Auf dem Spielplan stehen von September bis in den November hinein Aufführungen der Rossini-Opern Il barbiere di Siviglia und Il turco in Italia, der Donizetti-Opern Lucia di Lammermoor, L'elisir d'amore und La Fille du Régiment sowie der Verdi-Opern La Traviata und Rigoletto. Es handelt sich dabei um Inszenierungen, die - abgesehen von Lucia di Lammermoor - bereits seit Jahren (Traviata, Barbiere und L'elisir sogar schon seit den 1970er Jahren) im Repertoire stehen und nunmehr teilweise attraktiv besetzt worden sind. Im Mai 2011 wird es eine Neuinszenierung von Rossinis La Cenerentola geben, - schon wieder Cenerentola, muss man leider sagen. Denn die letzte Neuinszenierung war erst 1998, seinerzeit von der Presse zwar überwiegend verrissen, m. E. aber sehr gelungen (was sich auch in Folgeaufführungen, von denen ich wegen Rockwell Blake mehrere besuchte, durch in Hamburg seltenen Szenenapplaus des amüsierten Publikums bestätigte). Leider ist die Spielplanpolitik von Frau Young generell dadurch gekennzeichnet, häufig ausgerechnet solche Werke für die wenigen möglichen Premieren auszuwählen, die vor gar nicht langer Zeit gerade neu inszeniert worden waren (auch wenn das zugegebenermaßen nicht immer eine Bereicherung des Spielplans geworden war). Auf eine opera seria von Rossini oder auf die szenische Produktion einer Oper von Bellini wartet man leider immer noch vergeblich. Auch die Barockoper ist an der Hamburgischen Staatsoper nicht mehr existent, sogar das Händeljahr - Händel hatte immerhin in Hamburg für die Oper am Gänsemarkt seine ersten drei Opern komponiert - wurde schlicht ignoriert, es gab nicht einmal die Wiederaufnahme einer Produktion. Da war es schon sehr peinlich zu erleben, wie Frau Young im Händel-Film des NDR Fernsehens von Hamburg als Händelstadt erzählte und von den schönen Produktionen der Hamburgischen Staatsoper schwärmte!
Nun aber zurück zu den Belcanto-Wochen, in denen ich bisher Aufführungen von Il barbiere di Siviglia, Lucia di Lammermoor und Il turco in Italia besucht habe.
Rossini – Il barbiere di Siviglia (16. September 2010)
Die Belcanto-Wochen begannen für mich am 16. September mit einer sehr enttäuschenden Aufführung des Barbiere di Siviglia. Ausweislich des Programmzettels wurde die 187. Vorstellung seit der Premiere am 29. Dezember 1976 gegeben. Normalerweise steht das Alter dieser zeitlosen Produktion einem vergnüglichen Abend nicht entgegen, wenn die Solisten gut aufeinander eingestellt sind. In dieser Vorstellung wirkten aber insbesondere die Duette und Ensembles auf mich eher distanziert, insbesondere wenn Vesselina Kasarova daran beteiligt war, deren oftmals abrupte Zuckungen – und da meine ich selbstverständlich nicht die Mimik, sondern die Bewegungen des Körpers – nicht gerade Charme versprühten. Sie sang die Rosina, und leider stellte sich heraus, dass die Stimme für das große Haus – jedenfalls für die oberen Ränge – zu klein war. Ob es allein die Abendform war, kann ich natürlich nicht beurteilen. Allerdings war Frau Kasarova die einzige an diesem Abend, die Belcantogesang bot. Der Sänger des Figaro, Massimo Cavaletti, machte darstellerisch gute Figur, war von allen der Lauteste und bot ansonsten verwaschene Koloraturen und ein eher brüchiges Legato. Der Tenor des Abends, Bruce Sledge, sang und spielte eher unauffällig, - die große Arie des Almaviva „Cessa di più resistere“ wurde wieder nicht gesungen (was in diesem Fall aber auch nicht unbedingt zu bedauern war), - natürlich wieder nicht, nachdem sie – trotz freundlichen Mailwechsels mit der Chefdramaturgin und dem damaligen Operndirektor – vorletzte Spielzeit nicht einmal Lawrence Brownlee gesungen hatte; da muss man wohl nach Berlin fahren, dort ist sie Teil der Inszenierung (Video). Die weiteren Solisten der Hamburger Aufführung – Enzo Capuano als Don Bartolo, Tigran Martirossian als Don Basilio und Katja Pieweck als Berta – boten ansprechende Leistungen. Die musikalische Leitung hatte Julien Salemkour, der den Philharmonikern leider kein differenziertes Spiel entlocken konnte; die Ouvertüre erschreckte gar mit Passagen à la „Hau den Lukas“...
Donizetti – Lucia di Lammermoor (17. September 2010)
Am folgenden Abend war dann aber die Opernwelt wieder in Ordnung: Lucia di Lammermoor von Donizetti. Das große Plus dieser Neuproduktion aus Januar 2010 ist, dass – anders als bei der arg amputierten Version der Inszenierung von 1998 - die absolut ungekürzte Fassung gespielt wird, also auch jede Cabaletta mit Wiederholung, und ein besonderer musikalischer Genuss ist es, wenn man dann noch Sänger hat, die bei der Wiederholung den Gesetzen des Belcanto entsprechend Variationen und Verzierungen singen können. Diese Freude machten uns in großem Maße Elena Mosuc in der Titelpartie und Piotr Beczala als Edgardo, beide stimmlich in Höchstform. Artur Rucinski präsentierte in der Partie des Enrico beeindruckendes Stimmmaterial, und Alexander Tsymbalyuk sang einen balsamischen Raimondo, dessen Partie in dieser ungestrichenen Fassung mit zwei Arien bedeutend gewichtiger ist als gewohnt. Hervorragend war Dovlet Nurgeldiyev als Arturo, den er sehr klangschön und mit einem wunderbaren Legato sang. Dieser junge Tenor ist nun aus dem Opernstudio ins Ensemble übernommen worden, sang bereits letzte Spielzeit einen sehr guten Don Ottavio und wird diese Spielzeit Alfredo, Lenski und Cassio singen. Aufhorchen ließ auch der dritte Tenor des Abends, Paulo Paolillo als Normanno, seit Beginn dieser Spielzeit neu im Opernstudio. Ann-Beth Solvang sang Alisa. Das Dirigat von Simone Young war erfreulicher als bei der Premiere.
Es ist auch noch über ein besonderes und einmaliges Vorkommnis bei dieser Aufführung zu berichten, das Piotr Beczala und Elena Mosuc zu verdanken ist, die – wie ich vermuten möchte, eigenmächtig – die Inszenierung in dieser letzten von ihnen gesungenen Aufführung um eine überraschende szenische Einlage bereicherten. Besucher der beiden vorangegangenen Aufführungen dieser Serie wussten nichts davon zu berichten, und auch in der Premiere hatte es diesen Gag nicht gegeben. Ich habe Vergleichbares noch niemals erlebt! Zum Verständnis kurz etwas zur Inszenierung: Nach den Vorstellungen der Regisseurin Sandra Leupold erwachen nachts im Fundus eines Opernhauses die Geister der vom Komponisten zum Singen erfundenen Figuren, sie will uns zeigen, was die Geister dieser Figuren machen, wenn sie die Körper ihrer Sänger nachts verlassen haben. Und was machen sie dann? Offenbar spielen sie „Lucia di Lammermoor“, in ziemlich düsterer Szenerie und die Chormitglieder und einige der Solisten in historischen Kostümen, Lucia und ihr Bruder Enrico seltsamerweise aber in Kleidung von heute, - er im Rautenpullunder und sie zunächst in einem undefinierbaren verknauschten Etwas von weißem Schlabber-Hosenanzug (oder Pyjama?), später dann in einem dunklen kurzen und engen Kleid mit Wollstrümpfen ebenfalls im groben Rautenmuster (das weiße Brautkleid wird später drübergezogen). Edgardo und Raimondo dagegen haben prachtvolle historische Kostüme und sehen hinreißend aus. Ein erheiternder Höhepunkt – und um den geht es jetzt speziell – ist das Liebesduett im ersten Akt. Lucia zieht von der Hinterbühne ein Podest mit zwei Palmen nach vorne (da scheinen sich im Fundus auch die Kulissen zur „Afrikanerin“ oder einer anderen in exotischen Gefilden spielenden Oper zu befinden), Lucia und Edgardo erklimmen jeder den Wipfel einer Palme und singen schaukelnd und sich wiegend ihren Traum von einer glücklichen Zukunft, eben die Utopie auf einer Trauminsel. So taten es denn auch Elena Mosuc und Piotr Beczala, sie schnallte sich an für möglichst weitgreifende Schwingungen, er mal rauf auf die Palme, mal wieder runter und wieder rauf, und – jetzt kommt es endlich! – er hat auf einmal – auch vom 4. Rang aus nicht zu übersehen - etwas in der ausgestreckten Hand. Das kann doch nicht wahr sein! Aber ein Blick durchs Opernglas bestätigt es: Edgardo hat eine Banane in der Hand, die er schält und seiner glücklich lächelnden Lucia hinhält, - „Ich Tarzan, du Jane“? Elena Mosuc hatte übrigens auch eine (ungeöffnete) Banane in der Hand, was jedoch nur bei genauerem Hinsehen zu bemerken war, aber Piotr Beczala hatte offensichtlich keine Hemmungen, sich über die Inszenierung lustig zu machen. Wahrscheinlich werden die meisten Zuschauer diese Protestaktion aber gar nicht als solche wahrgenommen, sondern die Banane für einen Teil dieser unsinnigen Inszenierung gehalten haben, die noch weitere skurrile Szenen zu bieten hat, z. B. eine veritable Kissenschlacht...! Frau Young im Orchestergraben wird Beczalas Aktion aber sicherlich richtig verstanden haben.
Einen kleinen Eindruck von der Inszenierung mit Palmen vermittelt dieses Video:
Rossini – Il turco in Italia (7. und 15. Oktober 2010)
Die Inszenierung des Turco in Italia von Christof Loy ist so gelungen, dass ich sie mir seit der Premiere am 20. März 2005 unabhängig von der jeweiligen Besetzung schon des Öfteren angesehen habe, und auch dieses Mal verließ ich die Vorstelllung am 7. Oktober so beglückt, dass ich mir umgehend eine Karte auch für den 15. Oktober besorgte. Hier wird nicht – wie so oft bei Inszenierungen der Buffo-Opern Rossinis - eine komische Handlung lediglich locker abgespult und das Publikum mit mehr oder weniger gelungenen Gags zum Lachen gebracht, sondern Loy schaut auch unter die Oberfläche dieser Szenen einer Ehe, deren musikalische Krönung die große Arie der Fiorilla ist, eine Arie, die eher in eine Opera seria passt. Und selbst dann, wenn das Publikum herzhaft lachen kann, bleibt man oft nachdenklich.
Im Mittelpunkt dieser Aufführungsserie im Rahmen der Belcanto-Wochen stand das Gastspiel von Sumi Jo, die als Fiorilla alle Register ihres Belcantowissens und Könnens zog und bei dem nicht enden wollenden Beifallssturm nach der mit wunderbaren Verzierungen und Variationen ausgeschmückten großen Arie kurz aus ihrer Rolle trat, als sie die Arme nicht mehr hochhalten konnte, und sich mit einer Kusshand bedankte. Um sie herum wirbelte ein ebenso spielfreudiges wie gesanglich erfreuliches Ensemble, alle Rollen – mit Ausnahme der des Selim - waren neu besetzt und gut geprobt, und die Sänger hatten offenkundig viel Spaß bei dieser Inszenierung. Luciano di Pasquale sang einen ausgezeichneten Don Geronio. Filippo Adami, vielen Rossinanern von den Festivals in Bad Wildbad und in Pesaro in guter Erinnerung, hatte als höhensicherer und koloraturgewandter Don Narciso großen Erfolg. Die beliebten Hamburger Ensemblemitglieder Moritz Gogg (Prosdocimo) und Tigran Martirossian (Selim) sangen solide und spielten ausgezeichnet, ebenso die neuen Opernstudiomitglieder Juhee Min (Zaida) und Paulo Paolillo (Albazar). Für richtig flotte Tempi sorgte Alfred Eschwé.