14. November 2010

'Guillaume Tell' als schweizerische Nabelschau

Am vergangenen 13. November (übrigens Rossinis Todestag) war ein virtueller eidgenössischer Nationalfeiertag. Am Vormittag referierte Dr. Rudolf Baumann am Sitz des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich vor einem (nicht zuletzt dank dem Interesse vieler Mitglieder der Deutschen Rossini Gesellschaft) zahlreichen Publikum über das Umfeld, den Inhalt und die Musik von Rossinis Guillaume Tell. Die Musikbeispiele, die er in seiner gut gemachten Powerpoint-Präsentation mit Text- und Notenbeispielen ergänzte, stammten aus der Aufnahme mit Gabriel Bacquier, Montserrat Caballé und Nicolai Gedda unter Lamberto Gardelli, die 37 Jahre nach ihrer Einspielung und 15 Jahre nach der Erstaufführung der vollständigen kritischen Edition in Pesaro immer noch die einzige französischsprachige Gesamtaufnahme dieser Oper ist. Bei dem Vortrag war u.a. auch schon mal zu erfahren, dass die Neuproduktion am Zürcher Opernhaus ohne Ballettmusiken daher kommen werde, was aber schon aufgrund der angegebenen Spieldauer (19-22.15 Uhr) ziemlich klar war: die genannte Einspielung dauert ziemlich exakt vier Stunden; es würde also gut eine Stunde Musik fehlen.
Eine Stunde vor der Premiere gab auch der Chefdramaturg der Oper, Dietbert Reich, eine seiner beliebten Einführungen, eine Dreiviertelstunde informative und launige Unterhaltung, die u.a. einige Anhaltspunkte zu der bevorstehenden Inszenierung vermittelte. Reich erinnerte sich auch an die letzte Zürcher Tell-Produktion von 1987, wie mir schien mit einer gewissen Nostalgie, die ich aber angesichts der ziemlich kitschigen Inszenierung von Daniel Schmid, der übrigens den Chor in dieser Choroper konsequent hinter die Bühne verbannte, nicht teilen kann. Widersprüchlich war seine Begründung über die Kürzung des Werks. Er sprach einerseits von den „Möglichkeiten dieses Hauses“, andererseits davon, dass der Regisseur eine Grand Opéra nicht mehr für zeitgemäss hält. Gerade ein Dreispartenhaus wie Zürich hat im Prinzip alle Möglichkeiten, ein solches Werk adäquat aufzuführen, aber wo kein (Regie)Wille ist, ist natürlich auch kein Weg. Abgesehen davon gibt es gerade beim Tell keine „authentische Werklänge“, da Rossini vor, während und nach der ersten Aufführungsserie Kürzungen und Veränderungen vornahm, über die man teilweise nicht einmal Gewissheit hat. Der Eliminierung sämtlicher Ballettszenen, Hochzeitschöre und Schützenfeste stand die Beibehaltung oft gekürzter Nummern wie der Mathilde-Arie im dritten oder dem Frauenterzett und dem Gebet im vierten Akt gegenüber. Ziemlich bizarr mutete der Binnenstrich in der Arnold-Arie an, wenn der Tenor den Ton auf „compagnons“ („Ce sont mes compagnons [, je les vois accourir]“) hochzieht und direkt zur Cabaletta übergeht.
         Christoph Marthaler, dieses Enfant terrible der (nicht nur schweizerischen) Theaterszene, darf nicht verwechselt werden mit seinem weit weniger exzentrischen Bruder Adrian Marthaler, der u.a. durch das Fernsehevent „La Traviata im Hauptbahnhof“ bekannt ist und dem dieser Tell anvertraut wurde. Was er inszenierte, war über weite Strecken reinstes „Cabaret“ (der Begriff stammt nicht von mir, sondern von Dietbert Reich), und zwar durchaus im Sinne von bestem politischem Kabarett, mit vielen subtilen, witzigen und liebenswürdigen Anspielungen auf aktuelle Swissness und Tell-Mythos. Als auch politisch kritisch denkender Zeit- und Eidgenosse fand ich das äusserst gelungen, auch wenn ich dieses Genre eher in einem Kellertheater als auf einer grossen Opernbühne erwarte. Da es die Inszenierung eines Schweizers für Schweizer war, sind einige Fussnotenerläuterungen für Nicht-Eidgenossen vonnöten.
Zur Ouvertüre zeigte das Bühnenbild einen Aussichtspunkt (vor einer steil abfallenden Felswand) mit Sitzbänkli, Mistkübeln, Wanderwegweisern, Postauto-Haltestellentafel. Während Liebespärchen, Familien und andere Singles pflichtbewusst die Berge betrachteten, kam von rechts langsamen Schrittes ein Mann herbei, der ein altes Miltärvelo[1] neben sich herschob und wie nach einem grossen Verlust verzagt und gebrochen wirkte: Es war der Moritz, und zwar der echte[2]! Nachdem auch er, den inneren Frieden in der Natur suchend, sich auf ein Bänkli gesetzt hatte (nicht ohne zunächst verzweifelt nach einem leeren Ausschau zu halten, um sich dann, um Erlaubnis fragend, neben eine fremde Person zu setzen), spazierten verschiedene Leute vorbei, darunter auch „Ausländer“ (Afrikaner, eine Burkaträgerin, ein Jude etc.), und schliesslich verschiedene lädierte Banker, die trotz ihrer bandagierten Arme und verbundenen, blutig geschlagenen Köpfe unbeeindruckt ihre Geschäfte tätigten, als wäre nichts gewesen, und bei dem aufkommenden Gewitter einfach die Schirme aufspannten, bis es vorüber war[3]. Trotz dieser Synoptik bei der Gewittermusik zeigte sich schon während dieses „Panoptikums“ (Reich), dass Marthaler die Musik nur als sonore Kulisse ohne wirklichen Bezug zu seinem Schweizbild brauchte; so verharrten die Leute auch während der berühmten, mitreissenden Galoppade in ihrer Gemächlichkeit.
          
 Schweizer Idyll während der Tell-Ouvertüre
(c) Suzanne Schwiertz / Opernhaus Zürich

Der erste Akt zeigte einen Dorfplatz, Leute sassen auf den Bänkli, während ein Strassenputzer (bei Rossini der Fischer Ruodi) die Mistkübel leerte. Sie betrachteten eine Ausstellung von schweizerischen „Intarsien“ (wie Herr Reich, unser Dramaturg aus dem „grossen Kanton“[4], das nannte) wie Kuhglocke, Jagdgewehr, Käseleib, Toblerone, Sackmesser. Man fragte sich, wer in dieser heutigen Zivilgesellschaft die Feinde sein sollten. Vielleicht die Touristen? Sie kamen dann als diskret Uniformierte (Grenzwächter?) mit blauen Tafeln, die bei einem prägnanten Orchesterakkord auf einen Schlag gedreht wurden und – das Europawappen zeigten! Rudolph der Harras war ein grau gekleideter Bürokrat, der mit einem Vertragswerk Gehorsamkeit von den Schweizern verlangte („Obéissez; il y va de vos jours!“- „Gehorcht! Es geht um euer Leben!“). Dem hielten die Schweizer wacker ihr Gebet aus dem roten Schweizerpass entgegen. Auch hier waren, wie man sieht, die kabarettistischen Gags gelungen und zeigten ihre satirische Qualität, weil sie ebenso von EU-Turbos, EU-Skeptikern und EU-Gegnern für sich beansprucht werden konnten. Die Plünderung des Dorfes bestand darin, dass die „Europäer“ sich der Toblerone bemächtigten. Das packende Erste Finale entfaltete seine Wirkung rein musikalisch, die emotionale Komponente dieser aufwühlenden Szene ging durch die grotesk-witzige Inszenierung völlig verloren.
         Im zweiten Akt sah man neben dem Schiller-Stein[5] ein paar mächtige Bäume, im Hintergrund wieder Wegweiser (auch hier ohne Aufschriften, laut Hr. Reich eine Anspielung auf die viel diskutierte heutige Orientierungslosigkeit der Schweiz) und ein Robidog-Kasten[6]. Hier sang Mathilde, auf einem Bänkli sitzend, ihre Romanze auf Arnold, hier setzten sich der Schweizer und die Deutsche nach dem Liebesbekenntnis auf ihre auf den Boden ausgelegten Mäntel, um in einem stimmungsvollen Mondschein-Stelldichein ihr Duett zu singen (Marthaler ist ein anständiger Regisseur, der daraus nicht gleich eine Kopulierungsszene machte). Auf einem anderen Bänkli sass ein Pärchen, das die Szene mitverfolgte, Zeichen, dass der Regisseur seine Inszenierung als Inszenierung der Tell-Geschichte angelegt hatte. Auf einem weiteren Bänkli schlief – unter einer Militärwolldecke – ein Clochard (ja gibt es die denn in der Schweiz?!). Das berühmte Terzett „Quand l’Hélvetie est un champ de supplice“ bot keine inszenatorischen Überraschungen, der Auftritt der drei Kantone schon eher: die Männergruppen kamen ganz entgegen der Musik im Eilschritt auf die Bühne, formierten sich zu einem Männergesangsverein und sangen ihre Strophen lauthals herunter, auch dort, wo Rossini angesichts der Verschwörungsszene auf dem Rütli explizit pianissimo verlangte. In dieser Szene liess sich Marthaler eine Anspielung auf einen weiteren Schweizer Topos, den sprichwörtlichen Kantönligeist, entgehen, der im Libretto doch so gut angelegt ist, wenn Walter Fürst aus dem kanton Schwyz Tells Lob des Unterwaldner Eifers mit einem wettbewerbsbetonten „On saura l’imiter“ – „Man wird es ihnen gleichtun“ kommentiert[7]. Beim Morgenerwachen, das die Eidgenossen mit ihrer Kampfbereitschaft begrüssten, gingen die ersten Berufstätigen geschäftig ihrer Arbeit entgegen, nur eine Künstlerin (mit Cellokasten, vielleicht war sie erst auf dem Heimweg, denn um diese Zeit steht kein Musiker freiwillig auf) und eine Afrikanerin blieben müssig stehen, um die Chorszene zu betrachten. Dergestalt inszeniert liess das Finale wiederum jeglichen emotionalen Bezug zum Tell-Drama vermissen.
         Im dritten Akt sah man einen grossen Sockel für ein Denkmal, das noch halbverpackt daneben stand und sich später – absehbar – als das berühmte Tell-Denkmal von Altdorf entpuppen sollte. Auf der Holzabdeckung prangten das Gütesiegel für „Swissmade“, eine Armbrust und der Schriftzug „Schweizer Produkt“ – heute ein richtiger Anachronismus, wurde dieses Markenzeichen doch in den 1970er-Jahren sukzessive ausgemustert und ist längst einem Schweizerkreuz-Logo gewichen. Der Hut, den die Bevölkerung grüssen sollte, kam nicht vor, er war ebenso überflüssig wie die Frage, wer denn heute dieser Gessler sein soll, da das Stück ja nur gespielt wurde. Man fragte sich aber langsam, wie eigentlich die Apfelschussszene ablaufen soll, denn Tell führte weder eine Armbrust noch sonst eine Waffe mit sich. Im entscheidenden Moment löste er die rote Armbrust von der Holzwand, womit sich die Waffe nun als wirkliche „Intarsie“ erwies und der Rückgriff auf das alte Markenzeichen nachvollziehbar wurde. Der Schuss wurde nur markiert, Jemmy holte sich den „getroffenen“ Apfel selber vom Kopf. Das Kind war übrigens, wie schon im 1. Akt, nicht Tells Sohn, sondern seine Tochter, was auch in den gesungenen Worten und den Übertiteln (Deutsch/Englisch) konsequent durch die Substituierung von fils durch fille umgesetzt wurde. Ob das ein Beitrag zur Genderdiskussion sein sollte oder eine Anspielung auf die letzten Trutzburgen gegen das Frauenstimmrecht[8], liess sich nicht ausmachen. Egal: Da Tell als Mythos keinen Stammhalter brauchte und Rossini die Kindsrolle ohnehin als Sopran angelegt hatte, störte das nicht und war dank der überzeugenden Darstellung sogar ganz herzig. Als Gesamtdarstellung (szenische und musikalische Übereinstimmung) machte dieses Mal das Finale, nach „Anathème à Gesler“, einen grossen Eindruck.
         Für den vierten Akt schienen Marthaler die Ideen zunächst ausgegangen zu sein. Alles spielte sich auf einem Schiffsteg ab. Das Bänkli mit zwei Zuschauern befand sich nun auf der in den See ragenden Tellsplatte. Der Chor war dem Regisseur hier genauso im Weg wie einst Daniel Schmid: er wurde, soweit nicht weggekürzt, in den Hintergrund verbannt. Am Schluss, nachdem der Gessler-Darsteller seine Getroffenheit vor Tell gemimt hatte, umarmte Arnold seine Mathilde, die inzwischen eine stilisierte Schweizer Tracht trug. Das war aber weniger eine Rehabilitierung der von Rossini offen gelassenen Auflösung der Liebesgeschichte, als vielmehr eine weitere Verdeutlichung der metatheatralischen Ebene, wurden doch die beiden Darsteller nach Vollendung ihre Aufgabe wieder zu Zuschauern. Es blieb die Schlussapotheose, für die sich der Regisseur etwas einfallen lassen musste. Der Vorhang senkte sich nach Gesslers Tod, eingeblendet wurden die schon zu Beginn der Oper noch als Fragestellung projizierten Worte dieses Schweizerischen Vaterunsers, das uns der deutsche Dichterfürst in seinem Wilhelm Tell (II/2) geschenkt hat: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern … und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen“, bis endlich der Vorhang nochmals aufging und den Blick freimachte auf eine riesige antarktische Fläche, in der als letzter intakter Eisklotz die Schweiz vor dem Hintergrund eines zerklüfteten Europas einsam dahin trieb. Die Solisten haben sich Off-Stage hinter die Mikrofone zurückgezogen, der Chor ist auf den Rängen aufmarschiert, so dass die Apotheose in einem wahrhaft kosmischen Klangerlebnis den gesamten Raum erfüllte und dieses Finale in einer wahrlich noch nie dagewesenen Grossartigkeit aufstieg.
         Immenser Applaus am Ende der Aufführung, die sogar eine Viertelstunde länger als angesagt gedauert hat.
         Und Rossini? Der hatte in jedem Akt seinen kleinen Auftritt[9], und alle Beteiligten verneigten sich jeweils vor ihm, dem Schöpfer, der unserem Wilhelm Tell eine Stimme gab.
         Zusammenfassend: Die Inszenierung hat Spass gemacht. Nämlich überall dort, wo sie mit liebenswürdiger Kabarettistik Schweizer Eigenarten ausmachte. In den „privaten“ Szenen, namentlich zwischen Arnold und Mathilde, verlor sie ihre Lesart, weil hier der Kontrast zwischen Chor- und Soloszenen bedeutungslos wurde. Es waren Inseln des Belcantos, die aber auf narrativer Ebene verloren gingen. Der schweizerische Tell-Mythos braucht keinen Liebeskonflikt, den benötigt nur die Oper, die nicht den Mythos als solchen sondern die Geschichte selbst erzählt. Ein Bezug zu Rossinis Musik bestand sehr oft nicht, weil die Dramatik des Textes und der Musik gar nicht nachvollzogen wurde. Manche Stellen haben mich beim Vortrag von Dr. Baumann mehr gepackt. Eigentlich finde ich es absolut begrüssenswert, wenn ein Regisseur auf Maschinenpistolen und Kampfanzüge verzichtet, aber wie können z.B. die Drohungen von Gessler und seinen Schergen wirken, wenn nur ein paar machtlose Wachen herumstehen? Das ganze war eine gigantische eidgenössische Nabelschau, die in typisch schweizerischer Art die eigene (echte oder heraufbeschworene) Identitätskrise zelebrierte und Rossini dazu als Vehikel nahm, dessen immense, universelle Dimension verkennend. Denn wir dürfen uns nicht einbilden, dass Rossini mit Guillaume Tell spezifisch schweizerische Probleme thematisieren wollte. Vielmehr wollte er exemplarisch, aber allgemeingültig den Freiheitskampf eines Volkes darstellen, verwoben mit der traditionellen Liebesgeschichte im Spannungsfeld von Neigung und Pflicht.
         In dem ganzen „Cabaret“ ging die Musik unter, obwohl sie brillant aufgeführt wurde. Jemmy als aufgeweckte Tells-Tocher habe ich schon erwähnt, Martina Janková verlieh der Rolle auch den nötigen stimmlichen Drive, den sie für die Dynamik der grossen Ensemblestellen benötigte. Eva Mei bot eine schöne, wenn auch nicht überwältigende Romanze, während sie in ihrer dramatischen Arie Durchschlagskraft und in ihrem Auftritt nach der Apfelschussszene Autorität vermissen liess. Antonino Siragusa ist der Tessitur dieser Rolle problemlos gewachsen, aber in den ersten drei Akten liess er nur seine bekannte Stentoren-Eindimensionalität hören; erst in dem berühmten „Asile héréditaire“ zeigte er, dass er auch schön phrasieren und piano singen kann, wenn er will, was ihm auch mit grossem Beifall gezollt wurde. Seine abgekürzte Cabaletta verpuffte dann allerdings wirkungslos, da er die Führung einer Truppe übernahm, die gar nicht da war. Leider hat der Mann ein ausgesprochen schlechtes Französisch. Dass es auch Italiener gibt, die diese Sprache gut prononcieren, bewies Michele Pertusi, der die Titelrolle auch sonst perfekt gestaltete, ohne freilich durch seine vokale Präsenz eine gewisse bürgerliche Banalisierung des Charakters durch die Inszenierung aufheben zu können. Alle übrigen Rollen waren ordentlich besetzt.
         Gianluigi Gelmetti bewies einmal mehr, dass er ein ausgezeichneter Rossini-Dirigent ist, und führte mit souveräner Routine durch diese gigantische Partitur. „Er weiss“ – um einmal einen Lieblingssatz von Bernd-Rüdiger Kern zu zitieren, „wie Rossini klingen muss“, allerdings zeigte er nicht, wie Rossini auch klingen könnte, und das wäre ihm vielleicht auch gar nicht gelungen, wenn er es gewollt hätte, da er erst ca. drei Wochen vor der Premiere mit dieser Aufgabe konfrontiert worden war. Am 26. Oktober informierte eine dürre Pressemitteilung des Opernhauses darüber, dass Gelmetti kurzfristig die Leitung übernommen habe: „Ein Missverständnis führte zu Thomas Hengelbrocks Absage der Produktion. Er dachte, er habe beim Orchester eine Werkbesetzung (immer dieselben Musiker), während die Produktion in dem für Ensemble- und Repertoiretheater üblichen Wechselsystem (sich abwechselnde Musiker) einstudiert wird.“ Entschuldigung, aber für mich ist diese Begründung ausgesprochen suspekt. Dass ein Stardirigent, der an vielen grossen Häusern dirigiert hat, „dachte“, er würde in Zürich ein persönlich zugeteiltes Hausorchester vorfinden, kann ich mir nicht vorstellen. Eher wage ich die Hypothese, dass ihm die Regie zu dominant war und er begriffen hat, dass der musikalische Aspekt zu kurz kommen würde. Denn es wäre anzunehmen, dass ein Dirigent, der sich in der historisch-informierten Aufführungspraxis heimisch fühlt, das Werk mit ganz anderen Ansätzen hätte erklingen lassen, und beispielsweise einzelne Instrumente oder Instrumentalgruppen plastischer gemacht, dynamische Akzente anders gesetzt oder bei Stellen, die ein pp verlangen, dieses auch wirklich eingefordert hätte. Mir wäre auf jeden Fall eine Produktion, die eine musikalische Auslotung ins Zentrum stellt, viel lieber gewesen als die x-te inszenatorische Nabelschau.

Reto Müller

Weitere Aufführungen: 16., 19., 21., 23., 26. November, 2. und 7. Dezember 2010


[1]  Das „Ordonnanzrad“, auch heute noch ein buchstäblich schwerwiegendes Symbol schweizerischer Wehrhaftigkeit.
[2]   Moritz Leuenberger, der feingeistige, oft selbstironische Politiker aus Zürich, der vor Kurzem nach der Rekordzeit von 15 Jahren als Bundesrat (Verkehrs- und Energieminister) zurückgetreten ist.
[3]  Erst vor Kurzem hat die Schweiz in einem Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland faktisch wesentliche Elemente ihres „Bankgeheimnisses“ aufgegeben, das ein ebenfalls vor Kurzem zurückgetretener Bundesrat noch vor wenigen Monaten grossspurig als „unverhandelbar“ dargestellt hat.
[4]    So bezeichnen wir in der Schweiz manchmal unser nördliches Nachbarland.
[5]   Ein markanter Felsvorsprung im Vierwaldstättersee, der mit der Inschrift „Dem Sänger Tells | F. Schiller | Die Urkantone 1859“ versehen wurde und den jeder Schüler vom Schiff aus kennen gelernt hat.
[6]    Abfalleimer für Hundekot, inkl. Rollenauszüge für Hundekotsäckchen.
[7]   Gerade wird dieser Eifer in Hinblick auf die Volksabstimmung über die „Steuergerechtigkeits-Initiative“ diskutiert, und Steuerrabatte einzelner Kantone (darunter Schwyz als Spitzenreiter) werden von mancher Seite als Tugend und Inbegriff von Schweizerischem Föderalismus gefeiert.
[8]    Die Schweiz hat das Frauenstimmrecht als eines der letzten Länder Europas erst 1971 allgemein eingeführt; auf kantonaler Ebene wurde es im Landsgemeindekanton Appenzell Innerrhoden nach einem Bundesgerichtsurteil sogar erst 1990 übernommen. (Landsgemeinde: Versammlung aller Stimmberechtigten zur legislativen Beschlussfassung; heute noch in den Kanton Appenzell Innerroden und Glarus.)
[9]   Dargestellt von Herrn Lämmli, wie Dietbert Reich erwähnte. Für mich nicht sehr überzeugend, weil er wie ein zahmes Lamm auftrat und einen Rundbart trug, wie er Anno 1829 noch nicht Mode war.

1 Kommentar:

  1. Ich war gestern in der dritten Vorstellung. Moritz Leuenberger, der in der zweiten Vorstellung ausgebuht wurde, kam nicht mehr auf die Bühne.

    Auch wenn Adrian Marthaler nun die zweite Oper inszeniert hat, zeichnet ihn das noch nicht als Opernregisseur aus. Dass er den Opernstoff nur halbherzig umsetzt, würde man ihm verzeihen, wenn die Inszenierung wenigstens unterhaltsam wäre. Unverzeihlich finde ich aber, dass er keine Rücksicht auf die Musik nimmt. Die Oper verkommt zum Konzert in Kostümen. Niveaumässig könnte man meinen, ein Bauerntheater versuche sich am Drama.

    Es findet unter der Bevölkerung weder das Fest noch die Empörung statt. Vielleicht sollte diese emotionelle Unterkühlung die saturierte Gleichgültigkeit in der heutigen Schweizer Gesellschaft widerspiegeln. Aber dafür ist die Inszenierung wiederum zu fade. Ähnlich lustlos spielte das Opernhaus-Orchester (mit Ausnahme der Holzbläser und der Celli), und auch auf der Bühne ging's gesanglich ebenfalls eher pflichtbeflissen zu (mit Ausnahme des Duetts Mathilde/Arnold). Der Chor hielt einsatz- und tempomässig mit dem Orchester nicht immer Schritt.

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