11. Dezember 2010

'Moïse et Pharaon' in Rom

Riccardo Muti hat nicht den Ruf eines ausgesprochenen Rossini-Dirigenten und er hat nie in Pesaro dirigiert. Sein tatsächlich nur kleines Rossini-Repertoire ist aber bemerkenswert. Bereits 1972 hat er als Erster in neuer Zeit eine vollständige Aufführung von Guglielmo Tell am Maggio Musicale Fiorentino geleitet. Mit dieser Oper eröffnete er 1988 auch die Saison der Mailänder Scala. Dem italienischen, romantischen Rossini widmete er sich 1992 mit La donna del lago, ebenfalls in Mailand. Danach kehrte er zum französischen Rossini zurück, dieses Mal sogar in der Originalsprache: Mit Moïse et Pharaon eröffnete er die ins Teatro degli Arcimboldi verlegte Saison 2003 der Scala (die entsprechende DVD ist kürzlich erschienen und wurde soeben von Julia Poser im «Orpheus» 11+12/2010 besprochen). Mit dieser Oper machte er den Rossini der Grand Opéra im Sommer 2009 auch dem Salzburger Publikum schmackhaft. Und nun eröffnete er damit die neue Stagione der Römer Oper.
Dem Maestro gelingt es, auf übertriebene und effektheischende Akzente verzichtend, erhaben und würdevoll durch die Partitur zu führen, ohne je Langeweile aufkommen zu lassen. Die 4 ¼ Stunden lange Aufführung verging wie im Nu (inkl. Pausen nach dem 1. und 2. Akt). Er spielte eine absolut ungekürzte Fassung und erbrachte den Beweis, dass dies auch heute noch bei einer Grand Opéra einschließlich Ballettmusik sehr wohl möglich ist. Ich konnte bei der Live-Übertragung im italienischen Rundfunk die ganze Oper in der gedruckten Partitur von Troupenas (1827) mitverfolgen und feststellen, dass Muti taktgenau dieser Ausgabe folgte. Dementsprechend endete die Oper auch mit der instrumentalen Meeresstille und nicht mit dem choralen Cantique, das nur im Klavierauszug von Troupenas erschienen ist und dessen Partitur aufgrund der an der Pariser Opéra erhaltenen Quellen rekonstruiert werden konnte (aufgeführt in Pesaro, Mailand und Nürnberg. Die einzige Abweichung, die ich feststellen konnte: Im berühmten Gebet ließ Muti die dritte Solo-Strophe von Anaï singen, und nicht von Marie, wie dies Rossini vorgesehen hat (vielleicht, weil Anaï ihre Rolle mit der großen Arie vollendet hat und in die Reihen des Volkes zurückkehrt, während Marie zusammen mit Éliézer und Moïse zu den Führungspersönlichkeiten der Juden gehört).

Bei der Besetzung der Titelrollen setzte Muti wie in Salzburg wiederum auf Abdrazakov und Alaimo. Ildar Abdrazakov war, trotz der ihm fehlenden profunden Basstiefe, ein klangschöner, jugendlicher und charismatischer Moïse. Nicola Alaimo verlieh dem Pharaon die nötige Statur, während die in dieser Rolle verbliebenen Koloraturen aus der italienischen Fassung bei ihm etwas oberflächlich ausfielen; wie sein berühmter Onkel Simone ist ihm eine eher rudimentäre Stimmführung zu eigen, ohne dessen Bühnenpräsenz zu erreichen. Beide Sänger bedauerten in Interviews, dass sie in diesen Rollen keine Arie haben. Das hat Rossini in dieser Choroper freilich mit Kalkül so angelegt. Grundsolide Basstöne bot Riccardo Zanellato, zunächst als „Voix mistérieuse“, dann im 3. Akt als Oberpriester Osiride mit einer passenden plakativen Rhetorik.
Die Gruppe der Tenöre wurde von Eric Cutler angeführt, der die schwierige und etwas undankbare Rolle des Pharaonen-Sohnes Aménophis innehatte: auch er hat keine Arie, aber er muss zwei schwierige Duette (mit Anaï und mit Pharaon) meistern. Das tat er eher durchzogen, die Stimme schwankt zwischen sehr weichen lyrischen Akzenten und unschönen und forcierten Tönen. Als Éliziér musste sich Juan Francisco Gatell zunächst in dem extrem schwierigen Récit in der Introduktion exponieren („J’ai vu la superbe Memphis“), das etwas gepresst und auch vom Kampf mit den französischen Vokalen entstellt einen gemischten Eindruck hinterließ (die französische Aussprache war freilich bei allen Sängern die Krux, der eigentlich nur Muttersprachler entgehen). Mit einer interessanten, aber noch an Sicherheit zu gewinnenden Stimme präsentierte sich Saverio Fiore mit seinem Katastrophenbericht als Aufide im dritten Akt.
Anstelle der angekündigten Barbara Di Castri gab Nino Surguladze der Marie ihre Stimme. Anna Kasyan, die bei der Premierenübertragung durch eine gewisse Schärfe, aber durch eine große Partiturtreue auffiel, sang die Rolle der Anaï abwechselnd mit Erika Grimaldi, die ich bei der Sonntagsaufführung hörte. Obwohl die junge Sopranistin korrekt sang, fehlt ihr (noch?) die Sicherheit und die Autorität für diese große, dramatische Rolle, die ihren Höhepunkt in der für Paris neu geschriebenen Arie im 4. Akt findet. Sonia Ganassi hat ihr denn auch vollkommen die Show gestohlen, indem sie als Sinaïde zum Schluss des zweiten Aktes das Publikum zu beinahe hysterischen Begeisterungsstürmen hinriss. Das Publikum, und speziell das italienische, liebt es, seine Stars zu haben, und nichts ist dazu geeigneter, als ein berühmter (italienischer) Name und eine große Bravourarie, auch wenn nüchtern betrachtet diese Rolle nicht im Zentrum des inhaltlichen und musikalischen Interesses steht und die Mezzostimme in dieser Sopranrolle etwas verhalten klingt. Ungewöhnlich war, dass beim Schlussapplaus nicht Anaï-Grimaldi, die vom Rollenprofil her die Primadonna der Oper ist, sondern Frau Ganassi den Maestro auf die Bühne holte – eine m.E. eher problematische Entscheidung, die auf Wertung (und Abwertung) und nicht auf eine klare Rollenhierarchie abstellt.

Auf die Inszenierung von Pier’ Alli war ich auch deshalb gespannt, weil diesem Regisseur nächsten Sommer die Adelaide di Borgogna in Pesaro anvertraut wird. Denkt man an seine dortige Matilde di Shabran zurück, erkennt man den ihm eigenen Stil, mit dem er sich gerne gewisser Elemente bedient, wie z.B. hoher Wände, Grautönen, stilisierter Gegenstände. Neu hinzu kamen die – wie die Bühnenbilder und Kostüme von ihm stammenden – Videoprojektionen, eine in letzter Zeit im Theater aufkommende technische Innovation, deren künstlerische Nutzbarmachung als legitime Modernität die Oper auch in der heutigen Zeit als Gesamtkunstwerk positioniert (viele Gegner meiner Kritik am modernen Regietheater glauben, mein Welt- und Theaterbild auf Prospekte und Kerzenlicht reduzieren zu können). Hingegen entging Pier’ Alli der Plattitüde einer Handlungsaktualisierung und evozierte vielmehr mit Symbolen aus der Pharaonenzeit (Tiergestalten, Pyramiden) und einer fernen Zukunft (futuristische Skyline, Laserwaffen à la Star Trek) eine kosmische Allgemeingültigkeit des Stoffes – der Clash der Völker und Zivilisationen. Nicht alle Projektionen waren von gleicher Qualität und Wirkung. In der Finsternisszene zu Beginn des 2. Aktes erschienen Pharaonen- und Tierköpfe, die wie 3D-Objekte bedrohende Traumbilder schafften, während der göttliche Machtbeweis im 3. Akt (im Libretto der Einsturz der Isis-Statue) mit dem Herumfliegen von Steinbrocken nicht gelungen war. Um den Effekt des Tonartenwechsels in dem berühmten Gebet zu verstärken, ließ sich der Regisseur dazu hinreißen, gleißende Scheinwerferlichter in das Publikum zu blenden, was ich als krassen Angriff auf die Integrität der Zuschauer empfinde (ohne sie zu erhöhen, tat es wenigstens der musikalischen Wirkung keinen Abbruch: Muti folgte noch so gerne den Bis-Rufen und ließ das Stück, das in der italienischen Tradition fast so lebendig ist wie „Va pensiero“, wiederholen). Exzellent war der kardinale Moment der Oper gelöst, der Durchzug durch das Rote Meer, wenn sich die Wände wie zwei Tore nach hinten öffnen und die Wassermassen über die ganze Bühnenbreite projiziert werden und nur den Durchgang freilassen, den die Juden für ihre Flucht nutzen. Nach dem ebenso effektvollen Zurückschwappen der Wasser wirkte das Schlussbild bei der instrumentalen Meeresstille, eine reine Sandwüste, etwas enttäuschend als Bild einer hoffnungsvollen Zukunft, das die Musik ausdrückt.



Manchmal zog es der Regisseur vor, in kompletter Statik zu verharren. Das dritte Finale, die modernste und großartigste Musik, die Rossini für diese Oper schrieb, fand mit seinen fortschreitenden Abwärtsbewegungen in den Streichern vor einem vollkommen regungslosen Bild statt. Vielleicht war es aber gerade dieser Kontrast, der die Stücke wirken ließ, während eine Umsetzung der Musik in Bewegung rasch Gefahr läuft, konfus oder aufgesetzt zu wirken. Einer konventionellen Realisierung entzog sich auch das Ballett in der Choreographie von Shen Wei, das von der Handlung ziemlich losgelöst war und einen asymmetrischen, aber sauber koordinierten Tanz des Ensembles im 1. und 3. Stück und einen abstrakten Solotanz einer weitgehend nackten, gleichzeitig zerbrechlich und stark wirkenden Fang-Yi Sheu in der 2. Ballettmusik bot.
         Ebenso wie Chor und Orchester gehörte auch das Ballettensemble zum Teatro dell’Opera, womit die Römer Oper mit Bravour alle ihre Ressourcen für diese auch heute noch wirkungsvoll umsetzbare Grand Opéra nutzbar machte.

Reto Müller
Besuchte Aufführung: 5. Dezember (Vorpremiere: 30. November; Premiere: 2. Dezember: weitere Aufführungen am 9, 11 und 12. Dezember).


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