26. September 2010

Bei Verdi hat Lüttich die Nase vorn

Der Zufall wollte es, dass wir innerhalb von drei Tagen zweimal Verdi auf der Bühne renommierter Opernhäuser erleben konnten. Beide Opernlibretti basieren auf historischen Ereignissen und stammen in etwa aus der gleichen Schaffensperiode des Meisters aus Busseto. Was liegt also näher als beide Produktionen - wo immer dies möglich und auch fair ist - einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen?!

1. "Les Vêpres siciliennes" in der Nederlandse Opera, Amsterdam
Verdi schrieb seine Vêpres siciliennes als Auftragswerk für die Pariser Oper anlässlich der  dort stattfindenden Weltausstellung 1855. Grand Opéra bedeutete ein nicht nur zeitaufwändiges Werk in französischer Sprache, das aus (meistens) fünf Akten und einem integrierten Ballett bestand. Die fast 30 Minuten dauernde Musik zu diesem Ballett, eine Allegorie der vier Jahreszeiten, hat mit ihrem melodischen Einfallsreichtum auch außerhalb ihrer musikalischen Provenienz eine gewisse Popularität erlangt. Bei der Aufführung der “Nederlandse Opera“ in Amsterdam hatten sich Regisseur Christof Loy und sein “Ballett-Librettist“ Thomas Jonigk wohl Anregung bei Konwitschnys Don Carlos - Inszenierung geholt; denn wie dort in der Ballettmusik Ebolis Traum vom kleinbürgerlichen Glück gezeigt wurde, so wurden wir auf verkleinerter Bühne in einem Zimmer mit Blümchentapete aus den 1950er Jahren Zeugen von Henris Kindheitserinnerungen bzw. Tagträumereien, die mit teilweise allzu deutlichen sexuellen (freudschen?) Phantasien pantomimisch gestaltet wurden. Diese “heile Welt“ der Blümchentapete griff Loy im letzten Akt wieder auf, ließ Henri schon einmal freudestrahlend mit dem Kinderwagen über die Bühne stolzieren, um dann kurz darauf durch das Abbauen dieser heimeligen und überschaubaren Wohnstatt die Unmöglichkeit eines solchen Lebens ohne Konflikte zu verdeutlichen, bevor im Finale mit dem vermeintlich glückverheißenden Geläute der Hochzeitsglocken das Startsignal zum blutigen Aufstand der lange unterdrückten Sizilianer gegen die französischen Besatzer gegeben wurde.


Und damit sind wir beim historischen Kern dieses Librettos, dem als “sizilianische Vesper“ bekannten Blutbad, bei dem 1282 in Palermo 2000 Franzosen, die diese Region besetzt hielten, von den Sizilianern umgebracht wurden. Regisseur Christof Loy verlegte diesen Tatbestand in die Mitte des vorigen Jahrhunderts und entwickelte auf der - bis auf die unvermeidlichen endlosen Stuhlreihen und eine bedrohlich-grelle verschiebbare Lichterwand von weißen Neonröhren - meist leeren Bühne (und die ist in Amsterdam sehr breit!) den Konflikt der Protagonisten zwischen Vaterlandsliebe und persönlichen Gefühlen inwendig, doch auch untermalt von brutalen Szenen (In demütigender Weise ließen die französischen Machthaber beispielsweise junge sizilianische Frauen auf den Knien über die Glassplitter gerade leer getrunkener Flaschen rutschen). Damit des verbannten Freiheitskämpfers Procida  berühmte Arie “O tu Palermo“, eine der bekanntesten Bass-Arien Verdis, zumindest etwas Lokalkolorit erhielt, wurden kleine Videoprojektionen dieser Stadt und seiner Erinnerungen daran eingeblendet. Auch die vor allem das bekannte Thema des Duetts Montfort – Henri aus dem 3. Akt vorwegnehmende “Sinfonia“ wurde durch Videoporträts gefangener Sizilianer “aufgelockert“ und – man höre und staune! – nach dem 1. Akt gespielt – sehr zum laut geäußerten Unwillen mancher Besucher. Der “Allmacht“ gewisser Regisseure sind anscheinend keine Grenzen gesetzt… Immerhin geschah es auch an diesem Opernhaus im November vergangenen Jahres, dass der Regisseur (in diesem Fall P. Konwitschny) das Finale von R. Strauss’ Salome in eine Art “happy ending“ umwandelte.

Wesentlich unumstrittener und positiver war die musikalische Seite: Faszinierend in ihrer vokalen Brillanz und Rollengestaltung (aus der maskulin gekleideten Patriotin Hélène wird am Ende auch äußerlich eine liebende Frau!) die niederländische Sopranistin Barbara Haveman, die recht kurzfristig diese Partie von Emily Magee übernommen hatte. Ihr tenoraler Partner Henri, der sich als Sohn des verhassten Gouverneurs Montfort entpuppte,  wurde von Burkhard Fritz im Stil eines “lirico spinto“ klangschön und höhensicher gesungen. Etwas schwächer schienen mir die beiden tieferen Männerstimmen: der Schweizer Bariton Alejandro MarcoBuhrmester als Montfort wirkte stimmlich wie in seiner Rollengestaltung etwas monochrom, und der Bass von Balint Szabo als Procida war von zu leichtem Kaliber. Das Nederlands Philharmonisch Orkest spielte homogen und ohne Fehl und Tadel, und der große Koor van de Nederlandse Opera (fast 80 Sänger/innen!!) bildete wie immer einen beeindruckenden Rückhalt. Das Dirigat von Paolo Carignani ließ gelegentlich bei aller sorgfältigen Austarierung der Orchesterstimmen ein paar Strahlen des revolutionären Feuers dieser Oper vermissen , bescherte aber dem Publikum im  fast ausverkauften Haus nach La Juive (2009) und Les Troyens (2010) in kürzester Zeit die begeisternde Begegnung mit einer dritten grand opéra.

2. "Un ballo in maschera" in der Opéra Royal de Wallonie, Lüttich
Knapp 4 Jahre später (am 17. 02. 1859) feierte Verdis 23. Oper am römischen Teatro Apollo ihre Premiere, und wir fuhren zwei Tage nach unserem Amsterdam-Besuch in die Lütticher Opéra Royal de Wallonie, um dort seinen ballo in maschera wieder einmal zu genießen. Und in der Tat wurde dieser Abend im “Palais Opéra“, dem Ausweichquartier der ORW während der Restauration des Operngebäudes, zum Genuss: Der erstmals in Liège gastierende Massimo Zanetti sorgte am Pult des Lütticher Orchesters für mitreißenden Schwung und Italianità, wobei immer aufs Neue die gute Akustik dieses Opernzeltes zu bewundern ist. Der durch den Opernchor aus Namur verstärkte “Hauschor“ – natürlich deutlich kleiner als der in Amsterdam – sorgte trotz der räumlichen Enge auf der relativ kleinen Bühne für adäquate Unterstützung der  Protagonisten (sehr gelungen der Spottchor am Ende des 2. Aktes!). Für die Besetzung der vier Hauptrollen hatte Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera in jeder Beziehung klangvolle Namen aufgeboten:
Aquiles Machado (Foto: Jaques Croisier)
Der venezuelanische Tenor Aquiles Machado – auch er zum ersten Male auf der Lütticher Bühne – bot eine rundum überzeugende Gestaltung des amerikanischen “Gouverneurs“ Riccardo und sang einfach prächtig (Auch der vertrackte und deshalb sogar von großen Tenören gemiedene Sprung über mehr als eine Oktav nach unten in seiner ersten Arie “Di tu se fedele“ gelang problemlos!).

Ihm ebenbürtig der mit wunderbarem Legato singende Renato des rumänischen Baritons George Petean, der vor allem auch den Hamburger Opernfreunden ein Begriff sein dürfte. Auch die drei Frauenrollen waren mehr als rollendeckend besetzt: Den größten Schlussbeifall heimste interessanterweise die zierliche junge Russin Marina Zyatkova für ihre Darstellung des “Pagen“ Oscar ein. Aber auch die Römerin Chiara Taigi, die die von ihren widerstreitenden Gefühlen zerrissene Amelia u.a. schon in Leipzig unter Chailly gesungen hat, sowie Anna Maria Chiuri als Wahrsagerin Ulrica spielten und sangen lebendige Rollenporträts.
Marina Zyatkova, Aquiles Machado, George Petean (Foto: Jaques Croisier)
Chiara Taigi, Aquiles Machado (Foto: Jaques Croisier)
Wie bei so vielen Opern des Ottocento gab es auch vor der Uraufführung des Maskenballs massive Probleme mit der Zensur. Verdi hatte seine neue Oper, die nach einem Libretto Eugène Scribes, das schon Auber 1833 in Töne gesetzt hatte, das Attentat des Grafen Anckarström auf den schwedischen König Gustav III. bei einem Maskenball 1792 in Stockholm thematisierte, für Neapel vorgesehen. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem dort regierenden Bourbonenkönig Ferdinand II. wurde der Komponist aus seinem Kontrakt entbunden, verließ die Stadt und ging auf das Angebot ein, sein neues Meisterwerk in Rom aufzuführen. Aber auch hier machte die Zensur (in diesem Fall die päpstliche) Probleme. Allerdings ließ sie Musik und Text unbeanstandet, setzte aber durch, dass die Handlung in die USA (Boston gegen Ende des 17. Jhdts.) verlegt und dementsprechend  einige Personen umbenannt wurden. Regisseur Philippe Sireuil griff diese Bostoner Fassung auf, ging aber in Zeit und Szenerie einen Schritt weiter: “Wir befinden uns irgendwo in den Vereinigten Staaten in den 1960er Jahren“ war im Programmheft zu lesen. Mit Liebe zu Atmosphäre schaffenden Details schuf das für die Inszenierung verantwortliche Team  passende Bühnenbilder, die analog zum zeitlichen Ansatz durchaus Sinn machten: So blickten wir in der 1. Szene in die Suite eines Luxushotels, trafen zu Beginn des 2. Aktes Amelia und Riccardo in einem bis auf einen Straßenkreuzer leeren ehemaligen Parkhaus am Stadtrand, und erlebten im Finale Riccardos Ermordung im Festsaal des Luxushotels - stilecht mit Rednerpult und Mikrophon, in das der Präsidentschaftskandidat Riccardo seine letzten Worte hauchte. Wenn man das prinzipielle Problem der zeitlichen und örtlichen Verlagerung eines historischen Libretto-Stoffes einmal ausklammert, war diese Regiearbeit in sich schlüssig und wirkte nicht als Fremdkörper innerhalb der Musik. Das sah zumindest ein Besucher ganz anders, der unmittelbar nach dem letzten Vorhang in die Stille der aufbrechenden Besucher mit Stentorstimme rief:  “Mise en scène [=Regie]: Buh buh buh“. Was hätte er wohl zu der Inszenierung in Amsterdam gesagt?

Walter Wiertz
Besuchte Vorstellungen: 14. 09. 10 (Amsterdam) und 16. 09. 10 (Liège)

1 Kommentar:

  1. Claus und Friederike28. September 2010 um 19:02

    Auch wir waren am 14. September in Amsterdam. Die Aussicht, dort diese von uns geliebte, aber leider selten aufgeführte Oper zu hören und zu sehen, hatte uns dorthin gelockt. Na also: Hören ist uns dort nicht vergangen, aber Sehen … !!! Will sagen: gesungen wurde, wie auch in dieser Besprechung deutlich wird, auf sehr hohem Niveau, und Orchester, Chor und Dirigent ließen musikalisch keine Wünsche offen. Aber auf der Bühne waren Ähnlichkeiten mit dem zugrunde liegenden Stück rein zufällig und wohl auch nicht unbedingt beabsichtigt. Es wäre Leuten vom Schlage eines solchen „Regisseurs“ anzuraten, dass sie sich zu den von ihnen ausgebrüteten „Inszenierungen“ auch gleich die passende Oper komponieren lassen. Das würde solch ärgerlichem Etikettenschwindel ein für allemal einen Riegel vorschieben und verhindern, dass jemand von weither angereist kommt, um eine bestimmte Oper zu sehen und dann gezwungen ist, die Augen zu schließen, um wenigstens ihre Musik ungestört genießen zu können. Ach ja, pardon, ich vergaß: genießen ist out – provozieren und verhässlichen ist in.

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.