26. August 2008

Rossinis “L'equivoco stravagante” in Pesaro 2008

Für diese Oper braucht man vor allem eines: vier hervorragende Sänger. Diese standen in Pesaro zur Verfügung: Ernestina wurde brillant und geschmeidig von Marina Prudenskaja gesungen, für mich eine der wichtigsten Entdeckungen des Festivals. Bruno de Simone verfügt über den beweglichen Bass, den die Rolle des Gamberotto erfordert. Marco Vinco machte als Buralicchio einen hervorragenden Eindruck. Da stimmte jede Note, und beim zungenbrecherischen Prestissimo sucht er seinesgleichen. Eine weitere Überraschung des Abends war für mich der weiche Tenor des Dmitry Korchak als Ermanno. Er wurde von der Regie weniger als „Lehrer“ der Ernestina, sondern vielmehr als sie permanent anschmachtender schüchterner Liebhaber im modernen etwas schlabberigen Freizeitlook vorgeführt, durfte sich aber zu Recht über den einzigen enthusiastischen Szenenapplaus des Abends freuen. Hinzu kommen die Dienerrollen der Rosalia, hervorragend gestaltet von Amanda Forsythe, und des Frontino, ebenso gut gesungen von Ricardo Mirabelli.

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In gewohnter klanglicher Qualität trat der Coro da camera di Praga auf, diesmal wieder von Pavel Vanek geleitet. Auch die Choreographie des Chores stimmte: Beflissene Angestellte im ersten Akt, torkelnde Ordnungshüter im zweiten. Es spielte das Orchestra Haydn di Bolzano e Trento unter dem Dirigat von Umberto Benedetti Michelangeli schnell, makellos, aber unterkühlt. Hier fehlte der Schwung, das sahen andere Opernliebhaber ebenso. Überhaupt hatte die Aufführung Mühe, in Fahrt zu kommen, und wurde vom Publikum recht kühl aufgenommen. Vielleicht lag das an der Inszenierung, die sehr ausgefeilt war, aber der Ironie, dem Witz und der Doppelbödigkeit der Vorlage wegen eines verfehlten Konzepts nicht gerecht wurde. Das Regiekonzept verhinderte eine Feinzeichnung des Charakters der tragenden Frauenrolle Ernestina.

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Diese hat die ausdrucksstärksten und schwierigsten Arien zu singen. Ihr Charakter ist differenziert angelegt: Sie studiert einerseits Philosophie und spricht Ermanno als „nuovo Plato“ an, als Gamberotto ihn als ihren Hauslehrer (und gleichzeitig Buralicchio als ihren künftigen Verlobten) vorstellt. Andererseits wird sie von einem ihr bisher unbekannten Liebessehnen erfasst, das sie selbst als „ipocondria“ bezeichnet. Sie vergräbt sich in ihrer „magnifica libreria“, ihrer „prächtigen Bibliothek“, und ruft sowohl die Göttin Minerva als auch Ariost und andere Dichter als Verfasser „moralischer Bücher“ auf, ihr bei ihrer „ipocondria“ beizustehen. „Ernestina, an einen Tisch gelehnt, über verschiedenen Büchern sinnend, indem sie mal das eine, mal das andere mit der Lorgnette betrachtet“ (Regieanweisung im Original-Libretto). In geradezu liebevoller und gleichzeitig spöttischer Weise wird hier Ernestinas innere Welt abgebildet.

Im ursprünglichen Libretto sind die von ihr gesungenen Verse geradezu schockierend. Marco Beghelli und Stefano Piana belegen unter der Überschrift: „Ein etwas …'schlüpfriger Start'“ im Programmheft der Bad Wildbader Aufführung von 2000 an Beispielen, inwieweit die Zensur bereits vor der ersten Aufführung Passagen des Chors, in denen unverhohlen Ernestinas sexuelle Unerfülltheit angesprochen wird, „entschärfte“ und in Verse umwandelte, „an denen nicht einmal der Prüdeste Anstoß nehmen kann“.

Der Konflikt zwischen Ratio und Gefühl bleibt jedoch. Ernestina: „Schuld ist die Liebe, die dieses Herz zerreißt….“ Chor als Antwort: „Welche Frau! Ein wahrer Merkur! Welch großes Wissen.“ Dieser Konflikt zeigt sich später noch einmal, als Ernestina den Verehrer Ermanno im letzten Akt zunächst mit Haarspaltereien grausam zurückweist und auf die Probe stellt (10. Szene: „Ich bin aus anderem Holz geschnitzt, bin eine ernsthafte Literatin, das versichere ich dir.“), bevor die beiden, begleitet von resignierenden bis abgeklärten Tönen Buralicchios und Gamberottos, endlich im innigen Liebesduett vereint sind. Bis dahin versucht Ernestina in komischer Weise während der ganzen Oper, sich als Philosophin und kühle Analytikerin von Gefühlen zu profilieren: Den Körper bestimmt sie für den Verlobten, die Seele für den Lehrer.

Ernestina als „Bücherwurm“ verlässt also schon im Jahre 1811, als die Oper in Bologna uraufgeführt und nach drei Aufführungen von der Zensur wieder abgesetzt wurde, die Pfade traditioneller Weiblichkeit, sie ist eine „Emanze“. Allerdings keine hässliche, wie das Libretto unmissverständlich klar macht, sondern eine schöne, die auch den reichen und etwas dummen „Tölpel“ Buralicchio zu reizen vermag – oder ist es nur die zu erwartende Mitgift?

Nach nur drei Aufführungen wurde, wie gesagt, die Oper abgesetzt und für lange Zeit nicht mehr aufgeführt, ein unverdientes Schicksal! Möglicher Grund für das Verschwinden dieser Oper von den Spielplänen des 19. Jahrhunderts mag auch die Unverfrorenheit gewesen sein, mit der sich das Libretto über Kastraten lustig macht, ein damals heikles Thema. Der Diener Frontino spielt Buralicchio nämlich einen Brief zu, in dem die Rede davon ist, dass Ernestina in Wirklichkeit Ernesto, Sohn Gamberottos, sei und als Mädchen verkleidet vor dem Militärdienst versteckt werde. Buralicchio glaubt sofort, maskuline Züge an seiner mit Ermanno turtelnden Verlobten zu entdecken, und lässt sie als vermeintlich Fahnenflüchtigen verhaften. Nachdem Ermanno sie aus dem Gefängnis befreit hat, wird Buralicchio zur Rede gestellt, und allgemeine Empörung löst sein Ausruf aus, Ernestina sei doch ein „musico“ – seinerzeit Synonym für einen Kastraten. Zu dieser Thematik kann allerdings eine im 21. Jahrhundert angesiedelte Inszenierung nicht recht passen.

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In der Inszenierung in Pesaro wird aus dem „reichen Bauern“ und Schlossbesitzer Gamberotto nämlich ein heutiger neureicher Obst- und Gemüsehändler. Gleich zu Beginn stehen große Container mit entsprechenden Aufschriften auf der Bühne des alt-ehrwürdigen Rossini-Theaters. Das wirkt sehr ernüchternd, wenngleich wohl niemand die „Außenansicht eines alten Schlosses mit Zugtüre, die hineinführt“ erwartet hat. Dann verändert sich die Szenerie, es sieht aus nach Konzernzentrale mit Hintergrundflächen in schwarz-weißem Schachbrettmuster. Auf einem riesigen Glastisch, getragen von weißen Bällen, räkelt sich mit katzengleichen Bewegungen Ernestina, singt vor Augen und Ohren der mal ergriffen lauschenden, mal vor ihr ängstlich zurückweichenden „Manager“ ihre Arie, in der sich alles um ihre „Unausgefülltheit“, ihre rätselhafte innere Leere dreht. Keine Bibliothek, nur ein einziges Buch, in dem sie blättert.

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Ernestina ist in Papas Betrieb offenbar zur Juniorchefin aufgestiegen. Durch diese Angepasstheit, durch ihre Reduktion auf eine sexy Wildkatze im hautengen schwarzen Glitzerkleid mit weißer Schärpe, die die Männer anzieht und gleichzeitig abstößt, wird der Rolle ihre Vielschichtigkeit genommen. Ernestina ist hier offenbar eine moderne Emanze, aber eine solche, die sich nur noch im Aufbegehren gegen die Männerwelt verwirklicht. Da bot die Bad Wildbader Inszenierung mehr, hier durfte Ernestina charmant und hübsch sein, aber auch etwas linkisch und vor allem an Philosophie und Büchern interessiert. Von dieser Literaturbegeisterung war in Pesaro nichts zu bemerken.

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Nach dem strengen schwarz-weißen Start im ersten Akt wurde es im zweiten Akt bunt. Zunächst ein sündiges Rot, dann trat das weibliche Personal in grellfarbigen rosa und grünen Tüllröcken auf, die nicht jede Dame vorteilhaft aussehen ließen.

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Lediglich das große Sitzmöbel inmitten der Bühne in Form einer großen aufgeschnittenen Himbeere, auf der sich das Liebespaar Ernestina und Ermanno scheinbar verborgen mit dem Rücken zum Publikum umarmt, war witzig und faszinierend, gestattete doch ein darüber angebrachter Spiegel mit Goldrand dem Publikum, die turtelnden Tauben zu beobachten.

Insgesamt eine Inszenierung, die - gemessen an gewohnten Zumutungen - nicht erschreckt, aber auch nicht restlos zufrieden stellt. Vor allem bleibt die fantastische gertenschlanke und groß gewachsene Marina Prudenskaja im Gedächtnis haften, die mit ihrer Stimme all das auszudrücken vermochte, was die Regie von Emilio Sagi und das Bühnenbild von Francesco Calcagnini schuldig blieben.
(Librettoauszüge auf Deutsch zitiert nach Reto Müller, L'equivoco stravagante, Libretto Italienisch/Deutsch, Rossini in Wildbad 2000)

Autorin: Astrid Fricke unter Mitarbeit von esg, besuchte Vorstellung am 14. Aug. 2008 im Teatro Rossini

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