13. Mai 2010

Noch einmal: Moïse in Nürnberg

Diskussionen über Inszenierungskonzepte gleichen meist deswegen Dialogen zwischen Tauben, weil die Anhänger vermeintlich ‚werktreuer’ Regie Argumenten weitgehend unzugänglich sind und Forschungsergebnisse in den Bereichen Theatertheorie und –geschichte konsequent ignorieren. Anläßlich von Reto Müllers „Rückblick auf den Nürnberger Moïse“ sei dennoch ein weiteres Mal der Versuch unternommen, einiges klarzustellen.

Die Bedeutung eines Kunstwerks läßt sich nicht auf die Autorintention reduzieren (die im übrigen allenfalls in seltenen Ausnahmefällen eindeutig und vollständig zu erfassen sein wird). Vielmehr ist die ästhetische Qualität eines Werkes um so größer, je komplexer der Sinngehalt ist, d.h.: je zahlreicher und je unterschiedlicher die Wege sind, die zu einer in sich stimmigen Deutung führen können.

Natürlich hat der Moses des Alten Testaments weder Rossini noch seine Librettisten sonderlich interessiert. Unter den zahllosen Episoden des Alten Testaments wählten sie gerade diesen Stoff, weil er einem vor allem an seinen eigenen Problemen interessierten Publikum Identifikationsmöglichkeiten bot: Emilio Sala❶ hat kürzlich darauf hingewiesen, daß die biblische Moses-Figur im Sinne der Romantik umgewertet worden war. Da Europa 1818 noch unter dem Eindruck (oder dem Schock) von Napoléons Sturz stand➋, mag der eine oder andere Zuschauer bei Moses, der das Volk Israel ins Gelobte Land führte, an den Korsen gedacht haben, der während des Italienfeldzugs (1796/97) seinen Soldaten den Weg zu den Fleischtöpfen der norditalienischen Städte wies. Des weiteren war seit der Französischen Revolution die Frage der rechtlichen Stellung der jüdischen Mitbürger (gleichsam der Auszug der Juden aus dem Ghetto) in allen europäischen Ländern aktuell. Spätestens seit den 30er Jahren werden dann die Hebräer mit den unter der österreichischen Fremdherrschaft stöhnenden Italienern gleichgesetzt, wie Honoré de Balzacs Kommentar in seiner Novelle Massimilla Doni eindrucksvoll zeigt.

Als Giacomo Meyerbeer Le Prophète (UA 1849) komponierte, hat er Musik des 16. Jahrhunderts studiert (und Puccini verwendete später in Madama Butterfly fernöstliche Melodien). In die Partitur von Mosè und Moïse hat dagegen die jüdische musikalische Tradition keinen Eingang gefunden, denn in der italienischen Oper jener Zeit bedeutet die zeitliche und räumliche Situierung der Handlung nicht mehr und nicht weniger als die Entscheidung für ein (letztlich austauschbares) Kolorit. Weit stärker als durch die jeweilige Stoffvorlage werden Handlungsführung und Dramaturgie durch Besetzungskonventionen bestimmt (deshalb wird die heilsgeschichtliche Mission des Moses hier durch eine anekdotisch-banale Liebesgeschichte zwischen den Völkern gefährdet); deshalb ließen sich von der Zensur geforderte Änderungen von Schauplatz und Epoche relativ problemlos bewerkstelligen, deshalb auch können Dekor und Kostüm heute nicht (sakrosankter) Selbstzweck, sondern nur zeichenhaftes Mittel der Werkinterpretation sein.

Eine Opernaufführung ist keine Geschichtsstunde. Daß Rossinis Oper für die Zeitgenossen auf die Judenemanzipation verwies, bedeutet nicht, daß eine Inszenierung diesen Aspekt unterstreichen sollte; die doppelte Vermittlung des (für uns) historisch Fernen durch ein Beispiel aus dem Alten Testament erschwert einem (kaum noch  bibelfesten) heutigen Publikum das Verständnis, es gibt genügend historische wie literarische Beispiele aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die die Problematik sinnfälliger machen können.

David Mouchtar-Samorais Nürnberger Lesart setzt, so scheint es, bei der Einsamkeit des Moses an, der nicht nur die Ägypter, sondern auch sein eigenes, zweifelndes Volk von seinem göttlichen Auftrag überzeugen muß – hier liegt die Parallele zu Theodor Herzl, dessen Idee eines Judenstaats bei seinen Glaubensgenossen überwiegend auf Skepsis stieß. Trotz des göttlichen Auftrags und Beistands ist Rossinis Moses (der, anders als jener Arnold Schönbergs, die Stimme Gottes nicht hört) oft allein, wohl auch verzweifelt; indem die Inszenierung das deutlich macht, fügt sie der Figur wesentliche Facetten hinzu.

Diese Deutlichkeit hat freilich ihren Preis. Theodor Herzl ist ein Visionär, aber auch ein (neuzeitlicher, d.h innerweltlich denkender und argumentierender) Politiker. Aus politischer Sicht nun ist die Verbindung von Anaï und Aménophis das beste, was den Hebräern passieren kann; mit einer der ihren auf dem Pharaonenthron hätten sie nicht nur zum Zeitpunkt des Auszugs, sondern auch für die schwierige Phase der Konsolidierung ihres neuen Staates eine mächtige Verbündete. Die erratische Intransigenz von Rossinis Moses wird bei Moses-Herzl völlig unverständlich; und ich bekenne, daß er mir noch nie so auf die Nerven gegangen ist wie in der Nürnberger Inszenierung. Damit verstärkt der Regisseur freilich nur eine Tendenz, die im Libretto – als Konsequenz aus der Notwendigkeit,  Rollen für Sopran und Tenor zu schaffen – angelegt ist: Zwischen dem kosmisch-heilsgeschichtlichen Drama und der Liebeshandlung besteht eine groteske Disproportion, die vollständig zu kaschieren weder möglich noch sinnvoll ist. Sie statt dessen pointiert zuzuspitzen, ist sicher keine schlechte Idee.

Theater erzählt in Bildern. Die unmittelbar visuelle Evidenz des geglückten Bildes zeichnet das Schauspiel vor dem Roman, und die Oper vor dem Konzert aus; hier liegt – auch und gerade angesichts der Bilder-Inflation der Massenmedien – das Specificum, und die Chance des Theaters. Mouchtar-Samorai gelingt in der Schlußszene ein derart packendes Bild: Die Zerstörung des Bühnenraums, der von Beginn an allen Erschütterungen standgehalten hat, der Einsturz der Seitenwand macht unmittelbar einsichtig, daß Jahwe sein Volk nicht ins Paradies, sondern auf eine Baustelle geführt hat (der weitere Verlauf der biblischen Geschichte wird es bestätigen). Auch dieses Bild freilich hat seinen Preis: Wenn Pharaos Truppen vernichtet sind, Moses allein auf der Bühne zurückbleibt, der Schleier heruntergelassen wird, auf dem dann das Bild eines brennenden Gebäudes erscheint, wechselt die Perspektive von der symbolischen Konfrontation zwischen dem jüdischen Volk und seinen Feinden (Moses ‚ist’ eben nicht Theodor Herzl, sondern in Moses wie in Herzl verkörpert sich die sich gegen Unterdrückung und Bedrohung behauptende jüdische Identität) zu einem Abriß der Ereignisgeschichte von der Zeit Herzls bis zu Holocaust und Weltkrieg. Mit dieser Sequenz (die als optischer Kontrast zum Schlußbild, und wohl auch wegen des hinter dem Schleier vorzunehmenden Umbaus notwendig ist) hatte ich Schwierigkeiten, der Wechsel der Ebenen schien mir (unabhängig von der beklemmenden Unmittelbarkeit der projizierten Bilder selbst) der Wirkung des Ganzen eher abträglich zu sein. Dennoch bleibt der Eindruck einer von der vermittelten  Aussage wie der angewandten optisch-szenischen Mittel her eindrucksvollen Inszenierung.

Fazit: Selbstverständlich steht es jedem frei, den historisierenden Pseudo-Realismus der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zu mögen; nur sollte man bitte nicht den Eindruck zu erwecken suchen, diese Ästhetik hätte irgend etwas mit der Intention eines Werks wie Moïse et Pharaon, oder auch mit den Intentionen Rossinis, Tottolas, Balocchis oder Jouys, zu tun. Die Stoßrichtung der Inszenierungskritik scheint im übrigen darauf hinzudeuten, daß weniger eine bestimmte Form von Theater als die genuinen Ausdrucksformen der Kunstform Theater selbst den Stein des Anstoßes bilden; insofern wäre vielleicht zu überlegen, ob nicht eine Erweiterung des Kontingents an Hörplätzen, wie es sie zumindest in älteren Theatern zu geben pflegt, die Lösung des Problems darstellt.

Albert Gier


➊ Mosè in Egitto – Moïse et Pharaon, a cura di E.S., Pesaro 2008 (I Libretti di Rossini, 15), S. XXI-XXV.
➋ Klaus Ley (Latentes Agitieren: Nabucco, 1816-1842. Zu Giuseppe Verdis früher Erfolgsoper, ihren Prätexten, ihrem Modellcharakter, Heidelberg 2010) weist nach, daß der Nabucco in G.B. Niccolinis Tragödie (1819) für Napoléon steht; für Peter von Winters Maometto habe ich selbst eine ähnliche Deutung vorgeschlagen.

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