13. April 2010

'Tancredi' in Biel

Wenn irgendwo Tancredi auf dem Spielplan steht, stellt sich immer auch die Frage über die gespielte Fassung. Ein Bekannter, den ich zur Premiere in Biel treffen wollte, fragte mich, ob er das Taschentuch mitnehmen solle, oder ob die Fassung mit dem glücklichen Ende gespielt werde. Ich versuchte, mich auf der Website des Theaters schlau zu machen. Dort hiess es zu dem Stück u.a. „Auf dem Schlachtfeld erfährt er [Tancredi], ausgerechnet von seinem sterbenden Feind, von der Unschuld Amenaides“. Da diese Aussage auf die Fassung mit dem tragischen Ende (geschrieben für Ferrara) nicht zutrifft, war die logische Schlussfolgerung, dass Biel die „taschentuchlose“ Fassung (Venedig oder Mailand) spielen würde. Das wäre auch die Lösung, die insgesamt am besten zum Geist dieser Oper passt. Aber man kann sich der grossartigen experimentellen Lösung Rossinis mit dem tragischen Ende nicht verschliessen, vor allem wenn ein so guter Tancredi wie in Biel zur Verfügung steht. Die Handlungsangabe im Programmheft ist denn auch explizit, wenngleich nicht ganz korrekt: „Tödlich verwundet erfährt Tancredi von Amenaide [in Wirklichkeit von Argirio], dass er Adressat des Briefes war. Sterbend versöhnt er sich mit ihr“. Im Weiteren heisst es zur Fassung: „Wir haben uns für diese Version [von Ferrara] entschieden und noch eine Arie Argirios aus der Mailänder Fassung eingefügt“. Das Wort eingefügt suggeriert eine Ergänzung, in Wirklichkeit wurde aber im 1. Akt die Arie (Nr. 4) „Pensa che sei mia figlia“ der Venezianer Fassung durch die für Mailand von einem anderen Tenor verwendete Arie (Nr. 4a) „Se ostinata non cedi“ ersetzt – eine Arie, die wahrscheinlich nicht von Rossini selbst stammt aber von ihm akzeptiert wurde. Es gibt weitere Abweichungen von der Ferrara-Fassung, die nicht erläutert sind: Während Rossini in Ferrara das Duett Amenaide-Tancredi aus dem zweiten Akt (Nr. 14) mit minimalen Textanpassungen an die Stelle des Duetts (Nr. 5) im 1. Akt setzte und im 2. Akt auf ein Duett der beiden verzichtete, wird in Biel im 1. Akt das ursprüngliche Duett gesungen; im 2. Akt entfällt der ganze Komplex Chor (Nr. 13), Duett (Nr. 14) und Arie Roggiero (Nr. 15). Dafür wird hier von der Arie Argirios im 2. Akt (Nr. 8), die in Ferrara ganz entfiel, das einleitende, begleitete Rezitativ gespielt, womit wenigstens im Ansatz der Zwiespalt gezeigt wird, in dem sich der Vater und Politiker befindet. Ingesamt wurde in Biel aus den drei Fassungen und den möglichen Kombinationen eine musikalisch und dramaturgisch schlüssige Wahl getroffen.

Dies gilt m.E. vom Standpunkt der Werktreue aus leider nicht für die szenische Umsetzung. Über die neuesten Tancredi‑Inszenierungen und ihre Absurditäten haben wir erst im letzten Mitteilungsblatt lesen können: Faschisten-Epos inkl. Mussolini in Wien, spanischer Bürgerkrieg mit schwangerer Amenaide in Boston. Ich selber erinnere mich einer krass-hässlichen Mafiainszenierung inkl. Kopfschussszenen in Winterthur (Produktion des Zürcher Opernhauses 1996). Auf dieser ruhmreichen Interpretationsschiene bewegte sich grosso modo auch der jüngste Tancredi in der Produktion des Ensemble-Theaters Biel-Solothurn, das bislang noch von Segnungen moderner Regieansätze relativ unkontaminiert geblieben ist. Alexander von Pfeil wollte „eine Welt schaffen, die wir erkennen können. Das muss nicht bedeuten, dass es zwangsläufig in unserer Zeit spielen muss, aber Ritter in Strumpfhosen wären doch zu weit weg“. Natürlich könnte er statt Strumpfhosen gerade so gut Kettenhemden, Hellebarden oder Schwerter gesagt haben, alles Dinge, die ihm offenbar zu altbacken sind und denen er die heute bis zum Überdruss verwendeten Stereotypen Tarnanzüge, Springerstiefel, Pistole und Maschinengewehre vorzieht. AvP (wie wir ihn nun analog zum Interview im Programmheft nennen wollen) fährt fort: „Wir befinden uns in einem Land im Bürgerkrieg. Man kann auch das Gefühl haben, dass es mafiöse Verstrickungen gibt“. Letzteres schien denn auch die Hauptinspirationsquelle des Regisseurs zu sein. Vielleicht muss man an dieser Stelle wieder einmal in Erinnerung rufen, worum es in der Geschichte überhaupt geht. Unter dem Druck der äusseren Bedrohung durch die Sarazenen (angeführt von dem Mohren Solamir) vereinigen sich die zerstrittenen Kräfte des Stadtstaates Siracusa; Argirio übergibt die Macht seinem bisherigen Gegner Orbazzano und verspricht ihm die Hand seiner Tochter Amenaide. Dabei ignoriert er, dass diese den geächteten Edelmann Tancredi liebt. Das Drama basiert aber nicht, wie unzählige Opernstoffe mit dieser Viererkonstellation, auf einer nicht standesgemässen Liebe (wie z.B. bei den Feldherren Otello, Falliero oder Eduardo), sondern vor allem in der charakterlichen und situationsbedingten Unfähigkeit Amenaides, ihrem heimkehrenden Liebhaber die Umstände klar zu machen, sodass dieser (im Gegensatz zu Falliero und Eduardo) an ihrer Liebe zweifeln muss.



Violetta Radomirksa - Rosa Elvira Sierra. Foto: Theater Biel

Will man eine solche Konstellation auf eine handlungsfremde Zeit übertragen, sollten die Umstände wenigstens vergleichbar sein. Wir erfahren in Biel nicht, wer der Gegner, wer dieser Solamir ist. Der Anführer eines weiteren Clans? In dem gezeigten Mafiaumfeld würde es noch am ehesten Sinn machen, wenn es der Staat wäre, Carabinieri und Poliziotti auf der Jagd der Malavita. Und wer ist dieser Tancredi, der bis an die Zähne bewaffnet in Syrakus eindringt? Führt er mit seinem handgranatengefüllten Rucksack einen persönlichen Rachefeldzug, oder ist er ein Partisanenkämpfer oder ein Terrorist? Wie auch immer, AvP nobilitiert eine Unrechtsgesellschaft, der man keine Sympathie entgegenbringen sollte. Rossini hat dagegen einen Rechtsstaat gezeigt, dessen innere und äussere Bedrohungen am Schluss abgewendet werden können.

AvP: „Man muss das Stück verdichten und auf die zentralen Konflikte konzentrieren“. Diese Aufgabe hat bereits Rossini wahrgenommen, denn genau das ist seine Stärke. Es gibt kaum einen Komponisten, der sich in der Behandlung seiner Stoffe so konsequent auf einen Handlungsstrang konzentrierte und Nebenhandlungen bewusst beiseite liess bzw. eliminierte (erinnert sei etwa an das überflüssige Liebesduett in der Italienerin, ist doch die Liebe zwischen Isabella und Lindoro gar nie in Frage gestellt). AvP macht genau das Gegenteil, er schafft Nebenhandlungen, Aktionismus, psychologische Ungereimtheiten, Anachronismen, stofffremde Eigeninterpretationen. Eine Nebenhandlung wird z.B. durch die Rolle eines Telefons übernommen. Dauernd nimmt dort jemand Befehle entgegen oder übermittelt Botschaften, ohne dass je klar wird, wer am anderen Ende sitzt. Der grosse Oberboss? Es ist ein reiner Inszenierungsleerlauf, genauso wie das dauernde Tuscheln und Gestikulieren der nicht singenden Personen. Psychologische Ungereimtheiten gibt es zuhauf. Bei ihrem ersten Auftritt wird Amenaide Orbazzano vorgestellt, den sie mit gespielter Höflichkeit begrüsst und nebenher Faxen über ihn macht: für den Zuschauer wird sofort deutlich, dass sie weiss, ihn heiraten zu müssen. Ihren hoffnungsvollen Gesang über das ersehnte Wiedersehen mit dem Geliebten übergeht der Regisseur in eklatanter Weise, indem er eine Situation vorweg nimmt, die erst im Rezitativ nach der Arie angelegt ist. Ein ähnlicher Anachronismus spielt sich in der „Kerkerszene“ ab. Dort müssen wir zweimal mit ansehen, wie ihr die Todesspritze an den Arm gesetzt, aber dann doch nicht abgedrückt wird, weil es einem der ihr freundlicher gesonnenen Männer offenbar gelingt (tuscheln, gestikulieren mit Orbazzano), die Vollstreckung des Todesurteils zu verzögern oder auszusetzen. Sie müsste also eine Arie singen, in der sie sich zwischen Todesangst und Hoffnung bewegt. Amenaide singt aber eine Arie, in der sie nichts mehr anderes als den Tod erwartet. – Das Duett (Nr. 11) „M’abbraccia, Argirio… Ecco le trombe“, das die emotionale Verbundenheit von Argirio und Tancredi textlich und musikalisch zeichnet, wird von Anfang an in Sarkasmus umgedeutet, Tancredi bedroht den Vater seiner Geliebten mit der Pistole, um ihm Dankbarkeit für die Ausschaltung Orbazzanos abzuringen, während – wiederum in einer Nebenhandlung – der Arzt, der vorhin Amenaide mit der Spritze töten sollte, umgebracht wird (mit einer Injektion in den Po, was auch noch witzig sein soll). Das zündend gesungene und mitreissende Duett erhält einen zögerlichen und rasch erstickenden Applaus, dem Publikum bleibt angesichts des Kontrastes zwischen Musik und szenischer Handlung der Brocken buchstäblich im Hals stecken. Die grösste Absurdität hat sich AvP aber für den Schluss aufbewahrt – offenbar getreu einer modischen Regisseuren-Maxime, wonach zuletzt ein Bruch stattfinden muss (vgl. den Tell in Gelsenkirchen, den Otello in Biel, den Moïse in Nürnberg…). Nach dem bewegenden Tod Tancredis, kurz bevor der Vorhang fällt (bzw. das Licht ausgeht), schnellt Amenaide hoch, greift zu einer Pistole und richtet sie auf ihren Vater. Dabei ist ein Hass Amenaides auf ihren Vater, der zu einer solchen Affekthandlung führen würden, in dieser Oper überhaupt kein Thema. Das versteht AvP also unter „Konzentration auf zentrale Konflikte“. Es ist die reine Wichtigtuerei eines Regisseurs, der wieder einmal besser und klüger sein will, als die Vorlage, die er zu realisieren hat. Für die zentralen Fragezeichen, die dieses Libretto effektiv offen lässt, hat auch er keine Antwort: nämlich die Frage, warum es Amenaide nicht gelingt, Tancredi über die wahren Verhältnisse zu unterrichten, auch dann nicht, wenn der innere Feind (Orbazzano) längst erledigt und Tancredi als neuer Führer akzeptiert ist. Wenn Amenaide zum Erklärungsversuch „Esci d’errore omai…“ ansetzt und Tancredi mit „Taci, è vano quel pianto“ und seiner anschliessenden Arie „Perché turbar la calma“ antwortet, zeigt nichts in dieser Inszenierung, dass seine brüske Abweisung und der Aufbruch zum Kampf sie gar nicht zu Wort kommen lässt.

Zu den Albernheiten gehört nicht nur das Telefon, sondern auch die Spaghetti essenden Mafiosi, die an die Papataci-Szene in der Italienerin erinnern (und zudem noch in Teller nachschöpfen, die bereits oder noch voll sind), oder die obligate Raucherszene: Theaterbühnen scheinen die letzten Refugien von öffentlichem Raucherexhibitionismus zu sein – es gibt doch nichts Cooleres (und nichts Abgeschmackteres und Trivialeres) als den Griff zur Zigarette zu inszenieren. Einer der beiden etwa 6jährigen Buben, die ein Elternpaar vielleicht in Erwartung einer schönen Rittergeschichte mit Happyend mit ins Theater genommen hatten, fand das ganz toll: „Mami, dä het ä Sigärette!“. Soviel zur ostentativen Verweigerung moralischer Ansprüche in der Oper, in der auch die neueste Regisseuren-Generation im Kielwasser ihrer revolutionären 68er-Väter verharrt. Es versteht sich sodann fast von selbst, dass dem klassischen Gebot einer Erhabenheit und Schönheit auch im Tragischen hier eine blutbesudelte, in Plastik gehüllte Leiche entgegengesetzt werden muss (der Bote Amenaides, von dem wir vom Hörensagen wissen, dass er gefasst und getötet wurde).

Insofern kann als Ehrenrettung für den Berufsmann auch gesagt werden, dass die von ihm gezeigte Geschichte durchaus ihre innere Logik und Stringenz und einige bezwingende Szenen hat, ja sogar eine ihr eigene Poesie, wie sie auch Blockbusters à la Star Wars oder Herr der Ringe vermitteln können, und das meine ich durchaus nicht abschätzig. Aber eben: Es ist seine Geschichte und nicht die von Rossini, und wenn ich in einem Restaurant Spaghetti alla Bolognese von der Tageskarte bestelle, möchte ich nicht Kutteln vorgesetzt bekommen.




Giuditta Pasta als "Strumpfhosen-Tancredi". Bild: DRG


Im Zusammenhang mit „der Welt, die wir erkennen können“ möchte ich noch daran erinnern, dass es abgesehen von zeitlich mehr oder weniger festlegbaren Handlungsumfeldern auch noch die Möglichkeit von „zeitlosen“ Ansätzen gibt – so wie dies Pierluigi Pizzi in allen seiner drei Tancredi-Inszenierungen in Pesaro gezeigt hat.

In der dritten und wohl exemplarischsten dieser „schwebenden“ Inszenierungen sang den Tancredi Daniela Barcellona, die sich kürzlich in einem Interview («Opernglas» 4/2010) zur musikalischen Leitung von Rossini äusserte: „Viele junge Dirigenten glauben, Rossini sei leicht zu interpretieren. Aber er ist ähnlich problematisch wie die Barockoper.“ Insofern ist die Dirigentin Cornelia von Kerssenbrock ein Glücksfall, da sie sich vor allem einen Ruf in der Barockoper gemacht hat. Sie leitet diese Oper mit grossem Impetus, mit rhythmischer Präzision, ausgewogener Differenzierung in den Tempi und der Dynamik und atmet stets mit den Sängern mit. Sie selber begleitet auch die ausgezeichnet gestalteten Rezitative am Cembalo.

Mit William Lombardi verfügt das Bieler Ensemble über einen beachtlichen Tenor, der mit Schmelz und einer gewissen Dreistigkeit seinen Rollen Glaubwürdigkeit verleiht. Vielleicht war es die Dreistigkeit, wegen der ihm bei der Premiere in der Introduktion der Spitzenton abbrach; auch an anderen Stellen geriet seine Stimme ins Schleudern. Vor dem 2. Akt gab Intendant Beat Wyrsch bekannt, dass der Tenor, wie man gehört hätte, indisponiert sei, aber die Aufführung trotzdem zu Ende führen würde. Auffallend war allerdings, dass Lombardi in seiner Arie keinerlei hörbare Probleme hatte – eine Arie, die (wie wir gesehen haben) für einen anderen Sänger als der Rest der Partie geschrieben wurde – möglicherweise war es einfach auch die Stretta mit ihrem rhythmisch fordernden und stark kolorierten Spitzengesang in der Introduktion, die dem Sänger zu schaffen machte, während die andere, noch ziemlich im Stil des 18. Jahrhunderts gehaltene Arie mehr in sich ruht. Der Hinweis auf einen „Virus“ erfolgt auch zu Beginn der zweiten Aufführung, aber Lombardi, der nun die heiklen Stellen deutlich vorsichtiger anging, liess keine Kickser mehr vernehmen.

Der dunkle Bass von Yongfan Chen-Hauser war genau das Richtige für den Bösewicht Orbazzano: eine Partie, die nicht durch grosse dynamische und verzierende Raffinesse als vielmehr durch eine markig-dunkle Präsenz auffallen muss. Und es ist sehr beeindruckend, wie seine Stimme im Ensemble der Überraschung zu Beginn des 1. Finales durchdringt.

Rie Horiguchi erwies sich als Isaura in der Introduktion als etwas kurzatmig. Ihre schöne Arie „Tu che i miseri conforti“ sang sie aber wunderbar. Schade war, dass Nathalie Colas, ebenso wie Horiguchi Studierende der Hochschule der Künste Bern (Schweizer Opernstudio), ihre Stimme nicht in der Ruggiero-Arie „Torni alfin ridente“ präsentieren konnte.

Rosa Elvira Sierra hatte durch die läppischen Regieeinfälle keine Chance, den inneren Gehalt ihrer Auftrittsarie adäquat zu äussern – zu stark war sie von ausser-musikalischen Faxenschneiden absorbiert. Dafür war ihre „Kerkerarie“ eine Offenbarung. Sie, die mit Amina und Lucia in Biel das romantische Repertoire ausgelotet hat, verlieh ihrer Todeserwartung mit herrlicher Messa di voce jene nachtwandlerische Wahnsinnsverlorenheit, die vor allem für Donizettis Opernheldinnen zu typisch ist. Sie zeigte damit, wie stark Rossini, selbst in dieser frühen, klassischen Oper den Romantizismus der kommenden Jahrzehnte vorgeprägt hat.

Gross waren natürlich die Erwartungen in die Titelrolle von Violetta Radomirska, die mich in Biel schon als Cenerentola und letztes Jahr als Desdemona beeindruckt hatte. Mit der eigentlichen Sopranpartie der Letzteren ist die Mezzosopranistin ein gewisses Risiko eingegangen, das sie bravourös meisterte. Mit dem Tancredi hat sie aber eine ihr kongeniale Partie gefunden. Die gesunde Stimme strömte im Wohlklang aus ihre Kehle, ihre pastose Tiefe kommt in dieser Partie richtig zur Geltung und entsprechend frei war ihre Rollengestaltung. Sie weiss nicht nur mit sicherer Kehlfertigkeit aufzutrumpfen, sondern auch mit emotionaler Gestaltung. Als schlaksiger Jüngling mit seinen Sehnsüchten und postpubertärem Narzissmus gab sie eine Charakterisierung ab, die nicht nur dieser Inszenierung gut entsprachen, sondern auch den androgynen Reiz von Rossinis Hosenrolle besonderes aufleben liess. Mögen wir sie früher oder später als Malcolm, als Calbo, als Arsace erleben (um nur die bekanntesten zu nennen)!

Fazit: Alle Achtung für die hohe musikalische Qualität, für die man diese Inszenierung im modernen Regie-Mainstream in Kauf nehmen kann. Weitere Aufführungen: hier.


Reto Müller (Besuchte Aufführung: 9. [Premiere] und 11. April 2010)

6. April 2010

Kommentar und weitere Aspekte zum Nürnberger Moïse

Reto Müller ein herzliches Dankeschön für seine ausführlichen Anmerkungen zum Nürnberger "Moïse". Die Präsentation dieser Oper war nicht so total abwegig, als dass sich ein solch ganz und gar negativer Grundsatz- "Verriss" darüber anböte, wie ihn beispielsweise Jacques Béranger über den Münchener Don Giovanni geschrieben hat (AnDante Kulturmagazin, 9. Ausgabe).

Erfreulich finde ich die Würdigung der gesanglichen Leistungen der Sänger von Moise und Pharao. In privatem Kreise oder der Presse wurden beide meist mit abwertenden Bemerkungen bedacht. Dass Intendant Peter Theiler den umfänglichen Kürzungen der Musik offensichtlich zugestimmt hat, wundert mich nicht. Der Staatsintendant stellt sich zwar gerne
seinem Publikum als bekennender Belcantofreund dar. Doch wer seine Guillaume-Tell-Aufführungen im Musiktheater Gelsenkirchen erlebt hat, dem dürfte die umfängliche Verwendung des Rotstiftes sehr bekannt vorkommen. Beim Tell versuchte Herr Theiler das noch mit der ungewöhnlich langen Spieldauer zu begründen, die man einem heutigen Publikum nicht mehr zumuten könne. Die im Vergleich zum Tell relativ kurze Spieldauer des Moise und die von Reto Müller zitierten Aufführungslängen von Zauberflöte und Tannhäuser lassen aber vermuten, dass man sich in Nürnberg mit den Darstellungsmitteln und der Sichtweise der Komponisten vor 1830 wohl überhaupt nicht näher beschäftigen möchte.

Schöne Musik zu spielen und akustisch Beeindruckendem nachzuspüren, reicht bei italienischen Opern völlig für ein Publikum, dem vordergründig meist lediglich Hörgenuss unterstellt wird. Bleibt zu hoffen, dass die Musikverantwortlichen die abwägenden und treffenden Ausführungen zu den Kürzungen und der Nummernproblematik auch zu lesen bekommen. Denn sonst bleibt sicher alles so, wie es ist...

Bei der Inszenierung möchte ich gern noch den räumlich-architektonischen Aspekt etwas stärker herausstellen. Die Bühne war als Einheitsraum mit variablem Hintergrund gestaltet. Der weiße Raum mit den Koffern an den Wänden und auf dem Boden vermittelte eindrucksvoll und grafisch von hoher Ästhetik die Grundsituation eines auf seine Abreise wartenden Volkes. Die Kofferschatten an den Wänden hielten auch im Schlussakt das Thema "Aufbruch", das dort durch andere Handlungen etwas zurückgedrängt wurde, ständig im Bewusstsein der Zuschauer.

Der Ortswechsel im Handlungsgeschehen steht einer Einheitsgestaltung grundsätzlich im Wege. Hier ersetzte im zweiten Akt eine geschickte Personenregie die räumliche Umgestaltung. Durch das Betonen der Privatheit im Auftreten des ägyptischen Herrscherpaares, verbunden mit einem Wechsel der Rückprospektoptik, wurde trotz des Einheitsbildes das Innere eines Palastes suggeriert. Dieser Teil der Inszenierung kann, für
sich betrachtet, durchaus auch ohne Historien- oder neuzeitlichen Bezug Gehalt und Aussage einer Handlung glaubhaft illustrieren.



Dieter Kalinka

5. April 2010

Rückblick auf den Nürnberger Moïse

Mit der Distanz von einigen Wochen wage ich einen Rückblick auf den Nürnberger Moïse, nicht zuletzt herausgefordert durch einige Betrachtungen von Astrid Fricke. Zunächst ein paar musikalische Eindrücke. Die Rolle des Protagonisten war bei Nicolai Karnolsky gut aufgehoben. Es zeigte sich einmal mehr, dass es für den Moïse keinen großartigen Belcanto-Bassisten braucht, sondern einen charismatischen Sänger-Darsteller. Karnolsky machte aus dem Theodor Herzl eine würdige und moralisch integre Figur, die er auch als Moses abgegeben hätte, wenn der Regisseur diesen nicht auf einen herumtänzelnden Stummrollen-Popanz reduziert hätte. Karnolsky und mit ihm der Pharaon des Melih Tepretmez (der einzige mit einem guten Französisch) waren unter den Männerstimmen die adäquatesten Besetzungen, wobei Daeyoung Kim in den Nebenrollen der Voix mistérieuse und des Priesters Oziride noch besonders hervorgehoben werden darf. David Yim mit seinem eigentlich schönen Timbre zeigte deutliche Limiten in der Rolle des Aménophis und wich teilweise mit abenteuerlichen harmonischen Wendungen seinen Spitzentönen aus. Doch hielt sich dieser Mangel in Grenzen, weil Rossini in dieser Oper für Adolphe Nourrit keine Tenorarie vorgesehen hat. Ganz schlimm war es um den Éliézer bestellt. Werden die gesanglichen Anforderungen an Moïse in der Regel überbewertet, so werden jene seines kleinen Bruders unterschätzt und die Rolle mit unzulänglichen Spieltenören besetzt. Vielleicht genügt es daran zu erinnern, dass Rossini diese Rolle für den selben Sänger schrieb, der dann auch den Fischer im Guillaume Tell kreierte. Die Rolle wird der Lächerlichkeit preisgegeben und gleichzeitig zur Pein, wenn sie unterbesetzt ist, was mit Richard Kindley leider der Fall war. Bei Hrachuhí Bassénz als Anaï fehlte mir die lyrische Innigkeit, und in manchen dramatischen Ausbrüchen dominierte eine gewisse Schärfe. Ihr Geschluchze im Duett mit Aménophis muss eine stilfremde Anleihe aus irgendwelchen Verismo-Opern gewesen sein, die mit Belcanto nichts zu tun hat. In ihrer großen Arie im vierten Akt war sie aber perfekt. Ezgi Kutlu entlockt dem Publikum durch ihr betörendes Auftreten als Sinaïde mitten in ihrer Arie viel Applaus, was auch ihrer stimmlichen Leistung zu verdanken war, wiewohl die Stimme durch einige Registerbrüche auffiel.
Insgesamt überzeugte die Nürnberger Produktion musikalisch weniger durch die Solisten als vor allem durch den Chor des Staatstheaters und das großartige Orchester, die Nürnberger Philharmoniker, die mit schöner Klangfarbe und solistisch sauberen Einsätzen auftrumpfen konnten. Die einfühlsame Leitung oblag Christian Reuter.


Inszenierung Paris 1827, 1. Akt (Bild: Wikipedia)


Erstaunlich ist, dass Staatsintendant Peter Theiler mit seiner wohlbekannten und segensreichen Liebe zur französischen Grand-Opéra beim ersten Teil dieses Gattungsbegriffs offenbar Kompromisse zulässt, die den Zweck der Übung ad absurdum zu führen drohen. Zum Vergleich: die 3 CDs, welche die Pesareser Aufführung von 1997 dokumentieren, dauern zusammen 3 Std. und 5 Minuten, die Nürnberger Produktion inkl. Pause 2 St. 50 Minuten, d.h. die Musik wurde um rund 45 Minuten gekürzt. Weggefallen sind erwartungsgemäß nicht nur die handlungsimmanenten Ballette, mit denen sich heutige Theater schwertun – auch Mehrspartenhäuser wie Nürnberg mit eigenem Ballett (vielleicht aus kameralistischen Gründen?!). Gestrichen wurde in teilweise schmerzhaft hörbarer Weise mitten in den Musiknummern – so z.B. in den Strettas der Introduktionen des 1. und 2. Aktes, oder im Duett der Liebenden, wo der ganze Abschluss fehlte (gegen 100 Takte oder ein Drittel der Nummer!), um nur die eklatantesten Striche zu nennen, die im Übrigen wie Guillotinenhiebe unerbittlich über jede Reprise niedersausten. Man fragt sich, ob es nicht klüger gewesen wäre, eine Nummer wie das Vater-Sohn-Duett (ein Überbleibsel aus der italienischen Fassung, das in dieser Choroper zwar einen schönen Kontrast schafft, aber nicht mehr, wie in der Neapolitaner Version, konstitutiv ist) ganz wegzulassen, wenn schon eine Spieldauer von drei Stunden als unzumutbar betrachtet wird. Angesichts dieser Kürzungen überrascht es auch, dass auf der anderen Seite ein Stück angefügt wurde, das von Rossini eliminiert wurde und somit vom Komponisten selbst als entbehrlich oder sogar als verfehlt empfunden wurde. Die Rede ist von dem Cantique, jenem Dankeschor, der an das instrumentale Finale anschließt und eine eigentliche „Doxologie“ zu dieser Bibeloper darstellt. Nun bin ich persönlich ein großer Anhänger dieser Nummer, die für mich eine formale und „moralische“ Vorwegnahme jener „Freiheitsanrufung“ ist, die den Guillaume Tell beschließt. Insofern bin ich dankbar, dass Nürnberg dieses Stück zu Gehör brachte, aber die Diskrepanz zu den drastischen Kürzungen innerhalb der Oper ist eklatant. Es macht mich sodann wütend, zu sehen, dass das selbe Opernhaus für eine Zauberflöte 3 Stunden und für einen Tannhäuser 4 Stunden 10 Minuten veranschlagt – mithin den deutschen Meistern Original- und Überlängen zugesteht, während man einen Rossini gnadenlos zusammenstaucht.


Inszenierung Paris 1827, 3. Akt (Bild: Wikipedia)


Theodor Herzl ist sicher eine spannende Figur für eine Operninszenierung. Ich würde es David Mouchtar-Samorai gönnen, wenn er in einer eigens auf diesen Stoff komponierten zeitgenössischen Oper Regie führen könnte. Allein, ihn über den biblischen bzw. rossinischen Moses zu stülpen, wird weder der einen noch der anderen Figur gerecht. Natürlich können wir dem Regisseur dankbar sein, dass er seine Moses-Metamorphose nur bis zu Herzl trieb und nicht, wie neulich zwei Enfants terribles von Pereiras Gnaden am Zürcher Opernhaus, zu einem Osama Bin Laden mutieren ließ; dankbar, dass er nicht den heutigen politischen und pseudo-religiösen Streit thematisierte (wie er selbst sagt: „Das wäre eine oberflächliche Antwort, die die Komplexität und die fatalen Probleme des jüdischen Staats […] ignoriert“). Die eingeblendeten Herzl-Zitate empfand ich denn auch nicht als politische, sondern mehr als philosophische Aussagen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der in einem symbolischen Akt nach Nürnberg berufene jüdische Regisseur zu einer „intellektuellen“ Betrachtung des Stoffes genötigt sah und dies in moderater, aber keineswegs naheliegender und werkstimmiger Weise getan hat. Vollends überfordert war er aber mit der Anforderung, den Cantique am Schluss der Oper noch in seine Inszenierung mit einzubeziehen. Er tat dies mit einem kompletten Stilbruch, wie es unserer schizophrenen Zeit offenbar angemessen ist. Nicht aber der Musik, denn der Cantique ist kein Stilbruch, sondern vielmehr eine Verdoppelung der einkehrenden Meeresstille im instrumentalen Finale. Es gab in den 80er Jahren in Pesaro in der italienischen Moses-Fassung jenes wunderschöne, harmonische Schlussbild von Pierluigi Pizzi, wo sich das ganze jüdische Volk zuletzt um Moses schart und in einem stummen Dankesgebet den Blick zum Himmel richtet. Genau dies ist der Cantique: das Volk dankt Gott, dass es vor der verfolgenden Armee gerettet wurde. Die Aussage von Operndramaturg Eule im Programmheft, wonach der Cantique eine Möglichkeit sei „zum guten Schluss, dem Liete fine [sic!] der Konvention, aufzuzeigen, dass die Errettung auch ihren bitteren Preis hat“ ist reine Phantasterei: eine solche Doppelbödigkeit ist weder im Text noch in der Musik angelegt, und mithin die Kriegs- und Holocaust-Episode des Regisseurs eine an der Dankbarkeitshymne Rossinis völlig vorbei inszenierte Willkürlichkeit.

In diesem Zusammenhang hat Astrid Fricke in ihrem Blog den erstaunlichen Satz geschrieben: „Die Forderung, die Oper so zu inszenieren, wie es dem historischen Rossini und seinen Librettisten vorschwebte, würde die Erfahrungen der letzten hundert Jahre ignorieren.“ Eine solche Sicht der Dinge ist ein Totschlagargument für jegliche genuine Darstellung historischer Stoffe; sie stellt die Bibel ebenso in Frage wie die immer wieder erfolgenden Historienverfilmungen der Moses-Legende; sie besagt, dass Oper, wie sie von ihren Schöpfern konzipiert und umgesetzt wurde (also nicht nur „vorschwebte“), heute keine Berechtigung mehr hat. Leider scheint dies die von der heutigen Regisseurengilde indoktrinierte Meinung zu sein. Die Dinge nur noch aus der Optik der eigenen (zwangsläufig beschränkten) Erfahrungswelt zu sehen, ist trivial; es ist eine sehr herabmindernde Sicht der Dinge, wenn man sich mit einer Thematik nur noch aus dem eigenen, gegenwärtigen Blickwinkel zu beschäftigen vermag und nicht mehr in der Lage ist, sich in andere Zeiten, andere Situationen und andere Menschen hineinzuversetzen und durch diese künstliche und künstlerische Horizonterweiterung die Reflexion über das eigene Ich und Jetzt zu schärfen. Insofern hat uns Theodor Herzl – zitiert im Nürnberger Programmheft – durchaus etwas zu sagen (aber eben als Theodor Herzl, nicht als Moses-Surrogat): „Traum ist von der Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum Traume“ – in der Umsetzung mancher modernen Inszenierung leider allzu oft zum Trauma.

Reto Müller
(Vorabdruck aus Mitteilungsblatt der Deutschen Rossini Gesellschaft, 50, April 2010)

28. März 2010

Triumph für Donizettis "Caterina Cornaro"

Zweitausend Belcanto-Fans feierten Nelly Miricioiù

Concertgebouw in Amsterdam (Foto: mikebm)

Es ist Samstagmittag, kurz nach 13 Uhr. Im wie so oft bei den konzertanten Opernaufführungen der “ZaterdagMatinee“ ausverkauften Concertgebouw in Amsterdam warten knapp 2000 Belcanto-Fans auf den Beginn der Donizetti-Oper "Caterina Cornaro". Von oben schreiten jetzt Sängerinnen, Sänger und Dirigent die zahlreichen Stufen zum Podium hinunter, begleitet von herzlichem Begrüßungsbeifall. Dieser steigert sich zum Orkan, als die erste Sängerin, eine gut aussehende, wenn auch nicht mehr ganz junge Dame ihr Notenpult erreicht. Bravarufe werden laut - “Nelly is back“. Nelly Miricioiù und die “Zaterdag- Matinee“: das ist eine lange “Liebesbeziehung“, die 1985 begann und über 25 Jahre hinweg unvergessliche Opernnachmittage garantierte. Meist verkörperte die in England lebende gebürtige Rumänin Heroinen des Belcanto (u.a. die Armida und Semiramide von Rossini, Donizettis Anna Bolena, Lucrezia Borgia, Maria Stuarda und Elisabetta sowie Bellinis Norma und Imogene ).

Nelly Miricioiù nach der Aufführung am 20.3.2010 
(Foto: Frits de Reuter im Blog von Nelly Miricioiu)

Auch Caterina Cornaro war eine jener historischen Frauengestalten, deren Schicksal offensichtlich vor allem in den 1840er Jahren Komponisten magisch anzog: Denn außer Donizetti schrieben u.a. Halévy, Balfe und Pacini Opern über die “Königin von Cypern“. Caterina stammte aus Venedig, wurde 1472 im Alter von 18 Jahren mit dem König von Zypern verheiratet, der 2 Jahre später einem Giftanschlag zum Opfer fiel. 15 Jahre lang herrschte sie nun allein über die Mittelmeerinsel, bis sie auf politischen Druck und mit sanfter Gewalt gezwungen in ihre Heimat zurückkehren musste. Als Entschädigung erhielt die junge Frau das nordwestlich von Venedig gelegene Städtchen Asolo, das sie mit großem Engagement und Unternehmungsgeist in kurzer Zeit für seine Bewohner zu einem lebenswerten Fleckchen Erde ausbaute. Vor allem aber machte sie, indem sie Künstler aller Sparten nach Asolo einlud, ihr kleines Reich zu einer Art Kulturhauptstadt Europas. Ihr Leben verbrachte sie – so der Dichter Pietro Bembo – „Tag für Tag mit Musik, Gesang, Tanz und prächtigen Gelagen“ in dem von ihr errichteten Barco, einer Villa, die auch heute noch existiert.

Caterina Cornaro (Foto: Wikipedia)

Nun also präsentierte sich Nelly Miricioiù  als Caterina Cornaro in der letzten Oper des Meisters aus Bergamo, die zu seinen Lebzeiten auf die Bühne kam (1844 in Neapel). Und man merkte schnell: immer noch (sie wird in diesen Tagen 58 Jahre alt) ist die Stimme dieser Ausnahmesängerin jederzeit in der Lage, in wunderbarer Weise Text und Emotionen in Musik und Töne zu fassen. Bei dramatischen Passagen klingt sie gelegentlich etwas klirrend, kann aber anscheinend mühelos alle vorgesehenen bzw. handlungsrelevanten Spitzentöne abrufen. Kein Wunder, dass sie erneut im Mittelpunkt der finalen Ovationen stand und ihr einige persönliche Blumensträuße auf die Bühne gereicht wurden. Fast hätte ihr Nicola Alaimo in der Rolle ihres Ehemannes Lusignano die Show gestohlen. Denn dieser junge italienische Bariton bot nicht nur stimmlich eine glänzende Leistung, sondern gab auch jederzeit zu erkennen, dass er in dieser Rolle lebte und sie mit Intensität gestalten wollte. Genau diese Fähigkeit ließ der argentinische Tenor Dario Schmunck, der den ursprünglich vorgesehenen John Osborn ersetzte, ein wenig vermissen. Er verließ sich auf sein zweifellos schönes Timbre, strahlte aber kaum jemals die Verve aus, mit der beispielsweise José Carreras im Live-Mitschnitt aus London (1972 mit Montserrat Caballé) die Rolle des französischen Geliebten Gerardo ausfüllte – von dessen fulminanten acuti ganz zu schweigen. Als venezianischer Gesandter Mocenigo überzeugte vollauf wieder einmal Mirco Palazzi, und auch die 3 Nebenrollen waren adäquat besetzt, wobei die Mezzosopranistin Serena Malfi in ihren kurzen Einwürfen als Caterinas Vertraute Matilde neugierig machte auf ihr Rollendebüt als Angelina in Rossinis La Cenerentola im Sommer in Bad Wildbad.

Immer wieder ein Erlebnis ist der “Groot Omroepkoor“, dessen Präzision, Homogenität und Stimmgewalt (74 Sänger/innen) Chorszenen plastischer und nachdrücklicher erscheinen lassen als dies kleinere Ensembles unter den Bedingungen einer Bühnenregie vermögen. Auch der erstmals im Concertgebouw zu erlebende englische Dirigent David Parry – allen Belcanto-Liebhabern bestens von vielen Einspielungen bei Opera Rara bekannt – bot mit der “Radio Kamer Filharmonie“ eine klangvolle Leistung, lebendiger und schwungvoller als manche seiner Dirigate auf den Silberscheiben.

Dieser faszinierende und packende Belcanto - Opernnachmittag ließ insofern etwas Wehmut aufkommen, als in der kommenden Jubiläumsspielzeit der “ZaterdagMatinee“ (50–jähriges Bestehen) zwar wieder 6 Opern auf dem Spielplan stehen, doch leider keine aus dem Belcanto – Bereich.

Donizetti war übrigens nach eigenem Bekunden von dieser seiner “tragedia lirica“, die erst 1 Jahr nach der Uraufführung 1845 in Parma zum Erfolg wurde, recht angetan, wenn er auch selbst in bemerkenswerter Selbsteinschätzung meinte, dass sie vielleicht nicht unbedingt ein Meisterwerk sei. Für den, der dies überprüfen möchte, bietet sich noch in diesem Jahr eine fantastische Möglichkeit: Anlässlich des 500. Todestages von Caterina Cornaro wird  diese “ihre“ Oper am 30. Juli an einem authentischen Ort aufgeführt, nämlich in der Burganlage von Asolo, auf der Caterina bis kurz vor ihrem Tod 1510 lebte.
Besuchte Vorstellung am 20.03.10

Walter Wiertz

21. März 2010

"La Favorita" in Gießen




73 Opern hat Gaetano Donizetti in seinen gut 50 Lebensjahren komponiert. Knapp 10 davon  kann man auf den Opernbühnen dieser Welt  hören und sehen. Nun hat der Maestro aus Bergamo zweifellos nicht nur Meisterwerke geschrieben, aber warum seine 1840 für Paris geschriebene La Favorite ein solches Schattendasein führt, bleibt rätselhaft. Wieder einmal hat nun das Stadttheater Gießen eine Lanze für die vielerorts gemiedene, weil unterschätzte und (zu ?) schwer zu inszenierende Belcanto-Oper gebrochen. Mit der italienischen Version La Favorita, die 1842 zum ersten Mal in Padua auf die Bühne kam, setzte dieses relativ kleine Haus seine vor Jahren begonnene verdienstvolle  Pflege des Belcanto-Repertoires fort: mit Lucrezia Borgia, Maria Stuarda, La Cenerentola, Norma u.a. einerseits, aber auch mit solchen Raritäten wie Herolds Zampa oder die Marmorbraut oder Mercadantes Il Giuramento setzte Intendantin Cathérine Miville deutliche Akzente, die auch überregional starke Beachtung fanden. Mit Regisseur Helmut Polixa, den Dirigenten Gabriele Bellini und Eraldo Salmieri  und der (Mezzo-) Sopranistin Giuseppina Piunti in den entsprechenden Hauptpartien stand bei allen Produktionen ein fester Kern an Protagonisten zur Verfügung – so auch bei dieser Favorita.

Das Bühnenbild, das je nach Schauplatz von einer großen Taube mit Heiligenschein im Hintergrund oder einer riesigen Königskrone, in der König Alfonso sich anfangs lustvoll rekelte, beherrscht wurde, symbolisierte mit sparsam aber passend eingesetzten Lichteffekten die beiden Pole, zwischen denen Fernando hin- und hergerissen wurde. Nach der Pause wurde die Drehbühne in den Handlungsverlauf aktiv einbezogen und sorgte so für eine visuelle Unterstützung der Handlungsdynamik.


Problematisch wie immer bei der Aufführung einer Grand Opera ist die Ballettmusik, wenn man – wie meist üblich – auf das Ballett verzichten muss. In Gießen wurden kurze Ausschnitte in den Umbaupausen zwischen den Akten bei geschlossenem Vorhang präsentiert, vor dem Leonora bzw. Fernando ihren jeweiligen Seelenzustand pantomimisch sichtbar machten – sicherlich keine wirklich befriedigende Lösung.

Ausgezeichnete, zu den dargestellten Figuren auch in ihrer “physique du role“ passende Sänger in stimmigen Kostümen prägten nachhaltig den Eindruck, den diese Aufführung hinterließ. In glänzender Verfassung zeigte sich der junge Spanier Xavier Moreno als Fernando, der schauspielerisch überaus intensiv mit leuchtender Tenorstimme und sicheren Höhen den Abend beherrschte. Aber auch die beiden tieferen Männerstimmen des Baritons Victor Benedetti als König Alfonso und des brasilianischen Basses José Gallisa als Prior Baldassare überzeugten vollauf. Die in Gießen verständlicherweise geliebte Giuseppina Piunti bot – erneut in der Rolle einer leidenschaftlichen und starken Frau - nicht nur figürlich, sondern auch stimmlich eine faszinierende Leistung, gerade auch weil nicht alle Töne mühelos erreicht wurden. Selbst in den beiden “Nebenrollen“ hörten und sahen wir mehr als rollendeckende Porträts: die junge belgische Sopranistin Odilia Vandercruysse, die bezaubernd-locker Ines verkörperte, sowie den Tenor Alexander Herzog als schleimigen Strippenzieher Don Gasparo. Eraldo Salmieri am Pult des Philharmonischen Orchesters Gießen neigte zwar in den langsamen Passagen gelegentlich zu sehr gedehnten Tempi, sorgte aber – auch im Zusammenklang mit dem verstärkten Chor - durchgehend für das nötige Feuer und belcantesken Wohlklang, der das Publikum im bis auf einzelne Randplätze ausverkauften Stadttheater Gießen begeistert zurückließ.

Wieder einmal – wie eigentlich immer bei unseren Belcanto-Reisen nach Gießen – war diese Aufführung die längere Anreise wert. Wer es ähnlich sieht, möge sich die Termine der zwei letzten Aufführungen vormerken: 1. und 11. April.

Besuchte Aufführung am 6. März 2010

Walter Wiertz

18. März 2010

"Salvator Rosa" Deutsche Erstaufführung in Braunschweig


Bildschirmfoto und Video: www.theater-tv.com 

Salvator Rosa  - eine nahezu unbekannte Oper von Antônio Carlos Gomes
Mit Antônio Carlos Gomes (1836 - 1896) setzte sich zur Zeit Verdis ein brasilianischer Opernkomponist auch international durch. "Salvator Rosa" war neben "Il Guarany", uraufgeführt an der Mailänder Scala, als einzige seiner Opern erfolgreich. 1874 erlebte diese "Revolutionsoper" ihre Uraufführung am Genueser Teatro Carlo Felice. Erst spät wurde diese Oper auch in Deutschland entdeckt, und sie feierte eine viel beachtete und auch im Rundfunk übertragene Erstaufführung am Staatstheater Braunschweig (Premiere am 20. Januar 2010).
Inhaltlich geht es in der Oper einmal um den Aufstand der neapolitanischen Fischer unter der Leitung ihres Anführers Masaniello im Jahre 1647. Dieser war Rädelsführer einer Revolte gegen die spanische Herrschaft Neapels. An die Macht gekommen wurde Masaniello wahnsinnig. Er übte eine Schreckensherrschaft aus und fiel schließlich einem Mordkomplott zum Opfer. In der Oper ist er mit dem Maler Salvator Rosa (1615-1673) befreundet. Rosa pendelt zwischen den Revolutionären und dem spanischen Machthaber, dem Duca d`Arcos, hin und her, da er die Tochter des Duca, Isabella liebt. Isabella opfert sich später und erdolcht sich, um den Geliebten vor der Verurteilung zum Tode zu retten. In der Oper werden somit beider Schicksale, die des Malers und die des Aufständischen aus dem Volke, verknüpft, ohne dass dies historisch belegt wäre. 


Das Orchester spielte unter der Leitung Georg Menskes schwungvoll und konzentriert. Der Musik wohnt eine gewisse Herbheit inne, es gibt einen "veristischen Zug" (Menskes im Programmheft), und "Lokalkolorit" durch Tarantella, Kanonenschüsse und den stilgerechten  Einsatz einer Orgel in der Klosterszene. Man könnte die Musik als "typischen Verdi", als "echte italienische Musik des 19. Jahrhunderts" beschreiben (Menskes). Besonders im zweiten Akt gewinnt die Oper deutlich an Fahrt, es wird immer mitreißender und dramatischer. Gomes setzt gekonnt Effekte ein zum Beispiel durch ein herrliches Duett zwischen dem Bariton Malte Roesner als Masaniello und dem Tenor Ray M. Wade Jr. als Salvator Rosa. Auch der Chor, der mal die Hofgesellschaft des Herzogs, mal das aufrührerische Volk von Neapel darstellt, trumpft machtvoll auf. 
Roesner, 1979 in New York geboren und seit 2006 in Braunschweig Ensemblemitglied, lieferte ein glänzendes Rollenportrait als Masaniello und gefiel mir wiederum mit seiner schönen beweglichen Stimme, die auch fahle raue Töne der Zerrissenheit und Verzweiflung zu produzieren weiß. Die Stimme als "kernig" zu bezeichnen und ihn zu behaupten, Roesner "sei dramatisch doch noch über seine Grenzen gegangen" (Andreas Berger am 22.1.2010 in der Braunschweiger Zeitung) empfinde ich als überzogen. 
Wades samtiger makelloser Tenor als Rosa ist berückend, nicht oft ist ein so großartiger und beseelt singender lyrischer Tenor zu hören. Die Rolle der Isabella wurde von der jungen slowakischen Sopranistin Maria Porubcinova ebenfalls glänzend verkörpert. Hier stimmte einfach alles: Die herrliche kraftvolle Stimme, der dramatische Ausdruck, aber auch Zartheit und Trauer in Passagen der Liebessehnsucht oder Entsagung. Auch bei der zweiten von mir am 28.2.2010 besuchten Aufführung konnte ich mich von der Ausstrahlung und eindrucksvollen Gestaltungssicherheit der Sängerin überzeugen. 


Der 1975 in Korea geborene Dae Bum Lee verlieh dem hinterhältigen tyrannischen Herzog mit strahlendem Bass die Macht, diejenigen zu töten oder zu entmachten, die ihm im Wege standen oder ihn stürzen wollten. Außerdem ist die 1981 geborene Simone Lichtenstein als "neapolitanischer Junge" und Gehilfe des Malers Gennariello zu erwähnen. Gennariello versucht alles, um seinen Meister aus Todesgefahr zu erretten. Die Sängerin ist in Braunschweig neben Malte Roesner und Dae-Bum Lee Ensemblemitglied und trotz ihrer Jugend eine technisch versierte Koloratursopranistin. Auch darstellerisch wusste sie in dieser anspruchsvollen Rolle zu überzeugen. Auch die weiteren Rollen sind mit Ensemblemitgliedern vorzüglich besetzt: Tobias Haaks als Fernandez, Kenneth Bannon als Il Conte di Badajoz.
Das Geschehen spielte sich auf einer sperrig und sparsam mit Malutensilien, Gerüsten und Leitern ausgestatteten Drehbühne ab, auf der sich die Haupt-Akteure und der Chor bewegten. Eine "Hauptrolle" spielten Abbildungen verschiedener Gemälde des 19. Jahrhunderts, welche revolutionäre Szenen darstellen wie "der Tod des Marat" von David oder "Die Freiheit führt das Volk" von Delacroix. Ein auf den Duca gemünztes Bild des spanischen Diktators Franko und die Rockerkluft des Masaniello führen dagegen ins 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Inszenierung Uwe Schwarz). 
Anzumerken ist, dass auch auswärtige Besucher von dieser besonderen Produktion des Staatstheaters Braunschweig sehr beeindruckt waren. Wer eine mitreißende und sehr gelungene Oper eines brasilianischen Komponisten im Stile Verdis erleben will, sollte Braunschweig einen Besuch abstatten.

Weitere Aufführungen am 4. April 18:00 Uhr und 9. April 19:30 Uhr

Astrid Fricke

15. März 2010

"Moïse et Pharaon" - Rossini in Nürnberg



Das Werk
Rossini überarbeitete 1827 seine 1818/1819 für Neapel geschriebene Oper  "Mosè in Egitto" (schon damals eine "Azione tragica-sacra") in der musikalischen Hauptstadt Paris für die Opéra, die große Bühne der Académie Royale de Musique. Er veränderte wesentlich den Stil und schuf ein "dramaturgisch, musikalisch und szenisch schlüssiges Musikdrama" (Johann Casimir Eule im Nürnberger Programmheft) mit der "französischen Kunst der Deklamation", "wunderbaren belcantistischen Soli" und "singenden" Rezitativen. "Nie zuvor bekam das Volk auf der Bühne solch eindrückliche Präsenz, spielte der Chor szenisch und musikalisch eine gewichtigere Rolle..." (Eule ebenda). Sogar der "Rossini-Verächter" Richard Wagner ließ sich herab, dieses Werk Rossinis mehrfach positiv zu erwähnen.

Die Inszenierung
Die Inszenierung wagt den Spagat zwischen biblischer Geschichte und Moderne. Biblische Geschichte wird zum Beispiel durch die stumme Rolle eines Moïse-Schauspielers und Pharao-Doppelgängers in einigen Szenen zum Leben erweckt, ein sehr theatralischer Ansatz, der allerdings bei einigen Zuschauern seine Wirkung verfehlte. Zwingender empfand ich die Darstellung der Plagen durch im Hintergrund laufende symbolträchtige Videos, welche Sonnenfinsternis und Heuschrecken (eher Spinnen!) darstellten. Gut choreographiert und durch Lichteffekte unterstützt zeichnete der Chor allein durch abgehackte Bewegungen die hereinbrechende Orientierungslosigkeit und Verzweiflung der Menschen nach, die sich zeitweise von Gott und der Welt verlassen fühlen mussten. Das Bühnenbild und die Ausstattung stellten mit ihrer "Koffersymbolik" ebenfalls Ausweglosigkeit dar: Bewegliche Koffer  in den Händen der Menschen, aber auch Koffer festgenagelt auf dem Boden, an den Wänden und sogar an der Decke. Einen Fluchtweg gibt es nicht in diesem Raum. Nur kurzfristig öffnet sich eine Tür im Hintergrund, dahinter ist es bedrohlich schwarz.

Viele Opernbesucher kennen die Koffer der Heimatlosen bereits von anderen Bühnen als Sinnbild von Flucht und Vertreibung. In dieser Inszenierung war es mehr: Die weißen, schnurgerade hintereinander aufgereihten Koffer gemahnten auch an das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, an das Stelenfeld. Und hier sind wir bei der "Moderne" angelangt, auf welche diese Inszenierung eines israelischen Regisseurs in der ehemaligen Hitler-Hochburg Nürnberg ebenfalls verweist. Moderne - das ist hier einmal die Zeit, in der Theodor Herzl (1860 - 1904) in seinen Schriften über das Judentum reflektierte: "Obwohl seinerzeit ohne greifbaren Erfolg, schuf Herzls Tätigkeit wesentliche Voraussetzungen für die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948." (Wikipedia). Herzls Foto ziert den transparenten Vorhang zu Beginn, seine Schriften werden eingeblendet, er ist hier ein moderner Moses.


Und dann ist "Moderne" in dieser Inszenierung auch die Zeit des untergegangenen "Stetl" mit seinen Progromen und schließlich das Dritte Reich mit seiner systematischen Judenverfolgung und - vernichtung. Indem der Regisseur David Mouchtar-Samorai insbesondere in der Schluss-Szene (Gang des Volkes durch das Rote Meer) andeutet, dass die "Rettung" des Volkes Israel nicht nur mit dem Untergang der ägyptischen Streitmacht einherging, sondern - natürlich in der Neuzeit - auf Seiten des jüdischen Volkes mit verheerenden Opfern verbunden war, wird auch der Holocaust erwähnt. Das Rote Meer wird nämlich zum Feuersturm hinter dem Vorhang, dem nur wenige entkommen können. 

Am Ende erheben alle ihre Stimmen, die Geretteten vor und die Opfer hinter dem Vorhang. Dies wirkte ergreifend und unterstrich mutig die musikalische und szenische Aussage.  Die Forderung, die Oper so zu inszenieren, wie es dem historischen Rossini und seinen Librettisten vorschwebte, würde die Erfahrungen der letzten hundert Jahre ignorieren.  Gerade durch das Aufgreifen und Sichtbarmachen historischer Ereignisse vermag es diese große Oper, auch heute noch zu erschüttern. Auch Rossini selbst wollte in seiner Grand Opéra nicht die Bibel illustrieren und vertonen, sondern durch die Schilderung privater Probleme und Verstrickungen übermenschliche Gestalten wie Moïse (Moses) lebendig machen und auch neue Figuren einfügen. Der Gang durch - hier genauer "über" - das rote Meer war übrigens durch eingeblendete Videos von aufgewühlten Meereswogen, die in der Mitte schließlich einen Gang freigeben, in dem sich die Fliehenden gleichsam auflösen, geschickt auf die Bühne gebracht.

Der Regisseur war sichtlich bemüht, der Oper, die am Hofe des Pharao spielt und zeitlose Probleme zwischen Liebenden, zwischen Vater und Sohn, aber auch Mutter und Sohn aufgreift, ein wenig das Pathos auszutreiben. Insbesondere Aménophis, Pharaos Sohn, wird als impulsiver Schwächling dargestellt, der sich auch mal auf den Boden wirft und mit den Fäusten darauf herumtrommelt. Mich hat diese psychologisch begründete Rollenauffassung, die natürlich nicht zu einem angehenden Herrscher passt, nicht gestört. Die Szenen, in denen die Beziehungen zwischen Liebenden thematisiert werden, hat der Regisseur packend auf die Bühne gebracht, ebenso den gesungenen Dialog zwischen Mutter und Sohn, in der Sinaïde mit eindringlichen und ergreifenden Tönen Aménophis anfleht, von seiner Liebe zu Anaï zu lassen. Sinaïde ist scheinbar kühl und siegessicher mit ihrer Toilette beschäftigt, kein Wunder, dass sie zunächst kein Gehör bei ihrem Sohn findet.


Der Chor
Wegen der überragenden Bedeutung des Chors, der gleichsam im kirchenmusikalischen Stil auftritt und Verdis Chöre (z.B. in Nabucco) vorwegnimmt, möchte ich als erstes hierauf eingehen, zumal mit Chorgesang die Oper in dieser Inszenierung beginnt und endet (Chor-Einstudierung Edgar Hykel). Der "große Chor" in dieser Oper tritt als Volk Israel auf, das sich in ägyptischer Gefangenschaft befindet. Das Volk singt mal gemeinsam, dann wieder gibt es den Frauen- und Männerchor im Dialog und gegeneinander singend. In dieser Weise ausgedrücktes Leid wird bei der vom Pharao in Aussicht gestellten Errettung durch Freudengesänge abgelöst. Und hier kommt es im Chor nicht zu "Gezappel", wie ein Kritiker schrieb, sondern zu dezent eingeblendeten Tanzszenen einiger Protagonisten, die vielleicht folkloristisch angehaucht sind, jedoch authentisch wirken und zur Musik passen. Die Kostüme erinnerten an zeitgenössische Fotos der im 19. und 20. Jahrhundert verfolgten Juden, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind und dadurch anrühren.

Orchester, Sängerinnen und Sänger
Die vorzüglichen Nürnberger Philharmoniker spielten unter der musikalischen Leitung von Christian Reuter schwungvoll und engagiert, die Sänger waren mit Können und Eifer bei der Sache: Nicolai Karnolski als Moïse, Melih Tepretmez als Pharaon, David Yim als Aménophis. Mich haben stimmlich besonders die Damen bezaubert, und anderen ging es wohl genauso, wenn man den Schlussbeifall berücksichtigt: Hrachuhí Bassénz in der großen Rolle der den Pharao-Sohn liebenden und schließlich diese Liebe opfernden Anaï und - ebenso großartig - Ezgi Kutlu als Sinaïde.
Ein Besuch dieser selten gespielten Oper ist allen Belcanto-Freunden dringend ans Herz zu legen!

Besuchte Aufführung: 21.2.2010
Weitere Aufführungen am 30.3./ 7.4./ 27.4. 2010
Informationen zur Oper mit Rezensionen, Bildergalerien und vier Hörproben: Staatstheater Nürnberg

Astrid Fricke

7. März 2010

Vivaldis "Orlando furioso" in Frankfurt





Vivaldis meisterhafte Bearbeitung eines bekannten Stoffes 
Der "Orlando Furioso" von Antonio Vivaldi ist ein hinreißendes Bühnenwerk eines Opernkomponisten, der nach eigenen Angaben 94 Opern geschrieben hat, von denen 50 belegt und noch erheblich weniger erhalten sind, darunter als Autograph des Komponisten auch der "Orlando Furioso". Vivaldis erste Oper zu dem bei Opernkomponisten beliebten Stoff des Ariost (1474 - 1533) mit dem bezeichnenden Titel "Rolands vorgetäuschter Wahnsinn - Orlando finto pazzo" war zuvor beim Publikum durchgefallen. In dieser neuen Oper nun lässt der Komponist dem Ritter Orlando, ursprünglich ein sagenhafter Gefolgsmann Karls des Großen, seine "Verrücktheit", die durch die Abweisung und den vermeintlichen Treuebruch der von dem Ritter geliebten Angelica ausgelöst wird. 
Als Marilyn Horne zu Beginn der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in einer ersten Wiederaufführung die Titelpartie des Orlando sang, hatte man praktisch die Hälfte der Arien gestrichen und eine Oper rund um Marilyn Horne arrangiert (Andrea Marcon im Programmheft). In Frankfurt kann man nun 6/7 (oder 5/6) der Originalfassung erleben, die für die Aufführung benötigten Sängerinnen und Sänger des Fachs stehen zur Verfügung.

Arien und Rezitative
Die Arien der Oper zeichnen sich durch rasante Koloraturen aus. "Orlandos Aufschrei aus den Abgründen der Seele (und Kehle) "Nel profondo cieco mondo" (In den Tiefen dieser Welt) ist ein machtvoller Einstieg, der die Aufmerksamkeit sofort fesselt." (Die OpernSammlung 34, S. 537). Sonia Prina ist den Anforderungen der Rolle stimmlich und darstellerisch gewachsen, nach Auffassung des Dirigenten und Vivaldi-Kenners Marcon ist sie derzeit die einzige italienische Altistin, welche diese Partie singen kann. Es gelingt dem Dirigenten, Sänger und Musiker zu Höchstleistungen "ohne Netz und doppelten Boden" anzuspornen. Wiederholungen werden niemals im gleichen Tempo gesungen, aus langsamer wird schneller (presto !) und umgekehrt. Die Variationen werden sorgsam durch die Regie betont, eine bewundernswerte Leistung. In Frankfurt stand dem Gast-Dirigenten Andrea Marcon neben den beiden männlichen Sängern und der Altistin der Titelrolle ein Sängerensemble von vier vorzüglichen koloratursicheren Mezzosopranistinnen zur Verfügung, ein Glücksfall, ein "Mezzo-Festival" (Marcon). Bemerkenswert sind die auskomponierten Rezitative, durch welche die Dramatik des Geschehens gesteigert und die Spannung gehalten wird. In einer Reihe von Arien werden Naturphänomene geschildert, wenn z.B. Orlando singt: "Sorge l`irato nembo" - Ein wütender Sturm zieht auf.

Mehrere Liebespaare in einer Oper - und eine noch im Wahnsinn triumphierende Sonia Prina als Orlando 
Die Besonderheit der Vivaldi-Bearbeitung des Orlando besteht darin, dass hier mehrere Liebespaare in einer Oper eingesetzt werden: Bradamante-Rugggiero, Angelica-Medoro, hinzu kommen Astolfo der Alcina ebenso unerwidert liebt wie diese den Ruggiero. Und schließlich Orlando, den seine Liebe zu Angelica nicht nur zeitweise um den Verstand bringt, sondern auch in Lebensgefahr. Da hat sich der Komponist mehr zugetraut und verwirklicht, als andere, die sich mit weniger Liebesreigen begnügten. Es ist ein Verdienst der modernen Frankfurter Inszenierung, die zahlreichen Facetten des um seine Liebe betrogenen wütenden Ritters Orlando auch szenisch ergreifend auszuloten. Im letzten Akt, noch vor seiner "Heilung" erscheint der nun völlig seines Verstands beraubte Orlando (Sonia Prina) im ausgeschnittenen roten Abendkleid, das um eine männliche Brustmaske mit Behaarung drapiert ist und zeigt schwungvoll mal die Vorder- mal die Hinterseite dieser Bühnenkleidung, ohne dass es jemals lächerlich wirkt. 

Die Sänger
Neben Sonia Prinas warmem Alt in dieser Hosenrolle gefielen auch Daniela Pini als Zauberin Alclna, der Vivaldi zahlreiche, nämlich sechs Arien unterschiedlichster Gefühle  auf den Weg gegeben hat. Die erste Sängerin der Alcina soll eine Gefährtin des "roten Priesters" Vivaldi gewesen sein, ein Grund, neben dem "Außenseiter" Orlando auch sie mit besonders ausdrucksvollen Solostücken auszustatten.  Wie Orlando ist auch die mächtige Alcina unglücklich verliebt. 

Angelica, die auch bei Vivaldi stolz die Männer aufzählen darf, die ihr verfallen sind, glänzt mit einem makellosen glatten und geläufigen Mezzo, den sie mit halsbrecherischem Tempo einsetzen darf. Hier bewährt sich die junge Amerikanerin Brenda Rea. Angelica wird als temperamentvolle jugendliche Liebhaberin des Medoro voller Unschuld und Kühnheit dargestellt. Das ist toll und überzeugend. Andererseits fand ich den Regieeinfall unglaubwürdig und einfältig, sie zu Beginn als gelehrige Schülerin der männerverschlingenden "Hexe" Alcina vorzuführen: Die wilde Angelica muss erst lernen, auf Stöckelschuhen zu gehen und Männer zu umgarnen? Da ist ihr klassisches Vorbild bei Ludovico Ariosto, die kühle und zunächst spröde chinesische Prinzessin und Abenteurerin, der erst Amors Pfeil weibliche Liebesgefühle einimpft, zu weit entfernt. Auch Paula Murrhy als Medoro singt halsbrecherisch, bleibt aber darstellerisch blass - vom "heidnischen" barbarischen Krieger ist in der Inszenierung nichts mehr zu spüren - hier ist ein junges verliebtes Paar, das gemeinsam Spaß hat, das war`s.

Bleibt noch das Duo Bradamante (Katharina Magiera) und Ruggiero (der wunderbare Countertenor William Towers): Hier gelingt die "Übersetzung" ins Heute sehr überzeugend: Bradamante ist zwar keine strahlende Ritterin und Ruggiero wirkt auch nicht heldenhaft, eher der ihn verfolgenden Geliebten gegenüber tumb und der Alcina gegenüber verführbar. Aber die Idee, Bradamante als grimmig entschlossene Hausfrau und sogar Mutter zu entwerfen, die sich furchtlos und zielstrebig in das Getümmel wirft, um den geliebten Ruggiero aus den Fängen der Zauberin zu befreien, ist witzig und wird durch Frisur und adrette Kleidung der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts noch unterstrichen. William Towers als Ruggiero glänzt insbesondere in der Arie "Sol da te mio dolce amore" (Nur du, meine süße Liebe) und wird hier meisterhaft von der Traversflöte begleitet. "Der Part in dieser idyllischen Arie ist eines der schwierigsten Stücke, die je für das Instrument geschrieben wurden" (Die OpernSammlung). Ariost verfolgte übrigens die Absicht, mit seinem Versepos von 40 Gesängen, das Casanova in seinen Memoiren zu den bedeutendsten Werken italienischer Dichtung zählt, seinem Brotherren, dem Kardinal Ippolito d`Este zu gefallen. Er wollte die Geschichte des Ferrareser Fürstengeschlechts verherrlichen, welches angeblich auf den Paladin Karls des Großen Ruggiero und seine Gattin Bradamante zurückgeht.

Astolfo (Florian Plock) war als Vetter Orlandos wie ein britischer Internatsschüler ausstaffiert. Stimmig - auch bei Ariost ist Astolfo ein etwas schrulliger Engländer. Plocks Bass-Koloraturen "saßen" genauso sicher wie die der übrigen Protagonisten. Darstellerisch musste er, unglücklich in Alcina verliebt, den Trottel abgeben.

David Böschs Inszenierung
Die Regie lehnt sich an die Rezeption  des klassischen Stoffes zu Vivaldis Zeiten an und betont die komischen Seiten, die schon früh vom Straßentheater und von der Commedia del`arte aufgegriffen wurden. Haydn machte es ebenso.  Ariosts Orlando war und ist jedoch nicht bloße Unterhaltungsliteratur, sondern gehört bis in die Gegenwart zum Kanon klassisch gebildeter Italiener. Schon zu Lebzeiten wurde der Dichter von Tizian gemalt. Auch in dieser poppig angehauchten modernen Inszenierung  einer Barockoper durch David Bösch gelangen magische Momente, die auch den grandiosen Lichteffekten (Olaf Winter) geschuldet waren. Da geht die Sonne über der Insel, über Alcinas Zauberreich, auf und unter, rosa Wölkchen erscheinen und verschwinden, und gelegentlich wird eine kalte Stimmung gezaubert, die schonungslos den Blick auf die kitschigen und hässlichen Seiten dieser Inselwelt freilegen, in der die Naturgesetze außer Kraft geraten sind. Der Blick fällt auf eine zerklüftete karge Gegend mit Höhle und Bar. In der Höhle das Liebeslager von Angelica und Medoro. Der Schirm einer aus Felsen aufragenden Stehlampe wirkt wie ein künstlicher Mond. Mich erinnerte die Zauberinsel der Alcina auf der Bühne an die Felsen der äolischen Insel Lisca Bianca in Michelangelo Antonionis berühmtem Film "L`Avventura" - "Die mit der Liebe spielen" mit Monica Vitti (1960). Lediglich Alcina prunkt in prächtigen langen Gewändern, die übrigen sind teils lächerlich, teils gewollt knallig kostümiert. Angelica erscheint zum Beispiel in ihrer Auftrittsszene in einem roten Blouson zum hellblauen Pettycoat. Sonia Prina gibt breitbeinig und derb mit nackten Armen, die aus einem schwarzen Anzug herausragen, den tölpelhaften Ritter. Im Verlaufe der Oper ändern sich jedoch Auftreten und Kostüme; rasche Wechsel unterstreichen das Wetterleuchten der Gefühle. Alcina ist mal schwankende Alkoholikerin, dann wieder jugendlich anziehende Verführerin und sogar hässliche hexenhafte Alte.

Hingebungsvolles Musizieren 
Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester spielte unter dem Dirigat Marcons auf historischen Instrumenten, darunter einer auffälligen 13-chörigen Theorbe (einer Laute ähnlich) und der bereits erwähnten seitlich geblasenen Traversflöte, einer Vorform der modernen Querflöte, die zur Entstehungszeit der Oper (1727) gerade in Mode kam und ab 1750 die Blockflöte ersetzte.

Einstimmung und Schlussakkord
In der Aufführung am 18.2.2010 konnte sich das Publikum vorab in einer gut besuchten Einführung in der Oper auf die Aufführung einstimmen. Als Abschluss gab es dann noch eine Podiumsdiskussion, kenntnisreich moderiert von Steffen Seibert (ZDF). Teilnehmer waren neben dem Dirigenten Andrea Marcon die Sängerinnen des Orlando Sonia Prina und der Angelica Brenda Rae, ein krönender Abschluss, den man bei einem Glas Wein genießen konnte. Und gleichzeitig lief in Frankfurt die Ausnahme-Ausstellung mit Werken des Renaissance-Malers Sandro Botticelli - Frankfurt war wirklich eine Winterreise wert.

Weitere Vorstellungen: 12./14./20. und 31. März 2010

Astrid Fricke

4. März 2010

Komödie in der Komödie

Il turco in Italia auf DVD


In Memoriam an den vor zwei Jahren verstorbenen Bühnenbildner Emanuele Luzzati brachte 2009 das Teatro Carlo Felice in Genua eine zauberhafte Aufführung von Il turco in Italia auf DVD heraus. Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist eine in jeder Hinsicht beglückende Aufnahme geworden, die das Herz nicht nur des Rossini Verehrers höher schlagen lässt. 

Rossini hatte sich mit der Komposition des dramma buffo viel Mühe gegeben, kaum Selbstanleihen gemacht und die Figuren sorgfaltig ausgearbeitet. Dazu lieferte der Librettist Felice Romani einen Text voll Witz und Charme, der sich aufs Schönste mit der sprühenden Musik verband. Heute unverständlich, dass 1814 diese klassische Commedia dell’arte -Buffa vom Mailänder Publikum abgelehnt wurde. Erst durch die aufsehenerregende Inszenierung von Luchino Visconti im Jahr 1950 mit Callas und Bruscantini in den Hauptrollen wurde Il turco in Italia wieder als Meisterwerk gewürdigt. 



Im Stil einer Komödie in der Komödie haben der Regisseur EGISTO MARCUCCI und der Bühnenbilder EMANUELE LUZZATI links und rechts der Szene Opernlogen mit gemalten Masken gebaut. In einer Ecke steht das Pult des die Handlung kommentierenden Dichters, und ein ganz in Weiß gekleideter Pulcinella agiert als stummer Mitspieler. Die stimmungsvollen Bühnenbilder, die Beleuchtung, alles atmet in jedem Moment die Leichtigkeit und Anmut der italienischen Stegreifkomödie. SANTUZZA CALI schuf bildschöne, kostbare Kostüme. Dazu begeistert ein Ensemble von ausgezeichneten Sängern, die auch ihre Rollen überzeugend spielen und deren Mienenspiel in Nahaufnahmen eindrucksvoll gezeigt wird. 



Den reichen Türken Selim, der fremde Sitten – und Frauen – in Italien kennenlernen möchte, singt SIMONE ALAIMO mit machtvollem schwarzen Bass, mal verliebt werbend, mal aufbrausend zornig. Ein imposantes Mannsbild in das sich die kokette Donna Fiorilla sofort verliebt. MYRTO PAPATANASIU prunkt mit ihrem wandlungsfähigen klaren Sopran als dieses flatterhafte Weibchen und begeistert mit geschmeidigen Fiorituren. Glaubhaft klingt ihre Verzweiflung über die angekündigte Scheidung: „Si, mi è forza partir“. Don Geronio, Fiorillas ältlicher geplagter Ehemann, wird von BRUNO DE SIMONE in bester Bass-Buffo Manier gesungen. Im „Frauenkauf-Duett“ mit Selim kann er seiner Wut über den türkischen Verführer eindrucksvoll Luft machen. Mit schmelzendem Tenor und in bester Belcanto-Technik erfreut ANTONINO SIRAGUSA als Don Narciso, Fiorillas cavaliere servente, in der Arie „Se il mio rival deludo“. ANTONELLA NAPPA als verschmähte Zaida besticht mit klangvoll dramatischem Mezzo. Sanft tröstet sie FEDERICO LEPRE als Zigeuner Albazar. VINCENZO TAORMINA in der Partie des Dichters Prosdocimo begleitet mit seinem gut geführten Bariton die quirlige Komödie. Tonschön singt der Chor (Ciro Visco), akrobatisch begabt sind die Tänzer (Giovanni Di Cicco). JONATHAN WEBB am Pult des Orchestra del Teatro Carlo Felice entfacht ein rossinianisches Feuerwerk bereits in der Ouvertüre, besonders schön die Bläser. In den Arien und Ensembleszenen bringt er echte Italianità zu Gehör. 


Eine rundum gelungene Aufnahme.

ARTHAUS Musik DVD 101391. Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch. Laufzeit:162 Min. 



Julia Poser

1. März 2010

"Otello" in Lausanne

Rossinis Otello in der Inszenierung von Giancarlo del Monaco kam 2007 beim Rossini Opera Festival in Pesaro heraus und war eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin und der Opéra de Lausanne. Während die Deutschen bisher keine Anstalten machten, das Werk auf ihren Spielplan zu setzen, haben die Schweizer nun ihre Pflicht erfüllt, wodurch man hierzulande Rossinis Meisterwerk nur eine Saison nach Biel/Solothurn erneut erleben durfte. Reduzierte die Bieler Produktion Rossinis Behandlung des Stoffes auf eine ironisierende metatheatralische Inszenierung, nahm Del Monaco die Handlung ernst (wenn auch mehr aus Shakespeares denn aus Rossinis Sicht) und verlieh ihr mit der metaphysischen Vermehrfachung des unheimlichen Jagos das Pathos einer Gruselnovelle[1].

René Magritte: La victoire Quelle

Die unendliche Weite des surrealen Meeres Magrittescher Inspiration, konzipiert für die breite Bühne der Pesareser Adriatic Arena, wirkte etwas eingezwängt auf der Szene der Salle Métropole, die nunmehr schon seit drei Spielzeiten als Ersatz für die in Renovation befindliche Opéra dient. Der Saal bietet simple Holzstühle mit dünnen Sitzkissen, dafür eine großzügige Reihenanordnung mit viel Beinfreiheit, und ist auch sonst ganz angenehm (von den surrende Scheinwerferkühlungen abgesehen) und beim Publikum beliebt, so dass auch diese letzte von vier Aufführungen vom 28. Februar 2010 vor vollen Rängen stattfinden konnte.



Foto Opéra de Lausanne / Marc Vanappelghem

Bot die Inszenierung keine Überraschung mehr, so durfte der Besetzung umso größeres Interesse entgegengebracht werden. Das gilt auch für die Primadonnenrolle der Desdemona, die als einzige aus der Pesareser Erstaufführung übrig geblieben ist. War es der etwas kleinere Saal, der ihr mehr Rückhalt bot, oder ist die Stimme und die Persönlichkeit von Olga Peretyatko seither gereift? Auf jeden Fall schienen die dramatischen Attacken im Terzett und in der Arie im zweiten Akt weniger fragil als noch vor zwei Jahren. Und die größere dramatische Wucht ging keineswegs auf Kosten ihrer lyrischen Innigkeit, die sie an den anderen Stellen der Rolle verlieh. Mit einem Wort: die junge Russin näherte sich dem Ideal einer Colbran-Rolle, und ich könnte sie mir jetzt gut als Elcìa oder als Elena vorstellen.

Gespannt war man auf John Osborn, der als große Rossini-Hoffnung gehandelt wird und übernächstes Jahr den Arnold in Pesaro singen soll (wie schon vor zwei Jahren konzertant in Rom). Obwohl kein eigentlicher Baritenor, eignet sich sein Timbre gut für die Nozzari-Rolle des Otello, vor allem dann, wenn sich dieses so gut von einer hellen und leichten Stimme wie derjenigen von Mironov abgrenzt. Auffallend war aber, wie vorsichtig und bedacht der Amerikaner die Rolle anging, so dass er beinahe träge wirkte, einschließlich der Koloraturen, die nicht mit natürlicher Leichtigkeit aus seiner Kehle kamen. Osborn war ein zuverlässiger und sicherer, aber kein leidenschaftlicher Otello, und sein Monolog im dritten Akt weckte keine großen Emotionen – kein Vergleich zu der charismatischen Rollengestaltung eines alten Kämpen wie Gregory Kunde. Auf einem ähnlichen Niveau bewegte sich der andere tenorale Hoffnungsträger, Maxim Mironov, der mit schöner und gut geführter (manchmal an Matteuzzi gemahnenden) Stimme einen etwas kühlen Rodrigo abgab – es fehlt der Stimme an einem berührenden Schmelz und seiner Gestaltung an jener Dreistigkeit, die die Rolle erst über ihre relative Belanglosigkeit hinaustragen kann. Erstaunlich war hingegen das Auftreten von Shi Yijie, den ich im letzten Sommer in Pesaro für die anspruchsvolle Hauptrolle des Comte Ory völlig unausgereift fand, und der aber in der bedeutend weniger fordernden Charakterrolle des Jago zeigte, dass er zu berechtigten Hoffnungen Anlass gibt, sofern ihm eine vernünftige Entwicklung gegönnt wird. Total überzeugend war auch Giovanni Furlanetto, der dem Elmiro nicht nur die nötige Basstiefe verlieh, sondern auch die Gestaltung eines Vaters, der neben seinem von Eigennutz und Stolz geprägten Machtgebaren auch Gewissensbisse erkennen lässt. Die Emilia der Isabelle Henriquez überzeugte mich dagegen nicht, dafür hätte ich mir eine lyrischere und wärmere Stimme gewünscht. Mit Sébastien Eysette aus dem Chor der Oper Lausanne war die Nebennebenrolle des Lucio angenehm besetzt, und ebenso hätte man sich den Dogen an Stelle des ausgesungenen Rémy Corazzo gewünscht. Der Gondoliere wurde von Yijie gesungen, und auch von einem der Jago-Komparsen gemimt, was diesem die „moralische Atmosphäre“ bildenden Geniestreichs Rossinis jenes Imaginär-Surreale verlieh, das Jagos Präsenz in dieser Inszenierung in Desdemonas Wahrnehmung auch sonst prägt.

Das Dirigat unter Corrado Rovaris war weniger transparent in der orchestralen Raffinesse als bei Palumbo in Pesaro, dafür aber auch bedeutend schwungvoller in den Rezitativen. Chor und Orchester leisteten saubere Arbeit. Die ganze ungekürzte Aufführung dauerte 3¼ Stunden (mit Pause) und mithin länger als der zusammengestrichene Nürnberger Moïse – offenbar haben die Romands trotz harter Stühle das bessere Sitzfleisch als die Franken.

Ausgezeichnet war übrigens die französische Übertitelung, nicht nur wegen der gelungenen (leider anonymen) Übersetzung, sondern auch wegen der mit der Musik und dem Bühnengeschehen klug abgestimmten Textdarstellung.

Reto Müller (Besuchte Aufführung 28. Februar 2010)
(Vorabdruck aus «Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft Nr. 50, April 2010)


[1] Aus meiner Besprechung von 2007 («Mitteilungsblatt» der Deutschen Rossini Gesellschaft Nr. 42, September 2007): Ein raffiniertes Spiel mit neun beweglichen Türrahmen schuf immer neue Situationen und Räume innerhalb der schicksalhaften Weite eines blau in blau mit dem Himmel verschmelzenden Ozeans, dessen in sich ruhende konstante Wellenbewegung ganz der ondulierenden Musik Desdemonas entsprach (freilich schien Del Monaco in dieser ganzen Konzeption den Chor vergessen zu haben: so ließ er ihn dann von Fall zu Fall, ganz in rot eingekleidet, auf einem versenkbaren Balkon auftreten). Evozierte dieses Bild keinen direkten Bezug zu Venedig, so taten es die Kostüme, welche gut die Patrizierzeit der Adriarepublik darstellten: Das Bühnenbild und die Kostüme verschmolzen zu einem Ganzen, das der Musik und dem Libretto entsprach. Neun Jago-Mimen fungierten als unheimliche Kulissenschieber und die Szene im letzten Akt, wo zwei Jago-Typen einen Türrahmen zum Sarg Desdemonas umfunktionierten, schien einer Schauergeschichte aus Les milles et un fantômes von Alexandre Dumas entnommen zu sein. Die Personenführung war akkurat, manchmal etwas manieriert und nicht immer ganz stimmig mit den Charakteren: der schicksalhaften Todesahnung, die Desdemona von Anfang an lähmt, schien mir Del Monaco mit der mädchenhaften Verspieltheit der Rollenzeichnung nicht gerecht zu werden; durch die unbedarfte Hochstilisierung Jagos als Verrätertyp und seines Briefes als Mittel zum Zweck beschränkte sich Del Monaco auf den Stoff von Shakespeare und Verdi, statt sich mit der eigentlich „Desdemona“ zu nennenden Oper von Rossini wirklich tiefgründig auseinanderzusetzen. Insgesamt aber eine in sich stimmige, gut gemeinte Inszenierung, die auf Provokationen verzichtete.