Sucht man dann nach akustischen “Hilfsmitteln“ - sprich CD/DVD-Aufnahmen dieser tragedie-lyrique in 3 Akten -, gibt es die erste Überraschung: Legal ist eine einzige Gesamtaufnahme auf dem Markt, die 1992 als Mitschnitt von zwei Aufführungen in Genua von Nuova Era publiziert wurde (unter Paolo Olmi sangen u.a. Luciana Serra und Dano Raffanti). Bei YouTube kann man außerdem ausführliche Szenenausschnitte der Inszenierung anschauen, die die Opéra Lyon 2001 auf die Bühne brachte (u.a. mit Darina Takova, Marc Lahó und Michele Pertusi). Von der Produktion des ROF 2000 in Pesaro, die offiziell auf keinen Tonträgern vorliegt, habe ich nur gelesen, dass sie musikalisch durchaus gelungen, szenisch aber ein Fiasko gewesen sein soll. Der Vollständigkeit halber - und um die Sache noch komplizierter zu machen - muss natürlich erwähnt werden, dass es Live-Mitschnitte von L’Assedio di Corinto aus der Scala di Milano von 1969 (unter Thomas Schippers sangen u.a. B. Sills, M. Horne und F. Bonisolli) und aus der New Yorker Met von 1976 (wieder mit B. Sills und diesmal Sh. Verrett) gibt.
Doch - und dies ist die zweite Überraschung - ist diese Oper nicht einfach eine Art Rückübersetzung der französischen Originalversion ins Italienische, sondern eine Kompilation aller Fassungen. Die eklatanteste Abweichung dürfte sicherlich sein, dass in der Siège der Néocles eine Tenorpartie ist, während in dem fast schon pasticcio-artigen L’Assedio diese Rolle von einem Mezzosopran gesungen wird. Welche anderen gravierenden Änderungen es in dieser musikalisch durchaus fesselnden Schippers-Aufnahme gab, kann man sehr detailliert in Ph. Gossetts faszinierendem Buch „Divas and Scholars“ nachlesen (vgl. Ch. Jernigans Rezension dieses Buches in “La Gazzetta“ 2007, pp. 64 ff.).
Eine zuverlässige Edition oder gar edizione critica dieser Oper, die man in ihrer Mischung aus italienischen Wurzeln und französischem “Ambiente“ (Sprache, Ballett etc.) als Vorläufer der grand opéra bezeichnen könnte, existiert bis heute noch nicht. So kam das Werk in einer Neuausgabe des Wildbader Festivals als “Revision nach der Originalausgabe und nach den Aufführungsquellen von Jean-Luc Tingaud“ zur Aufführung, in der der junge französische Dirigent auch die musikalische Einstudierung und Leitung innehatte. Er entfachte in dieser konzertanten Aufführung vor allem bei den martialischen Szenen das nötige orchestrale Feuer, das allerdings gelegentlich in (zu) großer Lautstärke loderte. (Der Fairness halber muss ich einräumen, dass dieser Eindruck durch unsere Plätze in der 1. Reihe bedingt entstanden sein kann.)
Die in den 2. Akt passend zu den begonnenen Hochzeitsfeierlichkeiten eingefügte Ballettmusik - den Regeln der Pariser Oper entsprechend - gelang hingegen den Virtuosi Brunensis, dem Stammorchester des Festivals, in bezaubernder Weise. Der erstmals in Bad Wildbad eingesetzte Chor Camerata Bach aus Posen überzeugte mit Wohlklang und Fülle, ließ aber einen engagierteren Bezug zur Opernhandlung vermissen. Dieses Eingehen auf das dramatische Geschehen zwischen und in den Charakteren ist auch und gerade bei konzertanten Aufführungen notwendig, damit diese nicht zu einem oratorienhaften Stehkonzert “verkommen“ (wer einmal Edita Gruberova als konzertante Norma erlebt hat, weiß, was da möglich ist, wenn man seine Rolle beherrscht!).
Der englische Tenor Justin Lavender hat dessen große Arie aus dem 3. Akt “Grand Dieu faut-il qu’un peuple qui t’adore“ in seinem hörenswerten Recital “Rossini und Donizetti- Arias“ (1995 bei Carlton Classics erschienen) ähnlich glanzvoll gesungen. Wir freuen uns schon auf ein Wiederhören mit M. Spyres als Tamino in der ORW in Liège im Oktober dieses Jahres und auf seinen Alamiro in Donizettis Belisario im Februar 2011 in London. Alle anderen, darunter zwei weitere Tenöre (vorrangig Marc Sala als Cléomène aber auch Gustavo Quaresma Ramos als dessen Vertrauter Adraste) sowie Silvia Beltrami als Ismène und die beiden tiefen Männerstimmen (der französische Bass Matthieu Lécroart als der Grabwächter Hiéros und der italienische Bariton Marco Filippo Romano als Mahomets Vertrauter Omar) rundeten das Bild einer Aufführung ab, die das Publikum in der ausverkauften Neuen Trinkhalle, deren Akustik und Fluidum trotz sicherlich großem Bemühen verbesserungswürdig sind, danach begeistert in das Wildbader Nachtleben eintauchen ließ.
Und ich bezweifle, dass ein Kritiker dieses letzten Wildbader Wochenendes Recht hat, wenn er über die Akzeptanz der vier Aufführungen beim Publikum abschließend meinte, der große Beifall und Jubel seien “typisch für ein unkritisches Festivalpublikum“. Stellvertretend für viele mag die Aussage eines in europäischen Opernhäusern wohl bewanderten Opernfreundes aus Belgien stehen, der mit einem kleinen Bus von 20 Opernbegeisterten aus Liège und Brüssel zum ersten Mal in Bad Wildbad war: Sie alle waren vom musikalischen Niveau weitgehend begeistert, von der Spielstätte des Hauptgeschehens aber weniger angetan.
Aber darüber sprachen wir ja schon …
Walter Wiertz (Besuchte Vorstellung: 23. Juli 2010)
Vielen Dank für diesen anschaulichen und detailreichen Bericht über eine wunderbare Oper, die wir in Bad Wildbad in einer ausgezeichneten Besetzung hören durften!
AntwortenLöschenDie im Beitrag angesprochene Inszenierung in Pesaro habe ich im Jahr 2000 erlebt, mit Michele Pertusi, Ruth Ann Swenson und einem hervorragenden Giuseppe Filianoti unter Maurizio Benini. Ich war damals zum ersten Mal in Pesaro, und die aufwändig möblierten Inszenierungen von „La Cenerentola“und „Le Siège de Corinthe“ waren Anlass für allerlei Spötteleien in unserer Reisegruppe über den in Pesaro scheinbar herrschenden Ausstattungsstil in dieser von uns so genannten Möbelsaison, schließlich war (und ist) der – auf allen Plakaten und Programmheften genannte - Hauptsponsor des ROF der Möbelfabrikant Scavolini. Bei „La Cenerentola“ eine mit Möbeln in mehreren Schichten vollgestopfte Bühne (eben diese Inszenierung wird übrigens dieses Jahr wieder gespielt) und am nächsten Abend bei „Le Siège de Corinthe“...schon wieder Möbel, diesmal mehrere überdimensionale rote Sofas auf grünem Kunststoffrasen! Fotos hiervon kann man im Internet auf der Seite www.rossinioperafestival.it sehen, dort sind unter „Galleria Immagini“ - „Spettacoli“ (bzw. „Photo Gallery“ - „Performances“) Fotos aller Inszenierungen seit 1980 archiviert, die Besetzungen seit 1980 stehen unter „Cronologia“ (bzw. „Chronology“). In besonderer Erinnerung geblieben ist mir das ausgiebige Ballett, das zwischen, auf und hinter diesen Sofa-Ungetümen getanzt wurde, - wirklich auch hinter den Sofas, dann sah man nur noch in der Luft strampelnde Beine, - es war urkomisch!
Noch eine kleine Ergänzung zur Diskographie: Es gibt noch einen Live-Mitschnitt von „L'assedio di Corinto“ aus dem Jahr 1951 aus dem Teatro di San Carlo Napoli unter Gabriele Santini mit Renata Tebaldi als Pamira, Miriam Pirazzini als Neocle, dem von mir sehr geschätzten Mirto Picchi als Cleomene und Mario Petri als Maometto (auf LP bei HRE erschienen, auf CD bei Hardy Classic).
Wer die anschlauliche Beschreibung der Pesareser "Sofa-Inszenierung" von esg in bewegten Bildern überprüfen möchte, schaue sich die von Walter Wiertz erwähnten Videos unter YouTube aus Lyon an: es handelte sich nämlich um eine Coproduktion zwischen ROF und Opéra de Lyon, d.h. um eine und dieselbe Inszenierung!
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