Das diesjährige ROF war eigentlich für die Rossini-Freunde besonders attraktiv, weil es gleich zwei Neuigkeiten gab, nämlich
Sigismondo (der wegen der italienischen Finanzpolitik im letzten Jahr ausgesetzt werden musste) und
Demetrio e Polibio, die beide im stilgerechten Teatro Rossini aufgeführt wurden. (Daneben konnte man, wenn man dafür die Fahrt in die Adriatic Arena in Kauf nehmen wollte, mit
La Cenerentola auch noch die Wiederaufnahme einer „Ronconiana“ von 1998 sehen.) Weniger attraktiv und stilgerecht erwiesen sich wie befürchtet die Neuinszenierungen, derentwegen laut der irrigen Meinung des ROF-Intendanten (vgl. Interview mit Gianfranco Mariotti in
«La Gazzetta» 2009) die Leute zu einem Festival reisen würden; zumindest bei den Rossini-Festivals ist es aber so, dass der Hauptteil des Publikums wegen der Werke und der Sänger herkommt, und zwar leider immer öfter trotz der Inszenierungen.
Ich wusste schon 1995, als ich
Sigismondo für das Festival in Wildbad zur Aufführung anregte, dass dieses „Psychodrama“ in den Händen moderner Regisseure auf gefährliche Abwege zu geraten droht. Doch Jochen Schönleber und Annette Hornbacher boten die Oper damals in einer überraschend ansprechenden Ausstattung, besonders in der Waldszene, in der hohe Spiegel aufgestellt waren, die die wahren, falschen und vermeintlichen Identitäten sehr gut symbolisierten. Das Finale haben sie dann allerdings ganz werkfremd als Buffoszene dargestellt. Damiano Michieletto nimmt das Stück in Pesaro ernst, wenn er es ohne Ironie mit einem verhaltenen und nicht ausgelassenen Versöhnung Aldimiras und Sigismondos und der Bestrafung Ladislaos enden lässt. Er nimmt das Stück auch ernst, wenn er den Zwiespalt der Personen, ihre Unsicherheiten und Sehnsüchte erkennt und umsetzt. Aber er nimmt das Libretto und teilweise auch die Musik überhaupt nicht für voll, wenn er aus diesem „Stoff“ eine eigene Geschichte, statt derjenigen, die ihm vorliegt, inszeniert. Er verlegt den ganzen ersten Akt kurzerhand in eine Irrenanstalt (was gerade
en vogue ist), während im zweiten Akt nicht klar wird, wo man sich befindet. Vieles spricht dafür, dass es sich um die Kanzlei der Regierung handelt, wo nach der Rückkehr des Königs die Möbel wieder zurecht gerückt werden (neben Ronconis
Cenerentola also noch ein Möbellager). Aber wieso tauchen die Irren wieder auf? Vielleicht grenzt der Palast direkt ans Irrenhaus, oder – wie sinnig, vor allem wenn man an die heutige italienische Politik denkt – der Palast
ist das Irrenhaus… Am Schluss werden auf jeden Fall die Missetäter von den Irren abgeholt – sie erhalten ihre gerechte Strafe, indem sie selber in den Sog der Demenz gezogen werden. Wie man sieht, bietet die Inszenierung eine ganze Reihe von (irr)sinnigen und schlüssigen Anregungen. Leider werden dabei Libretto und Musik allzu oft übergangen. Striche in den Rezitativen sind von jeher auch in Pesaro kein Tabu (wiewohl sie es aus philologischer Sicht sein sollten), aber dass sie zu einem großen Teil schlicht aus Willfährigkeit gegenüber dem Regisseur gemacht werden, ist ein Armutszeugnis für ein Festival, das sich Werktreue auf die Fahnen geschrieben hat. Die Kürzungen, die hier vorgenommen wurden (und neuerdings im Programmheft gekennzeichnet werden), sind in weiten Teilen auf den neuen Handlungsort zurückzuführen und merzen alle nicht mit der Irrenanstalt zu vereinbarenden Hinweise auf die Waldszene aus. Den Jägerchor, eine musikalische Nummer, die nicht einfach so weggelassen werden kann, stellte Michieletto als „Betriebsausflug“ der Irren dar, aber für viele weitere Anspielungen auf die Waldszene und die Kriegsbedrohung ist ihm dann nur noch die Kürzungsschere eingefallen.
Librettoauschnitt mit gekennzeichneten Kürzungen Es gibt auch einige Elemente, die zu dieser Geschichte passen, und die man als „Stilmittel“ auch in einer adäquaten Inszenierung gut hätte einsetzen können: Ich meine die drei Aldimira-Doubles, die wie Gespenster Sigismondo und Ladislao bedrängen und sehr plastisch deren Verfolgungswahn darstellen. Erfreulich war auch, dass die Ouvertüre ungestört bei geschlossenem Vorhang gespielt werden durfte, dass die Handlung nicht in der Jetztzeit sondern in der Vergangenheit (wenn auch in der falschen) spielte und dass das störende Gekreische und das Umwerfen von Tischen wenigstens „nur“ während musikalischer „Pausen“ vorkamen. Michieletto gelingt es hervorragend, seine eigene Geschichte zu erzählen und das Libretto mehr oder weniger außer Acht zu lassen. Ist es das, was wir unter „Interpretation“ zu verstehen haben? Nein, es ist nichts anderes als ein „Meme“ (engl., „Mihm“ gesprochen), wie das im neusten Internetjargon heißt, wo unter diesem Genre Filmausschnitten völlig fremde Texte (gesprochen oder als Untertitel) unterlegt werden (für ein Meme der lustigen Art schaue man sich auf YouTube
Obamas Rede in Berlin auf Schwäbisch an!). Aber auch innerhalb dieses Konzeptes ist vieles nicht durchdacht. Ist es etwa plausibel, dass ein Herrscher, so dement er auch sein mag, auf der allgemeinen Station in einem 8-Betten-Saal interniert wird? Auch der Rollstuhl, in dem Sigismondo herumgefahren wird, ist mehr ein Moderequisit als ein notwendiges Hilfsmittel für einen Irren. Aldimira, von der wir übrigens nicht erfahren, in welcher Beziehung sie zu dem Arzt der Anstalt (Zenovito) steht – die entsprechende Rezitativpassage wurde gestrichen –, hat ihren Auftritt nicht wie im Libretto vorgesehen in der Waldhütte, wo sie Zuflucht gefunden hat, sondern sie kommt ins Irrenhaus und besingt den „tranquillo soggiorno“ („Oh beschaulicher Ort“). Auch wenn die Irren gerade mehr oder weniger ruhig schlafen, ist das in der Situation eine groteske Aussage, die „leider“ durch die neuerdings auch in Pesaro vorhandenen Übertitel augenfällig wurde. Im Duett, in dem sich Ladislao der vermeintlichen Tochter Zenovitos, in der er Aldimira zu erkennen glaubt, gegenüber sieht und wo die Stretta die Verstörung der beiden charakterisiert, inszeniert der Regisseur eine Vergewaltigungsszene, die in dieser Situation jeder Logik entbehrt und mithin reine Perversion und Effekthascherei ist. Gegen Ende der Oper, kurz bevor Ladislao seine Taten eingesteht, wird uns freundlicherweise ein Gemetzel erspart, wenn die beiden Truppen aufeinander losgehen. Stattdessen reißen die Uniformierten alle Schubladen auf und werfen Papierstöße wild durcheinander – kein Mensch versteht, was diese Aktion bedeuten soll: Sie ist denn auch reiner Aktionismus eines Regisseurs, dessen verirrte Geschichte nicht zur tumultartigen Musik passt. Wie sagte ich doch in meinem
Vortrag in Wildbad: „Wenn man einzelne Teile weglässt oder verändert […], kollabiert das System und kann oft nur noch durch absurde Manöver zu Ende gebracht werden“. Vielleicht glaubt so ein Regisseur, wenn seine Konzepte nicht ganz aufgehen, im Geiste der italienischen Librettistik zu handeln, die vor Unwahrscheinlichkeiten ja nur so strotzt (das ist freilich ein Gemeinplatz: die vermeintlichen Widersprüche entstehen oft erst durch die unbedarfte Streichung von Rezitativpassagen) – dabei wäre es die nobelste Aufgabe dieser Berufsgilde, allfällige Fragwürdigkeiten inszenatorisch auszumerzen und nicht neue zu kreieren.
Das größte Problem sind aber die Irren selbst: wie sie da herumzucken, am Boden kriechen, ausflippen, hysterisch schreien etc. ist nicht nur eine entwürdigende Bloßstellung und mithin eine Herabwürdigung von kranken Menschen, sondern für manch einen Zuschauer auch eine schwer verdauliche Realität, mit der umzugehen jedermann seinen eigenen Weg finden muss, und wenn es deren Verdrängung ist; das Publikum ungefragt auf so krude Weise damit zu konfrontieren, ist ein Missbrauch der verantwortungsvollen Regisseurenrolle. Im Übrigen gilt für die klassische Ästhetik, zu der
Sigismondo trotz romantischer Vorwegnahmen letztendlich gehört, das Gebot des „bello ideale“, wo das Hässliche zwar thematisiert, aber nicht dargestellt wird: so wie im letzten Jahr die grässlichen Blutszenen in der
Zelmira gegen dieses Prinzip verstießen, so verstoßen in diesem Jahr die Irren in
Sigismondo dagegen.
Besetzungszettel Im Rahmen des Konzepts agierten die Darsteller ausgezeichnet. Daniela Barcellona war schlicht ergreifend, wie sie den schwachen, verunsicherten Sigismondo mit einer großartigen schauspielerischen Leistung darstellte – dies alleine hätte genügt, um das innere Drama dieses von Gewissensbissen verfolgten Herrschers und damit die von Rossini beabsichtigte Thematisierung darzustellen. Barcellona präsentierte sich auch in bester stimmlicher Verfassung und löste die größten Ovationen aus, die einmal mehr zeigten, was dem Publikum wirklich wichtig ist. Olga Peretyatko hat in Aldimira eine kongeniale Rolle gefunden. Anders als die anspruchsvollen Colbran-Partien, für die sie weder die richtige Vokalität noch die Reife besitzt, liegen ihr die Rollen, die Rossini für die typische Sopranstimme der Elisabetta Manfredini-Guarmani geschrieben hat, ganz besonders; neben Aldimira sind das weitere „A“-Rollen, nämlich Amira in
Ciro in Babilonia, Amenaide in
Tancredi und die Titelrolle von
Adelaide di Borgogna. Eine Idealbesetzung war auch Antonino Siragusa für den Ladislao, dessen Timbre gut zu dem Verrätertyp passt. Er meisterte auch alle Koloraturen perfekt, aber ein differenzierter Gesang ist nicht gerade seine Sache: seine Versuche, auch mal ein schönes Piano zu singen, blieben Ausnahmeerscheinungen. Exzellent war der gehaltvolle Bass von Andrea Concetti in den Rollen des Zenovito (1. Akt) und des Ulderico (2. Akt). Gut in dieses erstklassige Ensemble fügten sich Manuela Bisceglie (Anagilda) und Enea Scala (Radoski) ein. Der Chor und das Orchester aus Bologna musizierten hervorragend unter ihrem neuen Leiter Michele Mariotti. Der ist dem Vorwurf der Vetternwirtschaft ausgesetzt, weil er in seinem jugendlichen Alter bereits den so wichtigen Posten des GMD am Teatro Comunale di Bologna besetzt, an der Mailänder Scala einen Barbiere (nach dem Rauswurf des designierten Dirigenten Spinosi) und jetzt in Pesaro die Eröffnungsoper dirigiert – alles Dinge, die damit in Verbindung gebracht werden, dass er der Sohn des ROF-Intendanten ist. Man darf sich bei der Beurteilung seiner Leitung aber weder davon noch von der sinnwidrigen Regie ablenken bzw. irreleiten lassen. Das wiederholte Anhören der Radioübertragung vom 9.8. macht ohrenfällig, dass der junge Mann durchaus Talent hat und dass Pesaro richtig tat, ihn trotz der „Vitamin-B“-Vorwürfe zu engagieren. Mariotti dirigiert einen präzisen, spannungsvollen Rossini, energisch, aber durchsichtig. Allerdings zeigt er in diesem Sigismondo eine Tendenz zu krassen Differenzierungen, plötzlichen dynamischen Wechseln wie unvermittelte Accelerandi oder extreme Übergänge zwischen piano und forte. Wenn das eine bewusste Lesart dieses „extremen“ Stoffes ist, kann man das akzeptieren, falls es aber (wie bei seinem Vorgänger Daniele Gatti) nur dem Willen nach Effekthascherei und vermeintlicher Originalität entspringt, wird es sich bald als Leerlauf erweisen – ein nächster Prüfungstermin bietet sich im Mai 2011, wenn er
La gazza ladra in Dresden dirigiert.
Reto Müller
(Auszug aus «Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft, Nr. 51-September 2010)