichtsahnend mit seiner Geliebten so erbittert gefochten hatte. 



Bad Lauchstädt darf bei einem Halle-Besuch nicht vergessen werden. Die kleine Anschluss-Reise mit Bus oder Auto lohnt sich wegen des Parks und der restaurierten Gebäude notfalls auch ohne Theaterbesuch. Noch schöner ist es aber, anlässlich der Händel-Festspiele eine quasi historische Aufführung mit Original-Instrumenten der Zeit und unter Einsatz der alten Kulissen zu erleben. Das kleine Theater konnte diesmal mit seinen gemalten barocken Bühnenbildern prunken, eine Parklandschaft und einen Palast darstellend. Anfang Juni war es nachmittags sommerlich warm, der kleine See glitzerte im Sonnenlicht. Fast konnte man sich als Kurgast von "damals" fühlen, als Fürsten und Berühmtheiten zur Trinkkur anreisten und hier lustwandelten.





Kurpark von Bad Lauchstädt (Fotos: R. Fricke)
Astrid Fricke (Besuchte Vorstellung am 5. Juni 2010)