28. März 2010

Triumph für Donizettis "Caterina Cornaro"

Zweitausend Belcanto-Fans feierten Nelly Miricioiù

Concertgebouw in Amsterdam (Foto: mikebm)

Es ist Samstagmittag, kurz nach 13 Uhr. Im wie so oft bei den konzertanten Opernaufführungen der “ZaterdagMatinee“ ausverkauften Concertgebouw in Amsterdam warten knapp 2000 Belcanto-Fans auf den Beginn der Donizetti-Oper "Caterina Cornaro". Von oben schreiten jetzt Sängerinnen, Sänger und Dirigent die zahlreichen Stufen zum Podium hinunter, begleitet von herzlichem Begrüßungsbeifall. Dieser steigert sich zum Orkan, als die erste Sängerin, eine gut aussehende, wenn auch nicht mehr ganz junge Dame ihr Notenpult erreicht. Bravarufe werden laut - “Nelly is back“. Nelly Miricioiù und die “Zaterdag- Matinee“: das ist eine lange “Liebesbeziehung“, die 1985 begann und über 25 Jahre hinweg unvergessliche Opernnachmittage garantierte. Meist verkörperte die in England lebende gebürtige Rumänin Heroinen des Belcanto (u.a. die Armida und Semiramide von Rossini, Donizettis Anna Bolena, Lucrezia Borgia, Maria Stuarda und Elisabetta sowie Bellinis Norma und Imogene ).

Nelly Miricioiù nach der Aufführung am 20.3.2010 
(Foto: Frits de Reuter im Blog von Nelly Miricioiu)

Auch Caterina Cornaro war eine jener historischen Frauengestalten, deren Schicksal offensichtlich vor allem in den 1840er Jahren Komponisten magisch anzog: Denn außer Donizetti schrieben u.a. Halévy, Balfe und Pacini Opern über die “Königin von Cypern“. Caterina stammte aus Venedig, wurde 1472 im Alter von 18 Jahren mit dem König von Zypern verheiratet, der 2 Jahre später einem Giftanschlag zum Opfer fiel. 15 Jahre lang herrschte sie nun allein über die Mittelmeerinsel, bis sie auf politischen Druck und mit sanfter Gewalt gezwungen in ihre Heimat zurückkehren musste. Als Entschädigung erhielt die junge Frau das nordwestlich von Venedig gelegene Städtchen Asolo, das sie mit großem Engagement und Unternehmungsgeist in kurzer Zeit für seine Bewohner zu einem lebenswerten Fleckchen Erde ausbaute. Vor allem aber machte sie, indem sie Künstler aller Sparten nach Asolo einlud, ihr kleines Reich zu einer Art Kulturhauptstadt Europas. Ihr Leben verbrachte sie – so der Dichter Pietro Bembo – „Tag für Tag mit Musik, Gesang, Tanz und prächtigen Gelagen“ in dem von ihr errichteten Barco, einer Villa, die auch heute noch existiert.

Caterina Cornaro (Foto: Wikipedia)

Nun also präsentierte sich Nelly Miricioiù  als Caterina Cornaro in der letzten Oper des Meisters aus Bergamo, die zu seinen Lebzeiten auf die Bühne kam (1844 in Neapel). Und man merkte schnell: immer noch (sie wird in diesen Tagen 58 Jahre alt) ist die Stimme dieser Ausnahmesängerin jederzeit in der Lage, in wunderbarer Weise Text und Emotionen in Musik und Töne zu fassen. Bei dramatischen Passagen klingt sie gelegentlich etwas klirrend, kann aber anscheinend mühelos alle vorgesehenen bzw. handlungsrelevanten Spitzentöne abrufen. Kein Wunder, dass sie erneut im Mittelpunkt der finalen Ovationen stand und ihr einige persönliche Blumensträuße auf die Bühne gereicht wurden. Fast hätte ihr Nicola Alaimo in der Rolle ihres Ehemannes Lusignano die Show gestohlen. Denn dieser junge italienische Bariton bot nicht nur stimmlich eine glänzende Leistung, sondern gab auch jederzeit zu erkennen, dass er in dieser Rolle lebte und sie mit Intensität gestalten wollte. Genau diese Fähigkeit ließ der argentinische Tenor Dario Schmunck, der den ursprünglich vorgesehenen John Osborn ersetzte, ein wenig vermissen. Er verließ sich auf sein zweifellos schönes Timbre, strahlte aber kaum jemals die Verve aus, mit der beispielsweise José Carreras im Live-Mitschnitt aus London (1972 mit Montserrat Caballé) die Rolle des französischen Geliebten Gerardo ausfüllte – von dessen fulminanten acuti ganz zu schweigen. Als venezianischer Gesandter Mocenigo überzeugte vollauf wieder einmal Mirco Palazzi, und auch die 3 Nebenrollen waren adäquat besetzt, wobei die Mezzosopranistin Serena Malfi in ihren kurzen Einwürfen als Caterinas Vertraute Matilde neugierig machte auf ihr Rollendebüt als Angelina in Rossinis La Cenerentola im Sommer in Bad Wildbad.

Immer wieder ein Erlebnis ist der “Groot Omroepkoor“, dessen Präzision, Homogenität und Stimmgewalt (74 Sänger/innen) Chorszenen plastischer und nachdrücklicher erscheinen lassen als dies kleinere Ensembles unter den Bedingungen einer Bühnenregie vermögen. Auch der erstmals im Concertgebouw zu erlebende englische Dirigent David Parry – allen Belcanto-Liebhabern bestens von vielen Einspielungen bei Opera Rara bekannt – bot mit der “Radio Kamer Filharmonie“ eine klangvolle Leistung, lebendiger und schwungvoller als manche seiner Dirigate auf den Silberscheiben.

Dieser faszinierende und packende Belcanto - Opernnachmittag ließ insofern etwas Wehmut aufkommen, als in der kommenden Jubiläumsspielzeit der “ZaterdagMatinee“ (50–jähriges Bestehen) zwar wieder 6 Opern auf dem Spielplan stehen, doch leider keine aus dem Belcanto – Bereich.

Donizetti war übrigens nach eigenem Bekunden von dieser seiner “tragedia lirica“, die erst 1 Jahr nach der Uraufführung 1845 in Parma zum Erfolg wurde, recht angetan, wenn er auch selbst in bemerkenswerter Selbsteinschätzung meinte, dass sie vielleicht nicht unbedingt ein Meisterwerk sei. Für den, der dies überprüfen möchte, bietet sich noch in diesem Jahr eine fantastische Möglichkeit: Anlässlich des 500. Todestages von Caterina Cornaro wird  diese “ihre“ Oper am 30. Juli an einem authentischen Ort aufgeführt, nämlich in der Burganlage von Asolo, auf der Caterina bis kurz vor ihrem Tod 1510 lebte.
Besuchte Vorstellung am 20.03.10

Walter Wiertz

21. März 2010

"La Favorita" in Gießen




73 Opern hat Gaetano Donizetti in seinen gut 50 Lebensjahren komponiert. Knapp 10 davon  kann man auf den Opernbühnen dieser Welt  hören und sehen. Nun hat der Maestro aus Bergamo zweifellos nicht nur Meisterwerke geschrieben, aber warum seine 1840 für Paris geschriebene La Favorite ein solches Schattendasein führt, bleibt rätselhaft. Wieder einmal hat nun das Stadttheater Gießen eine Lanze für die vielerorts gemiedene, weil unterschätzte und (zu ?) schwer zu inszenierende Belcanto-Oper gebrochen. Mit der italienischen Version La Favorita, die 1842 zum ersten Mal in Padua auf die Bühne kam, setzte dieses relativ kleine Haus seine vor Jahren begonnene verdienstvolle  Pflege des Belcanto-Repertoires fort: mit Lucrezia Borgia, Maria Stuarda, La Cenerentola, Norma u.a. einerseits, aber auch mit solchen Raritäten wie Herolds Zampa oder die Marmorbraut oder Mercadantes Il Giuramento setzte Intendantin Cathérine Miville deutliche Akzente, die auch überregional starke Beachtung fanden. Mit Regisseur Helmut Polixa, den Dirigenten Gabriele Bellini und Eraldo Salmieri  und der (Mezzo-) Sopranistin Giuseppina Piunti in den entsprechenden Hauptpartien stand bei allen Produktionen ein fester Kern an Protagonisten zur Verfügung – so auch bei dieser Favorita.

Das Bühnenbild, das je nach Schauplatz von einer großen Taube mit Heiligenschein im Hintergrund oder einer riesigen Königskrone, in der König Alfonso sich anfangs lustvoll rekelte, beherrscht wurde, symbolisierte mit sparsam aber passend eingesetzten Lichteffekten die beiden Pole, zwischen denen Fernando hin- und hergerissen wurde. Nach der Pause wurde die Drehbühne in den Handlungsverlauf aktiv einbezogen und sorgte so für eine visuelle Unterstützung der Handlungsdynamik.


Problematisch wie immer bei der Aufführung einer Grand Opera ist die Ballettmusik, wenn man – wie meist üblich – auf das Ballett verzichten muss. In Gießen wurden kurze Ausschnitte in den Umbaupausen zwischen den Akten bei geschlossenem Vorhang präsentiert, vor dem Leonora bzw. Fernando ihren jeweiligen Seelenzustand pantomimisch sichtbar machten – sicherlich keine wirklich befriedigende Lösung.

Ausgezeichnete, zu den dargestellten Figuren auch in ihrer “physique du role“ passende Sänger in stimmigen Kostümen prägten nachhaltig den Eindruck, den diese Aufführung hinterließ. In glänzender Verfassung zeigte sich der junge Spanier Xavier Moreno als Fernando, der schauspielerisch überaus intensiv mit leuchtender Tenorstimme und sicheren Höhen den Abend beherrschte. Aber auch die beiden tieferen Männerstimmen des Baritons Victor Benedetti als König Alfonso und des brasilianischen Basses José Gallisa als Prior Baldassare überzeugten vollauf. Die in Gießen verständlicherweise geliebte Giuseppina Piunti bot – erneut in der Rolle einer leidenschaftlichen und starken Frau - nicht nur figürlich, sondern auch stimmlich eine faszinierende Leistung, gerade auch weil nicht alle Töne mühelos erreicht wurden. Selbst in den beiden “Nebenrollen“ hörten und sahen wir mehr als rollendeckende Porträts: die junge belgische Sopranistin Odilia Vandercruysse, die bezaubernd-locker Ines verkörperte, sowie den Tenor Alexander Herzog als schleimigen Strippenzieher Don Gasparo. Eraldo Salmieri am Pult des Philharmonischen Orchesters Gießen neigte zwar in den langsamen Passagen gelegentlich zu sehr gedehnten Tempi, sorgte aber – auch im Zusammenklang mit dem verstärkten Chor - durchgehend für das nötige Feuer und belcantesken Wohlklang, der das Publikum im bis auf einzelne Randplätze ausverkauften Stadttheater Gießen begeistert zurückließ.

Wieder einmal – wie eigentlich immer bei unseren Belcanto-Reisen nach Gießen – war diese Aufführung die längere Anreise wert. Wer es ähnlich sieht, möge sich die Termine der zwei letzten Aufführungen vormerken: 1. und 11. April.

Besuchte Aufführung am 6. März 2010

Walter Wiertz

18. März 2010

"Salvator Rosa" Deutsche Erstaufführung in Braunschweig


Bildschirmfoto und Video: www.theater-tv.com 

Salvator Rosa  - eine nahezu unbekannte Oper von Antônio Carlos Gomes
Mit Antônio Carlos Gomes (1836 - 1896) setzte sich zur Zeit Verdis ein brasilianischer Opernkomponist auch international durch. "Salvator Rosa" war neben "Il Guarany", uraufgeführt an der Mailänder Scala, als einzige seiner Opern erfolgreich. 1874 erlebte diese "Revolutionsoper" ihre Uraufführung am Genueser Teatro Carlo Felice. Erst spät wurde diese Oper auch in Deutschland entdeckt, und sie feierte eine viel beachtete und auch im Rundfunk übertragene Erstaufführung am Staatstheater Braunschweig (Premiere am 20. Januar 2010).
Inhaltlich geht es in der Oper einmal um den Aufstand der neapolitanischen Fischer unter der Leitung ihres Anführers Masaniello im Jahre 1647. Dieser war Rädelsführer einer Revolte gegen die spanische Herrschaft Neapels. An die Macht gekommen wurde Masaniello wahnsinnig. Er übte eine Schreckensherrschaft aus und fiel schließlich einem Mordkomplott zum Opfer. In der Oper ist er mit dem Maler Salvator Rosa (1615-1673) befreundet. Rosa pendelt zwischen den Revolutionären und dem spanischen Machthaber, dem Duca d`Arcos, hin und her, da er die Tochter des Duca, Isabella liebt. Isabella opfert sich später und erdolcht sich, um den Geliebten vor der Verurteilung zum Tode zu retten. In der Oper werden somit beider Schicksale, die des Malers und die des Aufständischen aus dem Volke, verknüpft, ohne dass dies historisch belegt wäre. 


Das Orchester spielte unter der Leitung Georg Menskes schwungvoll und konzentriert. Der Musik wohnt eine gewisse Herbheit inne, es gibt einen "veristischen Zug" (Menskes im Programmheft), und "Lokalkolorit" durch Tarantella, Kanonenschüsse und den stilgerechten  Einsatz einer Orgel in der Klosterszene. Man könnte die Musik als "typischen Verdi", als "echte italienische Musik des 19. Jahrhunderts" beschreiben (Menskes). Besonders im zweiten Akt gewinnt die Oper deutlich an Fahrt, es wird immer mitreißender und dramatischer. Gomes setzt gekonnt Effekte ein zum Beispiel durch ein herrliches Duett zwischen dem Bariton Malte Roesner als Masaniello und dem Tenor Ray M. Wade Jr. als Salvator Rosa. Auch der Chor, der mal die Hofgesellschaft des Herzogs, mal das aufrührerische Volk von Neapel darstellt, trumpft machtvoll auf. 
Roesner, 1979 in New York geboren und seit 2006 in Braunschweig Ensemblemitglied, lieferte ein glänzendes Rollenportrait als Masaniello und gefiel mir wiederum mit seiner schönen beweglichen Stimme, die auch fahle raue Töne der Zerrissenheit und Verzweiflung zu produzieren weiß. Die Stimme als "kernig" zu bezeichnen und ihn zu behaupten, Roesner "sei dramatisch doch noch über seine Grenzen gegangen" (Andreas Berger am 22.1.2010 in der Braunschweiger Zeitung) empfinde ich als überzogen. 
Wades samtiger makelloser Tenor als Rosa ist berückend, nicht oft ist ein so großartiger und beseelt singender lyrischer Tenor zu hören. Die Rolle der Isabella wurde von der jungen slowakischen Sopranistin Maria Porubcinova ebenfalls glänzend verkörpert. Hier stimmte einfach alles: Die herrliche kraftvolle Stimme, der dramatische Ausdruck, aber auch Zartheit und Trauer in Passagen der Liebessehnsucht oder Entsagung. Auch bei der zweiten von mir am 28.2.2010 besuchten Aufführung konnte ich mich von der Ausstrahlung und eindrucksvollen Gestaltungssicherheit der Sängerin überzeugen. 


Der 1975 in Korea geborene Dae Bum Lee verlieh dem hinterhältigen tyrannischen Herzog mit strahlendem Bass die Macht, diejenigen zu töten oder zu entmachten, die ihm im Wege standen oder ihn stürzen wollten. Außerdem ist die 1981 geborene Simone Lichtenstein als "neapolitanischer Junge" und Gehilfe des Malers Gennariello zu erwähnen. Gennariello versucht alles, um seinen Meister aus Todesgefahr zu erretten. Die Sängerin ist in Braunschweig neben Malte Roesner und Dae-Bum Lee Ensemblemitglied und trotz ihrer Jugend eine technisch versierte Koloratursopranistin. Auch darstellerisch wusste sie in dieser anspruchsvollen Rolle zu überzeugen. Auch die weiteren Rollen sind mit Ensemblemitgliedern vorzüglich besetzt: Tobias Haaks als Fernandez, Kenneth Bannon als Il Conte di Badajoz.
Das Geschehen spielte sich auf einer sperrig und sparsam mit Malutensilien, Gerüsten und Leitern ausgestatteten Drehbühne ab, auf der sich die Haupt-Akteure und der Chor bewegten. Eine "Hauptrolle" spielten Abbildungen verschiedener Gemälde des 19. Jahrhunderts, welche revolutionäre Szenen darstellen wie "der Tod des Marat" von David oder "Die Freiheit führt das Volk" von Delacroix. Ein auf den Duca gemünztes Bild des spanischen Diktators Franko und die Rockerkluft des Masaniello führen dagegen ins 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Inszenierung Uwe Schwarz). 
Anzumerken ist, dass auch auswärtige Besucher von dieser besonderen Produktion des Staatstheaters Braunschweig sehr beeindruckt waren. Wer eine mitreißende und sehr gelungene Oper eines brasilianischen Komponisten im Stile Verdis erleben will, sollte Braunschweig einen Besuch abstatten.

Weitere Aufführungen am 4. April 18:00 Uhr und 9. April 19:30 Uhr

Astrid Fricke

15. März 2010

"Moïse et Pharaon" - Rossini in Nürnberg



Das Werk
Rossini überarbeitete 1827 seine 1818/1819 für Neapel geschriebene Oper  "Mosè in Egitto" (schon damals eine "Azione tragica-sacra") in der musikalischen Hauptstadt Paris für die Opéra, die große Bühne der Académie Royale de Musique. Er veränderte wesentlich den Stil und schuf ein "dramaturgisch, musikalisch und szenisch schlüssiges Musikdrama" (Johann Casimir Eule im Nürnberger Programmheft) mit der "französischen Kunst der Deklamation", "wunderbaren belcantistischen Soli" und "singenden" Rezitativen. "Nie zuvor bekam das Volk auf der Bühne solch eindrückliche Präsenz, spielte der Chor szenisch und musikalisch eine gewichtigere Rolle..." (Eule ebenda). Sogar der "Rossini-Verächter" Richard Wagner ließ sich herab, dieses Werk Rossinis mehrfach positiv zu erwähnen.

Die Inszenierung
Die Inszenierung wagt den Spagat zwischen biblischer Geschichte und Moderne. Biblische Geschichte wird zum Beispiel durch die stumme Rolle eines Moïse-Schauspielers und Pharao-Doppelgängers in einigen Szenen zum Leben erweckt, ein sehr theatralischer Ansatz, der allerdings bei einigen Zuschauern seine Wirkung verfehlte. Zwingender empfand ich die Darstellung der Plagen durch im Hintergrund laufende symbolträchtige Videos, welche Sonnenfinsternis und Heuschrecken (eher Spinnen!) darstellten. Gut choreographiert und durch Lichteffekte unterstützt zeichnete der Chor allein durch abgehackte Bewegungen die hereinbrechende Orientierungslosigkeit und Verzweiflung der Menschen nach, die sich zeitweise von Gott und der Welt verlassen fühlen mussten. Das Bühnenbild und die Ausstattung stellten mit ihrer "Koffersymbolik" ebenfalls Ausweglosigkeit dar: Bewegliche Koffer  in den Händen der Menschen, aber auch Koffer festgenagelt auf dem Boden, an den Wänden und sogar an der Decke. Einen Fluchtweg gibt es nicht in diesem Raum. Nur kurzfristig öffnet sich eine Tür im Hintergrund, dahinter ist es bedrohlich schwarz.

Viele Opernbesucher kennen die Koffer der Heimatlosen bereits von anderen Bühnen als Sinnbild von Flucht und Vertreibung. In dieser Inszenierung war es mehr: Die weißen, schnurgerade hintereinander aufgereihten Koffer gemahnten auch an das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, an das Stelenfeld. Und hier sind wir bei der "Moderne" angelangt, auf welche diese Inszenierung eines israelischen Regisseurs in der ehemaligen Hitler-Hochburg Nürnberg ebenfalls verweist. Moderne - das ist hier einmal die Zeit, in der Theodor Herzl (1860 - 1904) in seinen Schriften über das Judentum reflektierte: "Obwohl seinerzeit ohne greifbaren Erfolg, schuf Herzls Tätigkeit wesentliche Voraussetzungen für die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948." (Wikipedia). Herzls Foto ziert den transparenten Vorhang zu Beginn, seine Schriften werden eingeblendet, er ist hier ein moderner Moses.


Und dann ist "Moderne" in dieser Inszenierung auch die Zeit des untergegangenen "Stetl" mit seinen Progromen und schließlich das Dritte Reich mit seiner systematischen Judenverfolgung und - vernichtung. Indem der Regisseur David Mouchtar-Samorai insbesondere in der Schluss-Szene (Gang des Volkes durch das Rote Meer) andeutet, dass die "Rettung" des Volkes Israel nicht nur mit dem Untergang der ägyptischen Streitmacht einherging, sondern - natürlich in der Neuzeit - auf Seiten des jüdischen Volkes mit verheerenden Opfern verbunden war, wird auch der Holocaust erwähnt. Das Rote Meer wird nämlich zum Feuersturm hinter dem Vorhang, dem nur wenige entkommen können. 

Am Ende erheben alle ihre Stimmen, die Geretteten vor und die Opfer hinter dem Vorhang. Dies wirkte ergreifend und unterstrich mutig die musikalische und szenische Aussage.  Die Forderung, die Oper so zu inszenieren, wie es dem historischen Rossini und seinen Librettisten vorschwebte, würde die Erfahrungen der letzten hundert Jahre ignorieren.  Gerade durch das Aufgreifen und Sichtbarmachen historischer Ereignisse vermag es diese große Oper, auch heute noch zu erschüttern. Auch Rossini selbst wollte in seiner Grand Opéra nicht die Bibel illustrieren und vertonen, sondern durch die Schilderung privater Probleme und Verstrickungen übermenschliche Gestalten wie Moïse (Moses) lebendig machen und auch neue Figuren einfügen. Der Gang durch - hier genauer "über" - das rote Meer war übrigens durch eingeblendete Videos von aufgewühlten Meereswogen, die in der Mitte schließlich einen Gang freigeben, in dem sich die Fliehenden gleichsam auflösen, geschickt auf die Bühne gebracht.

Der Regisseur war sichtlich bemüht, der Oper, die am Hofe des Pharao spielt und zeitlose Probleme zwischen Liebenden, zwischen Vater und Sohn, aber auch Mutter und Sohn aufgreift, ein wenig das Pathos auszutreiben. Insbesondere Aménophis, Pharaos Sohn, wird als impulsiver Schwächling dargestellt, der sich auch mal auf den Boden wirft und mit den Fäusten darauf herumtrommelt. Mich hat diese psychologisch begründete Rollenauffassung, die natürlich nicht zu einem angehenden Herrscher passt, nicht gestört. Die Szenen, in denen die Beziehungen zwischen Liebenden thematisiert werden, hat der Regisseur packend auf die Bühne gebracht, ebenso den gesungenen Dialog zwischen Mutter und Sohn, in der Sinaïde mit eindringlichen und ergreifenden Tönen Aménophis anfleht, von seiner Liebe zu Anaï zu lassen. Sinaïde ist scheinbar kühl und siegessicher mit ihrer Toilette beschäftigt, kein Wunder, dass sie zunächst kein Gehör bei ihrem Sohn findet.


Der Chor
Wegen der überragenden Bedeutung des Chors, der gleichsam im kirchenmusikalischen Stil auftritt und Verdis Chöre (z.B. in Nabucco) vorwegnimmt, möchte ich als erstes hierauf eingehen, zumal mit Chorgesang die Oper in dieser Inszenierung beginnt und endet (Chor-Einstudierung Edgar Hykel). Der "große Chor" in dieser Oper tritt als Volk Israel auf, das sich in ägyptischer Gefangenschaft befindet. Das Volk singt mal gemeinsam, dann wieder gibt es den Frauen- und Männerchor im Dialog und gegeneinander singend. In dieser Weise ausgedrücktes Leid wird bei der vom Pharao in Aussicht gestellten Errettung durch Freudengesänge abgelöst. Und hier kommt es im Chor nicht zu "Gezappel", wie ein Kritiker schrieb, sondern zu dezent eingeblendeten Tanzszenen einiger Protagonisten, die vielleicht folkloristisch angehaucht sind, jedoch authentisch wirken und zur Musik passen. Die Kostüme erinnerten an zeitgenössische Fotos der im 19. und 20. Jahrhundert verfolgten Juden, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind und dadurch anrühren.

Orchester, Sängerinnen und Sänger
Die vorzüglichen Nürnberger Philharmoniker spielten unter der musikalischen Leitung von Christian Reuter schwungvoll und engagiert, die Sänger waren mit Können und Eifer bei der Sache: Nicolai Karnolski als Moïse, Melih Tepretmez als Pharaon, David Yim als Aménophis. Mich haben stimmlich besonders die Damen bezaubert, und anderen ging es wohl genauso, wenn man den Schlussbeifall berücksichtigt: Hrachuhí Bassénz in der großen Rolle der den Pharao-Sohn liebenden und schließlich diese Liebe opfernden Anaï und - ebenso großartig - Ezgi Kutlu als Sinaïde.
Ein Besuch dieser selten gespielten Oper ist allen Belcanto-Freunden dringend ans Herz zu legen!

Besuchte Aufführung: 21.2.2010
Weitere Aufführungen am 30.3./ 7.4./ 27.4. 2010
Informationen zur Oper mit Rezensionen, Bildergalerien und vier Hörproben: Staatstheater Nürnberg

Astrid Fricke

7. März 2010

Vivaldis "Orlando furioso" in Frankfurt





Vivaldis meisterhafte Bearbeitung eines bekannten Stoffes 
Der "Orlando Furioso" von Antonio Vivaldi ist ein hinreißendes Bühnenwerk eines Opernkomponisten, der nach eigenen Angaben 94 Opern geschrieben hat, von denen 50 belegt und noch erheblich weniger erhalten sind, darunter als Autograph des Komponisten auch der "Orlando Furioso". Vivaldis erste Oper zu dem bei Opernkomponisten beliebten Stoff des Ariost (1474 - 1533) mit dem bezeichnenden Titel "Rolands vorgetäuschter Wahnsinn - Orlando finto pazzo" war zuvor beim Publikum durchgefallen. In dieser neuen Oper nun lässt der Komponist dem Ritter Orlando, ursprünglich ein sagenhafter Gefolgsmann Karls des Großen, seine "Verrücktheit", die durch die Abweisung und den vermeintlichen Treuebruch der von dem Ritter geliebten Angelica ausgelöst wird. 
Als Marilyn Horne zu Beginn der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in einer ersten Wiederaufführung die Titelpartie des Orlando sang, hatte man praktisch die Hälfte der Arien gestrichen und eine Oper rund um Marilyn Horne arrangiert (Andrea Marcon im Programmheft). In Frankfurt kann man nun 6/7 (oder 5/6) der Originalfassung erleben, die für die Aufführung benötigten Sängerinnen und Sänger des Fachs stehen zur Verfügung.

Arien und Rezitative
Die Arien der Oper zeichnen sich durch rasante Koloraturen aus. "Orlandos Aufschrei aus den Abgründen der Seele (und Kehle) "Nel profondo cieco mondo" (In den Tiefen dieser Welt) ist ein machtvoller Einstieg, der die Aufmerksamkeit sofort fesselt." (Die OpernSammlung 34, S. 537). Sonia Prina ist den Anforderungen der Rolle stimmlich und darstellerisch gewachsen, nach Auffassung des Dirigenten und Vivaldi-Kenners Marcon ist sie derzeit die einzige italienische Altistin, welche diese Partie singen kann. Es gelingt dem Dirigenten, Sänger und Musiker zu Höchstleistungen "ohne Netz und doppelten Boden" anzuspornen. Wiederholungen werden niemals im gleichen Tempo gesungen, aus langsamer wird schneller (presto !) und umgekehrt. Die Variationen werden sorgsam durch die Regie betont, eine bewundernswerte Leistung. In Frankfurt stand dem Gast-Dirigenten Andrea Marcon neben den beiden männlichen Sängern und der Altistin der Titelrolle ein Sängerensemble von vier vorzüglichen koloratursicheren Mezzosopranistinnen zur Verfügung, ein Glücksfall, ein "Mezzo-Festival" (Marcon). Bemerkenswert sind die auskomponierten Rezitative, durch welche die Dramatik des Geschehens gesteigert und die Spannung gehalten wird. In einer Reihe von Arien werden Naturphänomene geschildert, wenn z.B. Orlando singt: "Sorge l`irato nembo" - Ein wütender Sturm zieht auf.

Mehrere Liebespaare in einer Oper - und eine noch im Wahnsinn triumphierende Sonia Prina als Orlando 
Die Besonderheit der Vivaldi-Bearbeitung des Orlando besteht darin, dass hier mehrere Liebespaare in einer Oper eingesetzt werden: Bradamante-Rugggiero, Angelica-Medoro, hinzu kommen Astolfo der Alcina ebenso unerwidert liebt wie diese den Ruggiero. Und schließlich Orlando, den seine Liebe zu Angelica nicht nur zeitweise um den Verstand bringt, sondern auch in Lebensgefahr. Da hat sich der Komponist mehr zugetraut und verwirklicht, als andere, die sich mit weniger Liebesreigen begnügten. Es ist ein Verdienst der modernen Frankfurter Inszenierung, die zahlreichen Facetten des um seine Liebe betrogenen wütenden Ritters Orlando auch szenisch ergreifend auszuloten. Im letzten Akt, noch vor seiner "Heilung" erscheint der nun völlig seines Verstands beraubte Orlando (Sonia Prina) im ausgeschnittenen roten Abendkleid, das um eine männliche Brustmaske mit Behaarung drapiert ist und zeigt schwungvoll mal die Vorder- mal die Hinterseite dieser Bühnenkleidung, ohne dass es jemals lächerlich wirkt. 

Die Sänger
Neben Sonia Prinas warmem Alt in dieser Hosenrolle gefielen auch Daniela Pini als Zauberin Alclna, der Vivaldi zahlreiche, nämlich sechs Arien unterschiedlichster Gefühle  auf den Weg gegeben hat. Die erste Sängerin der Alcina soll eine Gefährtin des "roten Priesters" Vivaldi gewesen sein, ein Grund, neben dem "Außenseiter" Orlando auch sie mit besonders ausdrucksvollen Solostücken auszustatten.  Wie Orlando ist auch die mächtige Alcina unglücklich verliebt. 

Angelica, die auch bei Vivaldi stolz die Männer aufzählen darf, die ihr verfallen sind, glänzt mit einem makellosen glatten und geläufigen Mezzo, den sie mit halsbrecherischem Tempo einsetzen darf. Hier bewährt sich die junge Amerikanerin Brenda Rea. Angelica wird als temperamentvolle jugendliche Liebhaberin des Medoro voller Unschuld und Kühnheit dargestellt. Das ist toll und überzeugend. Andererseits fand ich den Regieeinfall unglaubwürdig und einfältig, sie zu Beginn als gelehrige Schülerin der männerverschlingenden "Hexe" Alcina vorzuführen: Die wilde Angelica muss erst lernen, auf Stöckelschuhen zu gehen und Männer zu umgarnen? Da ist ihr klassisches Vorbild bei Ludovico Ariosto, die kühle und zunächst spröde chinesische Prinzessin und Abenteurerin, der erst Amors Pfeil weibliche Liebesgefühle einimpft, zu weit entfernt. Auch Paula Murrhy als Medoro singt halsbrecherisch, bleibt aber darstellerisch blass - vom "heidnischen" barbarischen Krieger ist in der Inszenierung nichts mehr zu spüren - hier ist ein junges verliebtes Paar, das gemeinsam Spaß hat, das war`s.

Bleibt noch das Duo Bradamante (Katharina Magiera) und Ruggiero (der wunderbare Countertenor William Towers): Hier gelingt die "Übersetzung" ins Heute sehr überzeugend: Bradamante ist zwar keine strahlende Ritterin und Ruggiero wirkt auch nicht heldenhaft, eher der ihn verfolgenden Geliebten gegenüber tumb und der Alcina gegenüber verführbar. Aber die Idee, Bradamante als grimmig entschlossene Hausfrau und sogar Mutter zu entwerfen, die sich furchtlos und zielstrebig in das Getümmel wirft, um den geliebten Ruggiero aus den Fängen der Zauberin zu befreien, ist witzig und wird durch Frisur und adrette Kleidung der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts noch unterstrichen. William Towers als Ruggiero glänzt insbesondere in der Arie "Sol da te mio dolce amore" (Nur du, meine süße Liebe) und wird hier meisterhaft von der Traversflöte begleitet. "Der Part in dieser idyllischen Arie ist eines der schwierigsten Stücke, die je für das Instrument geschrieben wurden" (Die OpernSammlung). Ariost verfolgte übrigens die Absicht, mit seinem Versepos von 40 Gesängen, das Casanova in seinen Memoiren zu den bedeutendsten Werken italienischer Dichtung zählt, seinem Brotherren, dem Kardinal Ippolito d`Este zu gefallen. Er wollte die Geschichte des Ferrareser Fürstengeschlechts verherrlichen, welches angeblich auf den Paladin Karls des Großen Ruggiero und seine Gattin Bradamante zurückgeht.

Astolfo (Florian Plock) war als Vetter Orlandos wie ein britischer Internatsschüler ausstaffiert. Stimmig - auch bei Ariost ist Astolfo ein etwas schrulliger Engländer. Plocks Bass-Koloraturen "saßen" genauso sicher wie die der übrigen Protagonisten. Darstellerisch musste er, unglücklich in Alcina verliebt, den Trottel abgeben.

David Böschs Inszenierung
Die Regie lehnt sich an die Rezeption  des klassischen Stoffes zu Vivaldis Zeiten an und betont die komischen Seiten, die schon früh vom Straßentheater und von der Commedia del`arte aufgegriffen wurden. Haydn machte es ebenso.  Ariosts Orlando war und ist jedoch nicht bloße Unterhaltungsliteratur, sondern gehört bis in die Gegenwart zum Kanon klassisch gebildeter Italiener. Schon zu Lebzeiten wurde der Dichter von Tizian gemalt. Auch in dieser poppig angehauchten modernen Inszenierung  einer Barockoper durch David Bösch gelangen magische Momente, die auch den grandiosen Lichteffekten (Olaf Winter) geschuldet waren. Da geht die Sonne über der Insel, über Alcinas Zauberreich, auf und unter, rosa Wölkchen erscheinen und verschwinden, und gelegentlich wird eine kalte Stimmung gezaubert, die schonungslos den Blick auf die kitschigen und hässlichen Seiten dieser Inselwelt freilegen, in der die Naturgesetze außer Kraft geraten sind. Der Blick fällt auf eine zerklüftete karge Gegend mit Höhle und Bar. In der Höhle das Liebeslager von Angelica und Medoro. Der Schirm einer aus Felsen aufragenden Stehlampe wirkt wie ein künstlicher Mond. Mich erinnerte die Zauberinsel der Alcina auf der Bühne an die Felsen der äolischen Insel Lisca Bianca in Michelangelo Antonionis berühmtem Film "L`Avventura" - "Die mit der Liebe spielen" mit Monica Vitti (1960). Lediglich Alcina prunkt in prächtigen langen Gewändern, die übrigen sind teils lächerlich, teils gewollt knallig kostümiert. Angelica erscheint zum Beispiel in ihrer Auftrittsszene in einem roten Blouson zum hellblauen Pettycoat. Sonia Prina gibt breitbeinig und derb mit nackten Armen, die aus einem schwarzen Anzug herausragen, den tölpelhaften Ritter. Im Verlaufe der Oper ändern sich jedoch Auftreten und Kostüme; rasche Wechsel unterstreichen das Wetterleuchten der Gefühle. Alcina ist mal schwankende Alkoholikerin, dann wieder jugendlich anziehende Verführerin und sogar hässliche hexenhafte Alte.

Hingebungsvolles Musizieren 
Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester spielte unter dem Dirigat Marcons auf historischen Instrumenten, darunter einer auffälligen 13-chörigen Theorbe (einer Laute ähnlich) und der bereits erwähnten seitlich geblasenen Traversflöte, einer Vorform der modernen Querflöte, die zur Entstehungszeit der Oper (1727) gerade in Mode kam und ab 1750 die Blockflöte ersetzte.

Einstimmung und Schlussakkord
In der Aufführung am 18.2.2010 konnte sich das Publikum vorab in einer gut besuchten Einführung in der Oper auf die Aufführung einstimmen. Als Abschluss gab es dann noch eine Podiumsdiskussion, kenntnisreich moderiert von Steffen Seibert (ZDF). Teilnehmer waren neben dem Dirigenten Andrea Marcon die Sängerinnen des Orlando Sonia Prina und der Angelica Brenda Rae, ein krönender Abschluss, den man bei einem Glas Wein genießen konnte. Und gleichzeitig lief in Frankfurt die Ausnahme-Ausstellung mit Werken des Renaissance-Malers Sandro Botticelli - Frankfurt war wirklich eine Winterreise wert.

Weitere Vorstellungen: 12./14./20. und 31. März 2010

Astrid Fricke

4. März 2010

Komödie in der Komödie

Il turco in Italia auf DVD


In Memoriam an den vor zwei Jahren verstorbenen Bühnenbildner Emanuele Luzzati brachte 2009 das Teatro Carlo Felice in Genua eine zauberhafte Aufführung von Il turco in Italia auf DVD heraus. Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist eine in jeder Hinsicht beglückende Aufnahme geworden, die das Herz nicht nur des Rossini Verehrers höher schlagen lässt. 

Rossini hatte sich mit der Komposition des dramma buffo viel Mühe gegeben, kaum Selbstanleihen gemacht und die Figuren sorgfaltig ausgearbeitet. Dazu lieferte der Librettist Felice Romani einen Text voll Witz und Charme, der sich aufs Schönste mit der sprühenden Musik verband. Heute unverständlich, dass 1814 diese klassische Commedia dell’arte -Buffa vom Mailänder Publikum abgelehnt wurde. Erst durch die aufsehenerregende Inszenierung von Luchino Visconti im Jahr 1950 mit Callas und Bruscantini in den Hauptrollen wurde Il turco in Italia wieder als Meisterwerk gewürdigt. 



Im Stil einer Komödie in der Komödie haben der Regisseur EGISTO MARCUCCI und der Bühnenbilder EMANUELE LUZZATI links und rechts der Szene Opernlogen mit gemalten Masken gebaut. In einer Ecke steht das Pult des die Handlung kommentierenden Dichters, und ein ganz in Weiß gekleideter Pulcinella agiert als stummer Mitspieler. Die stimmungsvollen Bühnenbilder, die Beleuchtung, alles atmet in jedem Moment die Leichtigkeit und Anmut der italienischen Stegreifkomödie. SANTUZZA CALI schuf bildschöne, kostbare Kostüme. Dazu begeistert ein Ensemble von ausgezeichneten Sängern, die auch ihre Rollen überzeugend spielen und deren Mienenspiel in Nahaufnahmen eindrucksvoll gezeigt wird. 



Den reichen Türken Selim, der fremde Sitten – und Frauen – in Italien kennenlernen möchte, singt SIMONE ALAIMO mit machtvollem schwarzen Bass, mal verliebt werbend, mal aufbrausend zornig. Ein imposantes Mannsbild in das sich die kokette Donna Fiorilla sofort verliebt. MYRTO PAPATANASIU prunkt mit ihrem wandlungsfähigen klaren Sopran als dieses flatterhafte Weibchen und begeistert mit geschmeidigen Fiorituren. Glaubhaft klingt ihre Verzweiflung über die angekündigte Scheidung: „Si, mi è forza partir“. Don Geronio, Fiorillas ältlicher geplagter Ehemann, wird von BRUNO DE SIMONE in bester Bass-Buffo Manier gesungen. Im „Frauenkauf-Duett“ mit Selim kann er seiner Wut über den türkischen Verführer eindrucksvoll Luft machen. Mit schmelzendem Tenor und in bester Belcanto-Technik erfreut ANTONINO SIRAGUSA als Don Narciso, Fiorillas cavaliere servente, in der Arie „Se il mio rival deludo“. ANTONELLA NAPPA als verschmähte Zaida besticht mit klangvoll dramatischem Mezzo. Sanft tröstet sie FEDERICO LEPRE als Zigeuner Albazar. VINCENZO TAORMINA in der Partie des Dichters Prosdocimo begleitet mit seinem gut geführten Bariton die quirlige Komödie. Tonschön singt der Chor (Ciro Visco), akrobatisch begabt sind die Tänzer (Giovanni Di Cicco). JONATHAN WEBB am Pult des Orchestra del Teatro Carlo Felice entfacht ein rossinianisches Feuerwerk bereits in der Ouvertüre, besonders schön die Bläser. In den Arien und Ensembleszenen bringt er echte Italianità zu Gehör. 


Eine rundum gelungene Aufnahme.

ARTHAUS Musik DVD 101391. Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch. Laufzeit:162 Min. 



Julia Poser

1. März 2010

"Otello" in Lausanne

Rossinis Otello in der Inszenierung von Giancarlo del Monaco kam 2007 beim Rossini Opera Festival in Pesaro heraus und war eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin und der Opéra de Lausanne. Während die Deutschen bisher keine Anstalten machten, das Werk auf ihren Spielplan zu setzen, haben die Schweizer nun ihre Pflicht erfüllt, wodurch man hierzulande Rossinis Meisterwerk nur eine Saison nach Biel/Solothurn erneut erleben durfte. Reduzierte die Bieler Produktion Rossinis Behandlung des Stoffes auf eine ironisierende metatheatralische Inszenierung, nahm Del Monaco die Handlung ernst (wenn auch mehr aus Shakespeares denn aus Rossinis Sicht) und verlieh ihr mit der metaphysischen Vermehrfachung des unheimlichen Jagos das Pathos einer Gruselnovelle[1].

René Magritte: La victoire Quelle

Die unendliche Weite des surrealen Meeres Magrittescher Inspiration, konzipiert für die breite Bühne der Pesareser Adriatic Arena, wirkte etwas eingezwängt auf der Szene der Salle Métropole, die nunmehr schon seit drei Spielzeiten als Ersatz für die in Renovation befindliche Opéra dient. Der Saal bietet simple Holzstühle mit dünnen Sitzkissen, dafür eine großzügige Reihenanordnung mit viel Beinfreiheit, und ist auch sonst ganz angenehm (von den surrende Scheinwerferkühlungen abgesehen) und beim Publikum beliebt, so dass auch diese letzte von vier Aufführungen vom 28. Februar 2010 vor vollen Rängen stattfinden konnte.



Foto Opéra de Lausanne / Marc Vanappelghem

Bot die Inszenierung keine Überraschung mehr, so durfte der Besetzung umso größeres Interesse entgegengebracht werden. Das gilt auch für die Primadonnenrolle der Desdemona, die als einzige aus der Pesareser Erstaufführung übrig geblieben ist. War es der etwas kleinere Saal, der ihr mehr Rückhalt bot, oder ist die Stimme und die Persönlichkeit von Olga Peretyatko seither gereift? Auf jeden Fall schienen die dramatischen Attacken im Terzett und in der Arie im zweiten Akt weniger fragil als noch vor zwei Jahren. Und die größere dramatische Wucht ging keineswegs auf Kosten ihrer lyrischen Innigkeit, die sie an den anderen Stellen der Rolle verlieh. Mit einem Wort: die junge Russin näherte sich dem Ideal einer Colbran-Rolle, und ich könnte sie mir jetzt gut als Elcìa oder als Elena vorstellen.

Gespannt war man auf John Osborn, der als große Rossini-Hoffnung gehandelt wird und übernächstes Jahr den Arnold in Pesaro singen soll (wie schon vor zwei Jahren konzertant in Rom). Obwohl kein eigentlicher Baritenor, eignet sich sein Timbre gut für die Nozzari-Rolle des Otello, vor allem dann, wenn sich dieses so gut von einer hellen und leichten Stimme wie derjenigen von Mironov abgrenzt. Auffallend war aber, wie vorsichtig und bedacht der Amerikaner die Rolle anging, so dass er beinahe träge wirkte, einschließlich der Koloraturen, die nicht mit natürlicher Leichtigkeit aus seiner Kehle kamen. Osborn war ein zuverlässiger und sicherer, aber kein leidenschaftlicher Otello, und sein Monolog im dritten Akt weckte keine großen Emotionen – kein Vergleich zu der charismatischen Rollengestaltung eines alten Kämpen wie Gregory Kunde. Auf einem ähnlichen Niveau bewegte sich der andere tenorale Hoffnungsträger, Maxim Mironov, der mit schöner und gut geführter (manchmal an Matteuzzi gemahnenden) Stimme einen etwas kühlen Rodrigo abgab – es fehlt der Stimme an einem berührenden Schmelz und seiner Gestaltung an jener Dreistigkeit, die die Rolle erst über ihre relative Belanglosigkeit hinaustragen kann. Erstaunlich war hingegen das Auftreten von Shi Yijie, den ich im letzten Sommer in Pesaro für die anspruchsvolle Hauptrolle des Comte Ory völlig unausgereift fand, und der aber in der bedeutend weniger fordernden Charakterrolle des Jago zeigte, dass er zu berechtigten Hoffnungen Anlass gibt, sofern ihm eine vernünftige Entwicklung gegönnt wird. Total überzeugend war auch Giovanni Furlanetto, der dem Elmiro nicht nur die nötige Basstiefe verlieh, sondern auch die Gestaltung eines Vaters, der neben seinem von Eigennutz und Stolz geprägten Machtgebaren auch Gewissensbisse erkennen lässt. Die Emilia der Isabelle Henriquez überzeugte mich dagegen nicht, dafür hätte ich mir eine lyrischere und wärmere Stimme gewünscht. Mit Sébastien Eysette aus dem Chor der Oper Lausanne war die Nebennebenrolle des Lucio angenehm besetzt, und ebenso hätte man sich den Dogen an Stelle des ausgesungenen Rémy Corazzo gewünscht. Der Gondoliere wurde von Yijie gesungen, und auch von einem der Jago-Komparsen gemimt, was diesem die „moralische Atmosphäre“ bildenden Geniestreichs Rossinis jenes Imaginär-Surreale verlieh, das Jagos Präsenz in dieser Inszenierung in Desdemonas Wahrnehmung auch sonst prägt.

Das Dirigat unter Corrado Rovaris war weniger transparent in der orchestralen Raffinesse als bei Palumbo in Pesaro, dafür aber auch bedeutend schwungvoller in den Rezitativen. Chor und Orchester leisteten saubere Arbeit. Die ganze ungekürzte Aufführung dauerte 3¼ Stunden (mit Pause) und mithin länger als der zusammengestrichene Nürnberger Moïse – offenbar haben die Romands trotz harter Stühle das bessere Sitzfleisch als die Franken.

Ausgezeichnet war übrigens die französische Übertitelung, nicht nur wegen der gelungenen (leider anonymen) Übersetzung, sondern auch wegen der mit der Musik und dem Bühnengeschehen klug abgestimmten Textdarstellung.

Reto Müller (Besuchte Aufführung 28. Februar 2010)
(Vorabdruck aus «Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft Nr. 50, April 2010)


[1] Aus meiner Besprechung von 2007 («Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft Nr. 42, September 2007): Ein raffiniertes Spiel mit neun beweglichen Türrahmen schuf immer neue Situationen und Räume innerhalb der schicksalhaften Weite eines blau in blau mit dem Himmel verschmelzenden Ozeans, dessen in sich ruhende konstante Wellenbewegung ganz der ondulierenden Musik Desdemonas entsprach (freilich schien Del Monaco in dieser ganzen Konzeption den Chor vergessen zu haben: so ließ er ihn dann von Fall zu Fall, ganz in rot eingekleidet, auf einem versenkbaren Balkon auftreten). Evozierte dieses Bild keinen direkten Bezug zu Venedig, so taten es die Kostüme, welche gut die Patrizierzeit der Adriarepublik darstellten: Das Bühnenbild und die Kostüme verschmolzen zu einem Ganzen, das der Musik und dem Libretto entsprach. Neun Jago-Mimen fungierten als unheimliche Kulissenschieber und die Szene im letzten Akt, wo zwei Jago-Typen einen Türrahmen zum Sarg Desdemonas umfunktionierten, schien einer Schauergeschichte aus Les milles et un fantômes von Alexandre Dumas entnommen zu sein. Die Personenführung war akkurat, manchmal etwas manieriert und nicht immer ganz stimmig mit den Charakteren: der schicksalhaften Todesahnung, die Desdemona von Anfang an lähmt, schien mir Del Monaco mit der mädchenhaften Verspieltheit der Rollenzeichnung nicht gerecht zu werden; durch die unbedarfte Hochstilisierung Jagos als Verrätertyp und seines Briefes als Mittel zum Zweck beschränkte sich Del Monaco auf den Stoff von Shakespeare und Verdi, statt sich mit der eigentlich „Desdemona“ zu nennenden Oper von Rossini wirklich tiefgründig auseinanderzusetzen. Insgesamt aber eine in sich stimmige, gut gemeinte Inszenierung, die auf Provokationen verzichtete.