19. April 2010

Christoph Willibald Gluck: "Alkestis" (Alceste) in Leipzig

Foto: Oper Leipzig  Zum Video: Theater-tv

„Ich war darauf bedacht, die Musik wieder zu ihrer wahren Aufgabe zurückzuführen, nämlich dem Libretto und den Situationen zu dienen“ schreibt Gluck in seiner Vorrede zu seiner Reformoper „Alceste“ und verfasste damit eine Kampfansage an die „Missbräuche“, die er in der „übel angebrachten Eitelkeit der Sänger“ sah sowie in der „allzu großen Gefälligkeit des Komponisten“ gegenüber der italienischen Oper. Gluck wünscht von Anfang an „Natürlichkeit“, wie sie später von Rousseau gefordert wird, er verschmäht barocke Opern-Maschinerie und erteilt der „opera seria“ mit vorgeschriebenen Nummern-Arien eine Absage.

Mit der Aufnahme von „Alkestis“ beginnt in Leipzig 2010 ein Gluck-Zyklus, den man auch in Anspielung an Richard Wagner, der Gluck sehr verehrte und als seinen Lehrmeister ansah, als „Leipziger Gluck-Ring“ bezeichnen könnte. Auf „Alkestis“ sollen weitere Gluck-Opern mit Frauen-Gestalten der Antike im Mittelpunkt folgen, nämlich  „Iphigenie in Aulis“, „Iphigenie auf Tauris“ und schließlich „Armida“, sämtlich inszeniert von Peter Konwitschny.

Die jetzt erstmalig aufgeführte „Leipziger Fassung“ verbindet die ursprüngliche für Wien komponierte Alkestis-Oper von 1767 mit der Pariser Fassung der „Alceste“ von 1776.  Da die in sich stimmige und vollständige Wiener Fassung, die lediglich das glückliche Ende ausspart, durch den 3. Akt der anders aufgebauten Pariser Fassung ergänzt wird, ergeben sich Wiederholungen, die jedoch durch die Regie Peter Konwitschnys geschickt  aufgefangen werden: Der Dialog zwischen der zum Opfertod bereiten Alkestis mit den Totengöttern, ihr Hinabsteigen in die Unterwelt, findet in Leipzig zweimal statt, einmal real im 2. Akt, zum anderen im 3. Akt als Showelement und Videobotschaft in einem heutigen Fernsehstudio, in das Alkestis und mit ihr ihre Familie und ihr Volk Jahrtausende später wie durch Zauber geraten sind. Die Brüche und teilweisen Wiederholungen zwischen dem zweiten Akt der Leipziger Alkestis und dem dritten Akt, der im Heute spielt, sind also nicht nur ein virtuoser Regie-Einfall, sondern auch der Verbindung zweier unterschiedlicher Opernfassungen geschuldet. Da der Hörer dadurch aber in den Genuss der völlig homogen durchkomponierten frühen Wiener Fassung kommt, die vermutlich die beiden ersten Akte der späteren Pariser Version musikalisch übertrifft, stellt dies kein Manko, sondern im Gegenteil einen Gewinn dar.

Orchester
Es spielte das Gewandhausorchester Leipzig unter der Stabführung von George Petrou. Letzterer schwang den Taktstock mit Verve und hatte seine delikat aufspielenden Leute gut im Griff. Erstaunlich, wie schnell die Ouvertüre angegangen wurde. Lebhafte Streicherpassagen nahmen ebenso wie bei klagende Bläser-Einlagen Naturschilderungen vorweg, die später im Gesang der Alkestis auf ihrem Weg in das Reich der Toten wieder aufgegriffen wurden: Das Singen der Waldvögel, die Kaskaden der Wasserfälle. Da man die Oper durchaus als vertontes Seelendrama, als musikalisches Schauspiel nach Euripides, sehen kann, gibt es wenige Arien, jedoch viele Dialoge und Rezitative, die eine zuverlässige Basso-Continuo-Begleitung erfordern, die hier durch Violoncello und Cembalo mustergültig erfolgte.

Chor und Kinderchor
Es ist immer wieder eine Freude, den Leipziger Chor zu erleben. Bei Gluck spielt er eine herausragende Rolle. Er kommentiert das Geschehen nicht aus höherer Warte wie ein antiker Chor im Drama, sondern nimmt als „Volk“ aktiv am Geschehen teil. Die Homogenität zwischen Frauen-, Männer- und Kinderstimmen ist verblüffend. An dieser Stelle soll noch auf die Besonderheit der beiden Königskinder Aspasia und Eumelo (in der Premiere gesungen von den Kindern Lea Heinzel und Johann Lieberwirth) hingewiesen werden, welche in italienischer Sprache sauber intoniert einige Passagen darboten, grandios vom Opernfachmann Gluck eingebaut.

Sängerinnen und Sänger
An erster Stelle ist hier  die Sängerin der Alkestis, Chiara Angella, zu nennen. Gluck hat hier nicht nur musikalisch eine „Heldin der Antike“, sondern einen Menschen aus Fleisch und Blut entworfen, der erst allmählich das von den Göttern heraufbeschworene Dilemma begreift und dann entsprechend handelt: Die Götter fordern ein Menschenopfer, um den König Admetos, der dem Tode nahe ist, zu retten.


Alkestis beschließt aus Liebe zu ihrem Mann, dieses Opfer zu bringen, da sie die einzige ist, die hierzu bereit ist.  Von nun an geht sie nicht nur buchstäblich in das Totenreich, in die Unterwelt, sondern auch psychologisch durch die Hölle: Zwar ständig zum Opfer entschlossen, vergeht sie fast vor Sorge um ihre Kinder, die sie mutterlos zurücklassen müsste. Zudem sieht sie sich den Vorwürfen und der Wut ihres Mannes ausgesetzt, als sie sich ihm offenbart und er erkennen muss, dass er ihrem Todeswillen seine Genesung verdankt.  Die Musik drückt Alkestis` Angst, Sorge, Zweifel und Liebe aus. Mal ist sie fast schon gestorben und von den Kräften verlassen, dann erstarkt sie wieder. Ihr Abschied ist musikalisch lang und ergreifend ausgemalt. Das ging unter die Haut und erforderte großen Einsatz der Sängerin, die über einen ausgeglichenen Mezzo verfügt. Im Sinne Glucks, der neben Expressivität in den Arien auch leise Töne forderte und dem Schreien abhold war, gestaltete sie ihre Rolle. Angella war fast ununterbrochen präsent, sie repräsentierte einen herben, fast burschikosen Frauentyp mit ausladenden Gesten und zeitweilig raumgreifenden Schritten, vermochte aber auch als liebende, zärtliche Mutter und besorgte Gattin zu überzeugen. Einige Einsätze klangen kernig, gegen Ende erschien sie mir erschöpft, kein Wunder bei dem Einsatz. Angella erhielt den verdienten heftigen Premieren-Applaus.

Leidenschaftlichen Einsatz zeigte Yves Saelens als König Admetos. Ihm gönnt Gluck private Gefühlsausbrüche, die ihn weniger als um sein Volk besorgten Herrscher, sondern überwiegend als Privatmann zeigen, der seine Frau über alles liebt, der über ihren Entschluss, ohne ihn zu Rate zu ziehen, sich dem Tode zu weihen, bestürzt und wütend ist. Das war sängerisch und darstellerisch packend. Kaum zu glauben, dass Gluck für seine ursprüngliche Wiener Fassung seiner Oper fast nur Buffo-Sänger zur Verfügung standen, (die aber gleichwohl vermutlich sehr gute Darsteller-Sänger waren).

Weiterhin sang Viktorija Kaminskaite die Ismene, Vertraute und Begleiterin der Königin Alkestis. Ihre klare schöne Stimme ließ keine Wünsche offen, man möchte sie öfter hören. Sie folgt ihrer Königin auf dem langen Weg in den Hades und ist nur nach wiederholter, fast grober Aufforderung, sich zu entfernen, in der Lage, die Königin allein zu lassen.

Auch die übrigen Rollen waren mit jungen Stimmen adäquat besetzt, sehr erfreulich, Norman Reinhardt als Evandros zu erleben, Ryan McKinny als Herkules mit großem Körper- und Keulen-Einsatz. Etwas eigenartig  maniriert (gewollt?) klang der Einsatz des göttlichen Apollo (Tomas Möwes), ein wahrer „deus ex machina“, der die durch Herkules verfügte Rettung beider Gatten absegnet.

Eine Sonderrolle spielten Damen des Leipziger Balletts als Geister der Unterwelt. Regiekonform traten sie als eine Art „Fernsehballett“ auf, aber die suggestiven, lasziven Bewegungen, mit denen sie lockten, waren als Signal der Todesgefahr nicht zu verkennen.

Inszenierung
Wie schon erwähnt, zerfällt die Inszenierung in zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Teile: Im ersten und im zweiten Akt befinden wir uns im antiken Griechenland, in einer mythischen Vorzeit, in der ein Hirtenvolk mit dem baldigen Ableben seines Herrschers rechnen muss und die üblichen Tieropfer nicht mehr helfen. In Leipzig ist ein schönes Lamm auf der Bühne zu sehen, über ihm schwingt ein Priester bereits das Messer, gelegentlich erklingt ein leises „Bäh“ in die klagenden oratorienähnlichen Chorgesänge hinein und ruft beim Publikum verhaltene Heiterkeit hervor.

Im zweiten Akt macht sich Alkestis auf den langen Weg ins Totenreich. Sie wandert auf der sich drehenden Bühne durch eine felsige karge Landschaft.  Der Hintergrund zeigt einen Morgenhimmel mit ziehenden Wolken, die sich immer mehr auftürmen und verdunkeln; der Tag geht in den Abend über. Das Zwiegespräch der im Totenreich schließlich nach langer Wanderung angelangten Königin Alkestis mit den schemenhaften Gestalten der Unterwelt gehört zu den Höhepunkten der Inszenierung und der Oper: Die Bühne ist jetzt in Ober- und Unterbühne aufgeteilt. Oben ein Felsen, auf dem die Königin kauert, der schließlich durch Nebel fast völlig verhüllt wird, unten sich windende schemenhafte Gestalten. Die Königin beugt sich zu den Totengöttern hinab, bietet sich als Opfer an und steigt schließlich zu ihnen hinab, vorübergehend nur, denn dann verlässt sie das Totenreich wieder, um Abschied von ihrer Familie zu nehmen.

Ganz anders der dritte Akt, der in einem Fernsehstudio spielt. Da in den ersten beiden Akten Trauer und Schmerz vorherrschen, und in dieser Hinsicht eigentlich keine Steigerung mehr möglich ist,  wird die im dritten Akt erfolgende Ent-Mythologisierung vom Publikum überwiegend dankbar angenommen. Es setzt sich nunmehr bereitwillig mit einem ironisierenden modernen „Satyrspiel“ (Konwitschny) auseinander. Das Libretto verheißt zwar eine Steigerung des Grauens; das Totenreich mit dem Fluss Lethe und dem Fährmann Charon wird als noch bedrohlicher und einsamer geschildert. In Konwitschnys Inszenierung wird eine Steigerung jedoch auf andere Weise erzielt: Zunächst wird das Thema "Opfertod" behutsam wieder aufgegriffen, schließlich jedoch ins Absurde übersteigert. Das "Volk" von Thessalien, die Menschen der Antike, betreten nämlich zaghaft die Bühne und verwandeln sich dann vor aller Augen in das "Fernsehvolk", in Statisten eines TV-Senders, die ihren Text auf Schautafeln geliefert bekommen, die dann nur noch abgelesen werden müssen. Lustvoll sind sie in einer banalen Gegenwart angekommen. Auch Alkestes und Admetos erscheinen und setzen ihren Streit fort.


Herkules von "HercoolTV", Moderator mit nacktem Oberkörper, über den er ein Raubtierfell geschlungen hat, schwingt eine riesige Keule, die auch als funktionierendes Mikrofon dient, welches er einzelnen Sängern vor den Mund hält. "Griechen" treten in adretten Karnevalskostümen auf, Alkestis, verstört und unsicher wirkend, wird in ein weißes Abendkleid und Stöckelschuhe gezwungen, Admetos wird ebenfalls als Mann der Neuzeit "verkleidet". Von königlichem Rang bleibt beiden nichts. Beide wetteifern darum, den Kahn des Todes besteigen zu dürfen, bis Herkules eingreift und alles sich zum Guten wendet.

Beim Publikum kam die Inszenierung gut an, langer, anhaltender Beifall. Und manch heutigem Opernbesucher geht es vielleicht wie den Musikfreunden vor mehr als zweihundert Jahren: Nach all der Trauer möchte man etwas Beruhigung und Aufheiterung. Herkules Rettungstat und Apollos Eingreifen setzten sicher auch in historischen Aufführungen einen entspannenden Schluss-Strich. Wenn es früher kein Opern-Satyrspiel wie in der Pariser Fassung der Alceste gab, fügte man einem musikalischen Drama als Anhang gerne noch ein oder zwei mehr oder weniger gekünstelte Ballette bei, wie historische Theater-Ankündigungen belegen.

Astrid und Reiner Fricke

Besuchte Aufführung: Premiere am 17. April 2010
Weitere Vorstellungen: 29. April; 6./14./28. Mai; 18. Juni

1 Kommentar:

  1. Alceste ist ein unglaublich wunderschönes Stück, dass eine gewaltige Musik in sich hält. Die schlechte Kritik, die von außen kam ist nich nachzuvollziehen!!
    Lg und lassen Sie sich genauso verzaubern wie ich. :)

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.