27. August 2008

Pesaro - Opernfreude in bella Italia

Piazzale della Libertà: die große Kugel

Die nach italienischen Maßstäben "ruhige" Hafenstadt Pesaro, in der nördlichen Region „Le Marche“ an der Adria unweit Riminis gelegen, ist für Freunde des Belcanto-Gesangs ein unwiderstehliches Highlight im Festival- und Opernkalender.

Alle Jahre wieder gibt es Rossini-Opern, Kirchenmusiken und Konzerte zu erleben, die auch strengen Anforderungen an Qualität hinsichtlich der Stimmen, der Aufführungspraxis und nicht zuletzt der Authentizität des verwendeten Notenmaterials genügen dürften. Und so liest man in jeder Ankündigung nebst ausführlichem Verzeichnis der jeweiligen Sponsoren gleich zu Beginn als feierliche Einleitung den Satz: "Edizione critica della Fondazione Rossini, in collaborazione con Casa Ricordi , a cura di….".

Teatro Rossini

Obwohl Opernfreunde aus der ganzen Welt einfallen, darunter auch viele japanische Gäste – die Japaner haben eine eigene Rossini-Gesellschaft und reisen um den halben Erdball, um an ihrem geliebten Festival teilzuhaben – , so sind doch das Straßenbild und die Strandpromenade mit ihren ordentlich aufgestellten Liegen und Sonnenschirmen weniger durch das auch international etwas in die Jahre gekommene Opernpublikum geprägt, sondern vielmehr durch ganze Heerscharen entspannt-frohgestimmter vorwiegend junger italienischer Urlauber, Singles und Paare mit Kindern, die mit Oper offensichtlich wenig im Sinn haben.

Piazza del popolo

Für alle agilen und neugierigen Pesaro-Besucher gilt trotz des Termindrucks durch zahlreiche Veranstaltungen: Ein Bummel durch die Altstadt, Plausch mit den Nachbarn, ein Ausflug in die umliegende, an die Toscana erinnernde bergige Landschaft und nicht zuletzt dolce fa niente am Strand bilden eine hinreißende Verbindung zwischen Kultur, Sonne und Meer. Was kann es Schöneres geben? In Pesaro klappt alles wie am Schnürchen, auch der kostenlose Transfer zu der zur Oper umfunktionierten Sportarena "Adriatic Arena".

Adriatic Arena

Die Nebenkosten (kleiner Imbiss, Cappuccino) sind nicht überzogen, die italienischen Gastgeber glänzen mit Liebenswürdigkeit und Lockerheit, und es fehlt völlig an der kreischenden Verkaufsatmosphäre und Hektik mancher Touristenorte.

Am Strand von Pesaro

In diesem August war es wieder soweit: Das Rossini Opera Festival in der Geburtsstadt des Meisters lud ein, diesmal wies das "Programma" mit "L`equivoco stravagante" ("Die verrückte Verwechslung"), "Maometto II" und "Ermione" drei Opernproduktionen aus, über die ich berichten möchte.
Autorin: Astrid Fricke

Rossinis "Ermione" in Pesaro 2008

Die Oper des damals 27-jährigen Rossini wurde am 27. März 1819 in Neapel mit geringem Erfolg uraufgeführt. Nach wenigen Aufführungen wurde der zweite Akt vollständig gestrichen. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Oper wieder entdeckt und erlebte zumeist konzertante Wiederaufführungen, vornehmlich im angelsächsischen Raum.

In Deutschland sangen 1995 unter dem Dirigat Gustav Kuhns im Berliner Konzerthaus Daniela Longhi, Rosanna Mancarella, Patrizio Saudelli, Gianluca Floris und Enrico Facini. Die drei letztgenannten Tenöre hatten zuvor eine Saison lang am Staatstheater Braunschweig im „Otello“ von Rossini geglänzt. Damals wurde eine, derzeit noch nicht abgeschlossene, neue Entwicklung in der Ausbildung junger Sängerinnen und Sänger im Belcanto-Gesang vorangetrieben. Auch in Italien, dem Mutterland des Belcanto, fehlte weitgehend die entsprechende Ausbildung. Heute kann man davon ausgehen, dass in den Hochburgen des Belcanto die alte Technik des Schöngesangs wieder beherrscht wird.

Antonino Siragusa als Oreste und Sonia Ganassi als Ermione Nun wird im Programmheft des Rossini Opera Festivals von 2008 stolz gefeiert, dass zumindest „Oreste“, einer der männlichen Hauptsänger in der Ermione, von Antonino Siragusa, einem Italiener, gesungen wird. Pirro wird von Gregory Kunde, einem Amerikaner, verkörpert, in der wichtigen Nebenrolle des Pilade hat es der deutsche Tenor Ferdinand von Bothmer auf die Bühnenbretter von Pesaro geschafft.

Die Handlung der Oper gemahnt an Mozarts Oper „Titus“ – die römische Fassung einer Tragödie, in der eine jeweils vor Eifersucht und Enttäuschung rasende Frau – Vitellia bei Mozart, Ermione bei Rossini - einen Mord befiehlt, den Sextus (in „Titus“) bzw. Oreste bei Rossini ausführen sollen.

ErmioneWenn eben von „Belcanto“-Schöngesang, die Rede war, so sprengt die „Ermione“ Rossinis, deren Libretto auf eine Tragödie Racines zurückgreift, das einer typischen italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts und auch einer „klassischen“ Rossini-Oper vorgegebene Muster in jeder Weise:

In der Ouvertüre singt ein unsichtbarer Männerchor, die Musik ist fast expressionistisch und nimmt phasenweise in ihrer Schärfe des Stils bereits Verdi und bei den zarten romantischen Bögen Bellini voraus. Die Hauptsängerin, zur Rossinizeit die Spanierin Isabella Colbran, welche Rossini selbst nicht nur als seine beste Sängerin, sondern auch als vorzügliche Schauspielerin schätzte, hat zum Schluss des ersten und auch des zweiten Aktes nicht die üblichen effektvollen letzten Töne zu singen, und außerdem wurde ihr, jedenfalls in Bezug auf die Oper „Mosé in Egitto“ von der zeitgenössischen Kritik vorgeworfen, sie singe „troppo laceranti le grida“ – „das Ohr zerreißende Schreie“ heißt es da wörtlich. Das mag auch für die „Gran Scena“ der Primadonna im zweiten Akt der „Ermione“ gelten, dort hat sie als enttäuschte und eifersüchtige Verlobte des Königs Pirro eine in sieben Teile gegliederte lange Arie, welche 69 Seiten des Autographs umfasst, zu bewältigen. Sie bringt so widersprüchliche Gefühle wie Liebe, Todessehnsucht, Eifersucht und Wut über ihre Demütigung in exaltierter Weise zu Gehör.

Rossinis eigene Befürchtung bereits vor der Premiere, die Oper könne „zu tragisch“ sein, mutet heute sonderbar an, war aber nicht unbegründet, da damals auch bei dem häufiger vertonten Stoff dieser Oper ein völlig unpassendes heiteres Ende zurechtgebogen wurde. Rossini wollte mit „Ermione“ etwas Außergewöhnliches schaffen, und das ist ihm gelungen. Allerdings bewirkt die Abweichung von der Tradition – wenige Ensembleszenen, wenige zündende Arien und stattdessen ein ständiges Auftrumpfen der überaus geforderten Hauptsänger – damals wie heute, dass selbst eingefleischte Rossini-Fans mit dieser Oper wenig anfangen können. Für mich stellte sie die schönste und aufregendste Inszenierung dieses Festivals dar. Ich wünsche der Oper eine wirkliche Renaissance.

Sonia Ganassi und Gregory Kunde Für die Oper werden in erster Linie grandiose Sängerschauspieler benötigt, in Pesaro gab es sie. Gregory Kunde überzeugt besonders im zweiten Akt und zeigt sängerisch mit der Stimme eines wahren Baritenore und darstellerisch die Zerrissenheit des Königs Pirro, der sich sehr wohl der Brisanz seiner unerwiderten Liebe zur schönen trojanischen Witwe und Mutter Andromaca, bewusst ist und zwangsläufig seine stolze Verlobte Ermione zurückstoßen muss. Als Otello machte Gregory Kunde im letzten Jahr in Pesaro noch mehr Eindruck auf mich. Da, wo er feurig die königlichen Koloraturen abfeuert, füllt seine schöne Stimme das Haus; seine lyrischen leisen Töne als die Sklavin Andromaca umwerbender Pirro gefielen mir dagegen nicht so recht. Das Publikum spendete ihm dennoch begeisterten Beifall.

Antonino Siragusa hielt mit starkem, in jeder Lage strahlendem „dramatischem" Tenor die schwierige Partie des Oreste bis zum Ende durch. Man nahm ihm die glühende bedingungslose Liebe zu Ermione ab und litt mit ihm, als er einwilligte, den ihm aufgezwungenen „Mord aus Liebe“ an König Pirro auszuführen, obwohl die sprungbereit im Hintergrund noch angeleint lauernden Erinnyen – kauernde Wesen mit schwarzen Hundeköpfen – bereits Unheil ankündigten.

Sonia Ganassi als Ermione sang makellos mit vollem Sopran und agierte mit viel Gefühl. Unglaublich, welche Kraft für diese Rolle vonnöten ist!

Marianna Pizzolato als Andromaca

Eine weitere Hauptrolle fällt der Andromaca, makellos von Marianna Pizzolato verkörpert, zu.

Auch die Nebenrollen: Nicola Ulivieri (Fenicio), Irina Samoylova (Cleone), Cristina Faus (Cefisa), Riccardo Botta (Attalo) und nicht zuletzt der bereits erwähnte Ferdinand von Bothmer als Pilade fügten sich hervorragend in das Ensemble ein, ebenso wie der Coro da camera di Praga unter Jaroslav Brych. Ferdinand von Bothmer hatte sich endgültig im zweiten Akt freigesungen und glänzte im Duett mit Nicola Uliveri als Fenicio. Den Taktstock schwang Roberto Abbado und hielt die Spannung von Anfang bis Ende. Besonders beeindruckten mich seine dynamisch fein abgestuften Begleitungen der zahlreichen, wunderbar auskomponierten Rezitative, in denen Rossini Passagen „von außerordentlicher Modernität“ (Bruno Cagli) gelingen.

Sonia Ganassi und Chor

Auch die Regie von Daniele Abbado war dem antiken Stoff angemessen: Einerseits klassisch-antike Kühle und Strenge in Bühnenbild und Kostümen in apartem Schwarz und Weiß sowie Rot, andererseits viel Bewegung und ausdrucksstarke Personenregie im zweiten Akt, wo oft nur zwei oder drei Sänger einander umkreisen. Im ersten Akt singt noch der Chor der Gefangenen in einem unterirdischen Verlies, das durch Mauern in verschiedene Bereiche getrennt wird und aus dem auch der kleine Sohn der Andromaca fast nackt herausgezogen wird.

Marianna Pizzolato Zu Beginn des zweiten Akts bewegt sich dort nur noch die unglückliche Andromaca. Der Schluss der Oper hätte meines Erachtens einen auch visuell dramatischeren, dynamischen Effekt gebraucht. Warum nicht die hundeköpfigen Erinnyen als Jäger des Oreste einsetzen, während Ermione auf der Bühne ohnmächtig zusammenbricht? „Gejagt von den Furien, (Orest) weggetragen von seinen Gefährten“– so endet die Oper (G. C. Ballola im Programmheft S. 27). Der Anblick des an die Palastpforte genagelten toten Pirro als Schlussbild befremdete dagegen nur, entsetzte jedoch nicht.

Bei der Abfassung dieser Rezension war mir das schöne diesjährige Begleitheft zur Oper „Ermione“ des Rossini-Festivals eine große Hilfe, insbesondere nützten die von Michael Aspinall in ein hervorragendes Englisch übersetzten Beiträge von Giovanni Carli Ballola sowie von Arrigo Quattrocchi, der auf S. 45 den Geschäftsführer der Rossini-Gesellschaft Reto Müller zitiert.

Autorin: Astrid Fricke, besuchte Vorstellung in der Adriatic Arena am 16. August.

Rossinis "Maometto II" in Pesaro 2008

Die Oper wurde in der Adriatic Arena aufgeführt. Es handelt sich um eine Neuproduktion in Zusammenarbeit mit dem Theater Bremen unter dem Dirigat des in Österreich geborenen Gustav Kuhn, Regie Michael Hampe. Ab 15. März 2009 wird diese Inszenierung in Bremen zu sehen sein. Das ist sicherlich für viele Opernfreunde eine willkommene Gelegenheit, nach Bremen zu fahren, da das großartige Werk selten szenisch aufgeführt wird.

Daniela Barcellona (Calbo), Francesco Meli (Erisso), Enrico Iviglia (Condulmiero)

Den Vater Erisso der jungen Anna, die den Feind Maometto liebt, sang Francesco Meli mit wunderbarer Tenorstimme. Anna selbst wurde mit hellem jugendlichem Sopran, der sich im Laufe der langen Partie deutlich steigerte, von der Lettin Marina Rebeka verkörpert. Calbo, der um Annas Hand anhält und sie schließlich erhält, war der ausdrucksstarken Daniela Barcellona auf den Leib geschneidert. Sie glänzte in der Hosenrolle, die ihr Koloraturen über mehrere Register hinweg abverlangte. Die Titelrolle des Maometto war auch diesmal wieder Michele Pertusi vorbehalten, der in jeder Hinsicht zu überzeugen vermochte. Die Nebenrollen wurden mit geschmeidigen Belcanto-Sängern besetzt: Enrico Iviglia sang den Condulmiero, Cosimo Ponozzo den Selimo. Es sang der Coro di camera di Praga unter Lubomìr Mátl; das Bühnenbild schuf Alberto Andreis, die Kostüme Chiara Donato.

Maometto II

Die stimmlichen Anforderungen an die Sänger sind auch in dieser Oper ungeheuer. Hinzu kommt die extreme Handlung, die nicht glücklich ausgeht, sondern mit dem Selbstmord Annas tragisch endet. Auch die männlichen Helden sind keine Sieger-, sondern eher Verlierertypen. Ihre militärische Lage in der belagerten Stadt ist aussichtslos, das Kriegsglück schwankt im Laufe der Handlung. Da die Oper im Italien des frühen 19. Jahrhunderts, das auf der Bühne keine Extreme sehen wollte, sondern eine gewisse klassische Mäßigung bevorzugte, aus der Reihe fiel und ihr dort zunächst kein großer dauerhafter Erfolg beschieden war, sah sich Rossini veranlasst, diese Oper später für Paris zu überarbeiten, ein Schicksal, dass seiner „Ermione“ verwehrt blieb, möglicherweise, weil dort zu sehr „weibliche“ Leidenschaften im Mittelpunkt standen, während im Maometto II immerhin eine Heer- und Waffenschau auf die Bühne gebracht werden kann.

Marina Rebaka (Anna), Francesco Meli (Erisso), Daniela Barcellona (Calbo)

An dieser Stelle wage ich eine Kritik an der Inszenierung. Wie die Fotos schonungslos zeigen, ist diese ausgesprochen konventionell; sie hätte ohne Weiteres aus den 60er bis 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen können. Ein Opernpublikum, das keine Experimente wünscht, kann der „Augenlust“ frönen und im Laufe der Aufführung orientalische prachtvolle Gewänder und Rüstungen, diverse in heroischer Pose ausgestreckte Schwerter, Bögen, Krummdolche etc. sowie vor dem Abend- oder Nachthimmel düster aufragende Burgzinnen studieren.

Marina Rebeka (Anna) und Chor

Wenn dann aber auch noch ein wenig inspiriertes, lediglich handwerklich sauber abgespultes Dirigat hinzukommt, wird es „eng“. Bei mir hinterließ die Aufführung daher insgesamt trotz der hingebungsvollen Bemühungen der Sänger keinen nachhaltigen Eindruck, zumal ich noch im Banne der noch extremeren und meiner Meinung nach viel packender inszenierten „Ermione“ stand. Anders verhielt es sich bei der konzertanten Aufführung des „Maometto II“ im Concertgebouw Amsterdam am 12. Mai 2007, die als musikalisches Ereignis in der Erinnerung bleibt.

Autorin: Astrid Fricke, besuchte Aufführung am 18.8.2008

26. August 2008

Rossinis “L'equivoco stravagante” in Pesaro 2008

Für diese Oper braucht man vor allem eines: vier hervorragende Sänger. Diese standen in Pesaro zur Verfügung: Ernestina wurde brillant und geschmeidig von Marina Prudenskaja gesungen, für mich eine der wichtigsten Entdeckungen des Festivals. Bruno de Simone verfügt über den beweglichen Bass, den die Rolle des Gamberotto erfordert. Marco Vinco machte als Buralicchio einen hervorragenden Eindruck. Da stimmte jede Note, und beim zungenbrecherischen Prestissimo sucht er seinesgleichen. Eine weitere Überraschung des Abends war für mich der weiche Tenor des Dmitry Korchak als Ermanno. Er wurde von der Regie weniger als „Lehrer“ der Ernestina, sondern vielmehr als sie permanent anschmachtender schüchterner Liebhaber im modernen etwas schlabberigen Freizeitlook vorgeführt, durfte sich aber zu Recht über den einzigen enthusiastischen Szenenapplaus des Abends freuen. Hinzu kommen die Dienerrollen der Rosalia, hervorragend gestaltet von Amanda Forsythe, und des Frontino, ebenso gut gesungen von Ricardo Mirabelli.

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In gewohnter klanglicher Qualität trat der Coro da camera di Praga auf, diesmal wieder von Pavel Vanek geleitet. Auch die Choreographie des Chores stimmte: Beflissene Angestellte im ersten Akt, torkelnde Ordnungshüter im zweiten. Es spielte das Orchestra Haydn di Bolzano e Trento unter dem Dirigat von Umberto Benedetti Michelangeli schnell, makellos, aber unterkühlt. Hier fehlte der Schwung, das sahen andere Opernliebhaber ebenso. Überhaupt hatte die Aufführung Mühe, in Fahrt zu kommen, und wurde vom Publikum recht kühl aufgenommen. Vielleicht lag das an der Inszenierung, die sehr ausgefeilt war, aber der Ironie, dem Witz und der Doppelbödigkeit der Vorlage wegen eines verfehlten Konzepts nicht gerecht wurde. Das Regiekonzept verhinderte eine Feinzeichnung des Charakters der tragenden Frauenrolle Ernestina.

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Diese hat die ausdrucksstärksten und schwierigsten Arien zu singen. Ihr Charakter ist differenziert angelegt: Sie studiert einerseits Philosophie und spricht Ermanno als „nuovo Plato“ an, als Gamberotto ihn als ihren Hauslehrer (und gleichzeitig Buralicchio als ihren künftigen Verlobten) vorstellt. Andererseits wird sie von einem ihr bisher unbekannten Liebessehnen erfasst, das sie selbst als „ipocondria“ bezeichnet. Sie vergräbt sich in ihrer „magnifica libreria“, ihrer „prächtigen Bibliothek“, und ruft sowohl die Göttin Minerva als auch Ariost und andere Dichter als Verfasser „moralischer Bücher“ auf, ihr bei ihrer „ipocondria“ beizustehen. „Ernestina, an einen Tisch gelehnt, über verschiedenen Büchern sinnend, indem sie mal das eine, mal das andere mit der Lorgnette betrachtet“ (Regieanweisung im Original-Libretto). In geradezu liebevoller und gleichzeitig spöttischer Weise wird hier Ernestinas innere Welt abgebildet.

Im ursprünglichen Libretto sind die von ihr gesungenen Verse geradezu schockierend. Marco Beghelli und Stefano Piana belegen unter der Überschrift: „Ein etwas …'schlüpfriger Start'“ im Programmheft der Bad Wildbader Aufführung von 2000 an Beispielen, inwieweit die Zensur bereits vor der ersten Aufführung Passagen des Chors, in denen unverhohlen Ernestinas sexuelle Unerfülltheit angesprochen wird, „entschärfte“ und in Verse umwandelte, „an denen nicht einmal der Prüdeste Anstoß nehmen kann“.

Der Konflikt zwischen Ratio und Gefühl bleibt jedoch. Ernestina: „Schuld ist die Liebe, die dieses Herz zerreißt….“ Chor als Antwort: „Welche Frau! Ein wahrer Merkur! Welch großes Wissen.“ Dieser Konflikt zeigt sich später noch einmal, als Ernestina den Verehrer Ermanno im letzten Akt zunächst mit Haarspaltereien grausam zurückweist und auf die Probe stellt (10. Szene: „Ich bin aus anderem Holz geschnitzt, bin eine ernsthafte Literatin, das versichere ich dir.“), bevor die beiden, begleitet von resignierenden bis abgeklärten Tönen Buralicchios und Gamberottos, endlich im innigen Liebesduett vereint sind. Bis dahin versucht Ernestina in komischer Weise während der ganzen Oper, sich als Philosophin und kühle Analytikerin von Gefühlen zu profilieren: Den Körper bestimmt sie für den Verlobten, die Seele für den Lehrer.

Ernestina als „Bücherwurm“ verlässt also schon im Jahre 1811, als die Oper in Bologna uraufgeführt und nach drei Aufführungen von der Zensur wieder abgesetzt wurde, die Pfade traditioneller Weiblichkeit, sie ist eine „Emanze“. Allerdings keine hässliche, wie das Libretto unmissverständlich klar macht, sondern eine schöne, die auch den reichen und etwas dummen „Tölpel“ Buralicchio zu reizen vermag – oder ist es nur die zu erwartende Mitgift?

Nach nur drei Aufführungen wurde, wie gesagt, die Oper abgesetzt und für lange Zeit nicht mehr aufgeführt, ein unverdientes Schicksal! Möglicher Grund für das Verschwinden dieser Oper von den Spielplänen des 19. Jahrhunderts mag auch die Unverfrorenheit gewesen sein, mit der sich das Libretto über Kastraten lustig macht, ein damals heikles Thema. Der Diener Frontino spielt Buralicchio nämlich einen Brief zu, in dem die Rede davon ist, dass Ernestina in Wirklichkeit Ernesto, Sohn Gamberottos, sei und als Mädchen verkleidet vor dem Militärdienst versteckt werde. Buralicchio glaubt sofort, maskuline Züge an seiner mit Ermanno turtelnden Verlobten zu entdecken, und lässt sie als vermeintlich Fahnenflüchtigen verhaften. Nachdem Ermanno sie aus dem Gefängnis befreit hat, wird Buralicchio zur Rede gestellt, und allgemeine Empörung löst sein Ausruf aus, Ernestina sei doch ein „musico“ – seinerzeit Synonym für einen Kastraten. Zu dieser Thematik kann allerdings eine im 21. Jahrhundert angesiedelte Inszenierung nicht recht passen.

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In der Inszenierung in Pesaro wird aus dem „reichen Bauern“ und Schlossbesitzer Gamberotto nämlich ein heutiger neureicher Obst- und Gemüsehändler. Gleich zu Beginn stehen große Container mit entsprechenden Aufschriften auf der Bühne des alt-ehrwürdigen Rossini-Theaters. Das wirkt sehr ernüchternd, wenngleich wohl niemand die „Außenansicht eines alten Schlosses mit Zugtüre, die hineinführt“ erwartet hat. Dann verändert sich die Szenerie, es sieht aus nach Konzernzentrale mit Hintergrundflächen in schwarz-weißem Schachbrettmuster. Auf einem riesigen Glastisch, getragen von weißen Bällen, räkelt sich mit katzengleichen Bewegungen Ernestina, singt vor Augen und Ohren der mal ergriffen lauschenden, mal vor ihr ängstlich zurückweichenden „Manager“ ihre Arie, in der sich alles um ihre „Unausgefülltheit“, ihre rätselhafte innere Leere dreht. Keine Bibliothek, nur ein einziges Buch, in dem sie blättert.

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Ernestina ist in Papas Betrieb offenbar zur Juniorchefin aufgestiegen. Durch diese Angepasstheit, durch ihre Reduktion auf eine sexy Wildkatze im hautengen schwarzen Glitzerkleid mit weißer Schärpe, die die Männer anzieht und gleichzeitig abstößt, wird der Rolle ihre Vielschichtigkeit genommen. Ernestina ist hier offenbar eine moderne Emanze, aber eine solche, die sich nur noch im Aufbegehren gegen die Männerwelt verwirklicht. Da bot die Bad Wildbader Inszenierung mehr, hier durfte Ernestina charmant und hübsch sein, aber auch etwas linkisch und vor allem an Philosophie und Büchern interessiert. Von dieser Literaturbegeisterung war in Pesaro nichts zu bemerken.

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Nach dem strengen schwarz-weißen Start im ersten Akt wurde es im zweiten Akt bunt. Zunächst ein sündiges Rot, dann trat das weibliche Personal in grellfarbigen rosa und grünen Tüllröcken auf, die nicht jede Dame vorteilhaft aussehen ließen.

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Lediglich das große Sitzmöbel inmitten der Bühne in Form einer großen aufgeschnittenen Himbeere, auf der sich das Liebespaar Ernestina und Ermanno scheinbar verborgen mit dem Rücken zum Publikum umarmt, war witzig und faszinierend, gestattete doch ein darüber angebrachter Spiegel mit Goldrand dem Publikum, die turtelnden Tauben zu beobachten.

Insgesamt eine Inszenierung, die - gemessen an gewohnten Zumutungen - nicht erschreckt, aber auch nicht restlos zufrieden stellt. Vor allem bleibt die fantastische gertenschlanke und groß gewachsene Marina Prudenskaja im Gedächtnis haften, die mit ihrer Stimme all das auszudrücken vermochte, was die Regie von Emilio Sagi und das Bühnenbild von Francesco Calcagnini schuldig blieben.
(Librettoauszüge auf Deutsch zitiert nach Reto Müller, L'equivoco stravagante, Libretto Italienisch/Deutsch, Rossini in Wildbad 2000)

Autorin: Astrid Fricke unter Mitarbeit von esg, besuchte Vorstellung am 14. Aug. 2008 im Teatro Rossini