14. Dezember 2010

Die zerstörte Welt der Semiramis – Rossinis 'Semiramide' feierte Premiere in der Vlaamse Opera Antwerpen

Quelle: Vlaamse Opera
Sie werden heute Abend jede Note hören, die Rossini [für diese Oper] geschrieben hat.“ So der Wortlaut eines Repräsentanten der „Vlaamse Opera“, die ihre Spielstätten in Antwerpen und Gent hat, in einem Gespräch mit einem Pressevertreter, das ich zufällig mitbekam, als wir gestern Abend erwartungsvoll das in den Jahren 2005-2007 restaurierte Operngebäude in Antwerpen betraten. Und in der Tat: Es gab ungefähr 4 Stunden Rossini-Musik vom Feinsten zu hören. Dafür sorgte vor allem Alberto Zedda, der Doyen der Rossini–Dirigenten unserer Tage, mit seinen unnachahmlichen Körpergesten, mit nie nachlassendem Schwung, aber auch mit dämpfenden Handzeichen Richtung Blechbläser. Er hatte aber auch mit dem „Symfonisch Orkest van de Vlaamse Opera“ ein glänzendes Orchester zur Verfügung und dazu einen prächtigen Chor (vor allem die stimmstarken Herren), denen allen die anscheinend intensive Probenarbeit gut getan hatte. Der fast 83-jährige Zedda, der u.a. Ehrenpräsident der Deutschen Rossini Gesellschaft (DRG) ist, erhielt dann auch beim Schluss-Applaus, der nach belgischer Sitte herzlich und lautstark, aber relativ kurz ausfiel, mit den größten Beifall.

Diese letzte italienische Oper, die der Meister aus Pesaro 1823 vor seinem Umzug nach Paris komponierte, bedarf allerdings, wenn sie ihre Wirkung als frühes Beispiel einer (ballettlosen) Grand Opéra entfalten soll, vier phantastischer Sänger(innen), die die hohen Anforderungen an ihre Virtuosität meistern. Diese vier großartigen Solisten hörte und sah man gestern auf der Bühne der flämischen Stadt, und man muss ihre Leistung noch höher schätzen, weil es für sie alle Rollendebuts – und dazu in keinen leichten Partien - waren.
(Informationen der Vlaamse Opera zur Semiramide und zu den Mitwirkenden hier auf Deutsch)

Überzeugend bis hin zu allen Spitzentönen und auch in Aussehen und Spielfreude eine Augenweide war die Titelfigur der griechischen Sopranistin Myrtò Papatanasiu, die viele Mitglieder der DRG noch von ihrer Gestaltung der Anna Erisso in Rossinis Maometto II im Amsterdamer Concertgebouw (2007) in guter Erinnerung haben dürften. Ihr Sohn Arsace und eine wunderbar verschmelzende Partnerin in den anrührenden Duetten der beiden Akte war der schwedische Mezzo Ann Hallenberg, die vor allem auch bei ihrer Auftrittsarie „Eccomi alfine in Babilonia“ kleinere Schwächen im tieferen Register offenbarte. Die in jeder Beziehung undankbare Rolle des Idreno – denn wer denkt hier nicht an Vorbilder wie Rocky Blake, Gregory Kunde oder William Matteuzzi?! – hatte der amerikanische Tenor Robert McPherson übernommen. Er bot eine vorzügliche Leistung, attackierte mutig auch die nun einmal unumgänglichen acuti und ließ allenfalls eine gewisse Geläufigkeit in den Koloraturen vermissen. Eine echte Überraschung war für mich der häufig an diesem Opernhaus zu hörende Bass Josef Wagner: Er sang grandios und spielte einen Assur, der vor allem in seiner packenden Wahnsinnsszene beeindruckte. Wenn nur sein „Kostüm“ nicht gewesen wäre …

Und damit bin ich beim visuellen Teil der Aufführung:
Für Regie, Bühnenbild und Kostüme verantwortlich war Nigel Lowery, dem immerhin vor ein paar Jahren eine wirklich spritzige und ironisierende L’Italiana in Algeri an der Berliner Lindenoper gelang, bei dem aber auch eine zumindest sehr umstrittene, wenn nicht gar misslungene Umsetzung von Lortzings Wildschütz (Köln 2009) zu Buche schlägt. In der Pressemitteilung der Vlaamse Opera war zu lesen, dass Lowery „den Nachdruck auf die Explosivität der Handlung legt und eine kaputte Welt zeichnet, in der das Verlangen und Begehren der Protagonisten unter den unerträglichen Druck der eigenen Intrigen und Machenschaften geraten. Eine Welt, die auf ihre Strafe wartet“. Eine für manche Regisseure nahe liegende Übertragung der Semiramide in die politische Gegenwart blieb uns also erspart. Erspart blieben uns auch Maschinenpistolen, Sonnenbrillen und andere so wesentliche Bestandteile mancher Regiearbeiten.


Quelle: Vlaamse Opera
(Ein "Making of Semiramide" -Video u.a. mit Alberto Zedda, Nigel Lowery und Myrtò Papatanasiu hier auf Youtube)
Was uns aber nicht erspart blieb, waren: eine Vielzahl von Allzweck-Kartons (die u.a. im 2. Akt zu Grabsteinen mutierten), ein Koffer mit wesentlichen Inhalten und zwei immer wieder auf die Bühne geschobene Kisten, von denen eine auch bei Bedarf zum Sarg umfunktioniert wurde. Nicht ganz erschloss sich uns auch die Funktion einer zweiten Semiramis, die anfangs synchron das Verhalten der Titelfigur doppelte (ihr Wesen erweiterte?). Auch die häufig zu beobachtenden Handsignale bzw. Verrenkungen von Chormitgliedern und Protagonisten sind uns bis jetzt unverständlich geblieben. Ein multifunktionaler riesiger Container beherrschte in manchen Szenen überflüssigerweise die Bühne, wurde aber im zweiten Finale durchaus passend zu Ninos Mausoleum, in dessen nachtschwarzer Nähe der jetzt Ninia genannte Arsace seine Mutter irrtümlich ermordet.
Um auf die Kostüme zurückzukommen: Während die Mitglieder des Chors durch ihre fezartige Kopfbedeckung und farbige lange Schals, in denen Orange als Farbe dominierte, eindeutig einem fremden Kulturkreis angehörten, erschienen Semiramis in langem Abendkleid und Idreno in silbergrau glänzendem Anzug als Menschen von heute, und Assur sah aus wie ein biederer Bühnenarbeiter, der seinen Arbeitskittel vergessen hatte.

Der Fairness halber sei hinzugefügt, dass diese auch durch kurze Videoprojektionen bereicherte Inszenierung, die vor dem Prospekt des im Irak-Krieg zerstörten Palastes von Saddam Hussein (also doch eine Aktualisierung?!) ablief, ihre magischen Momente hatte: Als Beispiel seien neben den beiden Finalszenen die zweite Tenor-Arie “La speranza più soave“ genannt, bei der Idreno seine ersehnte Azema in einem Brautkleid mit riesig langer Schleppe einfängt und mit ihr im Rhythmus der Arie ein paar Takte tanzt, die die Chorsänger(innen) paarweise übernehmen. Überhaupt schien mir die Personenführung (vor allem des Chores) insgesamt gelungener als manche andere Details dieser Regiearbeit, die sich uns vielleicht beim zweiten Besuch dieser Semiramide erschließen werden. Und in leichter Abänderung des bekannten Mottos Prima la musica poi la regia können wir uns alle auf die Aufführung am 14. Januar 2011 in Gent freuen (übrigens nach dem Stand von heute auch mit M. Papatanasiu als Semiramide!).
Und noch ein Tipp für alle Radiohörer via Internet oder Satellitenschüssel: 
Der flämische Sender Klara bringt einen Mitschnitt dieser Semiramide am kommenden Samstag (18.12.) um 19 Uhr. Nicht verpassen!!
Wer diese insgesamt lohnende Aufführung live erleben möchte, hat dazu noch an folgenden Tagen Gelegenheit:
am 17., 19., 22. und 26. Dezember 2010 in Antwerpen sowie
am 14., 16. und 19. Januar 2011 in Gent.


Walter Wiertz (Besuchte Aufführung am 12.12.10)

2 Kommentare:

  1. Danke Walter, für diese umgehende Premierenkritik. Die Teilnehmer der Jahreshauptversammlung der Deutschen Rossini Gesellschaft können sich also auf jeden Fall in musikalischer Hinsicht auf eine tolle Aufführung freuen!

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  2. Ja – die „Semiramide“ hat sich gelohnt! Animiert von der Premierenkritik haben wir uns am 19.12.2010 durch Schnee und Eis von Bochum nach Antwerpen gekämpft und wurden dort durch eine phantastische Aufführung belohnt. Im Gegensatz zum musikalisch Gebotenen kann die Regiearbeit durchaus Diskussionen auslösen. Die Kostümierung wurde von uns als etwas eindimensional bzw. teils nicht nachvollziehbar empfunden. Großartig dagegen die Personenführung, bei der Solisten wie auch Choristen geschickt und sinnstiftend mit in die Verwandlung des Bühnenbildes einbezogen wurden. Alberto Zedda war wieder einmal der Magier am Dirigentenpult, der dem Orchester eine unglaubliche Klangdichte entlockte und die Solisten wie auch den Chor(!) zu den Höchstleistungen führte, die eine solche Grand Opéra nun einmal erfordert.

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