Bildschirmfoto: Anhaltisches Theater Dessau
Die Oper gilt als erste typische Grand opéra. Die fünf Akte sind relativ kurz und enden jeweils in einem großen Tableau. Eine private Liebesgeschichte entfaltet sich vor einem historischen Ereignis, dem neapolitanischen Fischeraufstand von 1647, der auch dem Werk des brasilianischen Komponisten Gomes "Salvator Rosa" zugrunde liegt. Es gibt zahlreiche spektakuläre Massenszenen, deren Umsetzung bereits in der Uraufführung außerordentlich effektvoll war, wie Illustrationen zur Uraufführung in Paris 1828 zeigen. Die mit dem Ausbruch des Vesuvs endende Oper erforderte seit jeher einen großen Bühnenaufwand. Im 19. Jahrhundert wurde sie erfolgreich und häufig aufgeführt. Es ist historisch belegt, dass eine Aufführung der Oper in Brüssel 1830 die Revolution in Belgien und die Loslösung des Landes von den Niederlanden auslöste. Musikalisch orientiert sich die Oper an Rossini, einem Zeitgenossen Aubers, mit dem dieser bekannt war.
Der Besuch der Inszenierung des Generalindtendanten André Bückers am Anhaltischen Theater Dessau, das die Oper ebenfalls kurz nach ihrer Entstehung im Jahre 1830 erstmals zeigte, war ein beglückendes Ereignis. Jedem Opernfreund ist eine Reise zu den letzten beiden Aufführungen dringend zu empfehlen. Das Orchester spielte genau und schwungvoll unter der Leitung von Antony Hermus, der zu den bedeutenden und ausgezeichneten Dirigenten gerechnet werden muss. Die Besetzung ist einzigartig: Besonders zu erwähnen ist der junge mexikanische Tenor Diego Torre, der derzeit auch an der Metropolitan Opera singt. Ihn sah und hörte man in der Rolle des aufständischen Fischers Masaniello. Seine kraftvolle Stimme ließ das Haus erbeben, gleich zu Beginn ist ihm ein lang ausgehaltenes hohes C vergönnt. Einige Kritiker fürchten bei diesem Einsatz um seine Stimme und scheinen es ihm anzukreiden, dass es ihm gelingt, das Orchester zu übertönen. Für mich war das kein Nachteil, sondern im Gegenteil ein Gewinn. Außerdem mangelte es ihm nicht an darstellerischem Gestaltungsvermögen, und er ließ sich auch nicht aus der Ruhe bringen, wenn seine Arie einmal durch Beifall unterbrochen wurde.
Gleichfalls sehr angenehm war die Gestaltung der Elvire durch die Sopranistin Angelina Ruzzafante, die als Ensemblemitglied in Dessau engagiert ist. Ihr heller Sopran, der technische Schwierigkeiten bravourös meistert, ist ein Rohdiamant, der sicher in der Zukunft noch gewinnen wird. Oscar de la Torre gab mit kultiviertem Tenor den Alphonse, den Sohn des Vizekönigs von Neapel. Auch die übrigen Rollen waren mit Kostadin Auguirov (Borella), Wiart Witholt (Pietro), Angus Wood (Lorenzo) und Stefan Biener (Morena) glänzend besetzt. Fast ununterbrochen war auch "die Stumme", welche dem Stück ihren Namen gibt, auf der Bühne. Sie wurde ausdrucksstark von der Tänzerin Gabriella Gilardi verkörpert.
Eine wichtige Rolle oblag dem Chor, weist das Werk doch eine ganze Reihe von Choreinlagen auf, die von leisen eindringlichen Gebeten bis zu heroischen heldischen Strophen reichen.
In Dessau spielt das Werk nicht im Neapel des 17. Jahrhunderts wie in der Vorlage, sondern ist im Neapel der Jetztzeit angesiedelt, ein Neapel, das von der Mafia anstatt von den spanischen Besatzern beherrscht wird. Das Thema - eine Stumme wird verführt, verlassen und gibt Anlass zum Aufstand - ist ungewöhnlich, das Schicksal des Anführers Masaniello, der für wenige Tage Neapel beherrscht, dann aber vergiftet und schließlich verrückt wird, anführend. Die alles beherrschenden Mafiosi stehen der ausgebeuteten Bevölkerung, hier sind es Werftarbeiter statt Fischer, gegenüber. Rechtecke im Bühnenhintergrund zeigen anhand von Videos mal das aufgewühlte Meer, mal die glühende Lava, welche den Vulkanausbruch vorwegnimmt. Davor ragen Container auf; sie werden auf der Drehbühne bei Bedarf in atemberaubender Geschwindigkeit hin und hergeschoben. Ein riesiges hölzernes Schiff mit den Aufständischen nähert sich bedrohlich am Ende. Schließlich schießt effektvoll weißer Dampf aus dem Schornstein, bevor sich das Glück der Rebellen doch wieder wendet und der Aufstand, jedenfalls auf der Bühne, wieder niedergeschlagen wird. Diese Deutung des Stücks war nachvollziehbar, spannend und bühnentechnisch wunderbar umgesetzt. Das Bühnenbild arbeitet lässig mit Chiffren, der Himmel über Neapel gleicht einem aufgespannten blauen Segel mit weißen Wölkchen, auf ihm werden die Übersetzungen aus dem gesungenen Französisch praktischerweise gleich eingeblendet.
Der Erfolg dieser Dessauer Inszenierung beruhte jedoch in erster Linie auf der unverstellten Spielfreude, mit der dieses abwechslungsreiche und spannende Werk auf die Bühne gebracht wurde.
Astrid Fricke
Besuchte Aufführung am 16. Mai 2010.
Weitere Aufführungen am 4. Juni 2010 um 19.30 Uhr,
2011: 2. u. 16. Jan. / 26. Febr. jeweils 17 Uhr / 17. März 16 Uhr / 22. April 17 Uhr