14. September 2009

Das 30. Rossini Opera Festival in Pesaro

Der folgende Bericht über die diesjährigen Opernproduktionen in Pesaro
- Zelmira, La scala di seta und Le Comte Ory -
ist mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem
Mitteilungsblatt der Deutschen Rossini Gesellschaft
(DRG) übernommen


Die Erfolgsgeschichte des ROF beruht nicht zuletzt auf der konstanten Neuentdeckung unbekannter Werke bzw. auf der Erstpräsentation der kritischen Ausgaben der Fondazione Rossini. Zu dem stolzen Jubiläum hätte man sich zumindest eine „Ausgrabung“ gewünscht. Und tatsächlich stand die Fondazione Rossini mit Sigismondo bereit, und das ROF hatte die Oper sogar bereits angekündigt. Doch dann schlug unerwartet der italienische Staat zu, der mit einer kurzfristigen und drastischen Kürzung seiner Zuschüsse eine radikale Programmänderung auslöste. Sigismondo wich der Scala di seta, einem chorlosen Einakter, der als „low cost“-Produktion alternierend mit dem bereits gesetzten Comte Ory im Teatro Rossini montiert werden konnte. Als Glanzpunkt verblieb Zelmira – mit der alternativen Pariser Fassung – in einer neuen Inszenierung in der Adriatic Arena, die dieses Mal nicht in zwei, sondern nur in ein Theater umgewandelt wurde. Vielleicht ist diese auf „höherer Gewalt“ beruhende Programmierung sinnbildlich für die nächsten 30 Jahre des Festivals: bald werden alle Opern des Meisters in Pesaro erstaufgeführt sein, es gilt also wie bei „gewöhnlichen“ Festivals den Spielplan aus dem bestehenden Repertoire zu alimentieren.



Zelmira
ist kürzlich in der endgültigen kritischen Ausgabe erschienen. Grund genug, dieses wichtige Werk wieder auf die Bühne zu bringen. Zuletzt war sie beim ROF 1995 im Teatro Rossini in einer eher anonymen Inszenierung von Yanni Kokos zu sehen. Für die neue Produktion in der Adriatic Arena hat man Giorgio Barberio Corsetti berufen, der 2007 mit einer cinematographischen Pietra del paragone in Parma und Paris aufgefallen war (vgl. den Bericht von Charles Jernigan, «Mitteilungsblatt» Nr. 40, Februar 2007). Seine Zelmira lässt sich aus technischer, dramaturgischer und ästhetischer Hinsicht betrachten. Technisch gab es einige durchaus interessante und überzeugende Effekte, z.B. durch die Spiegelung einer sich unter der Bühne abspielenden Handlung auf den Theaterhintergrund oder durch die Projizierung der Personen in verschiedenen Größenverhältnissen. So wurde z.B. die übergroße Zelmira auf den Hintergrund gebeamt, wenn Antenore sie in seiner großen Arie anklagt. Beeindruckend war die Wirkung im Quintett des 2. Aktes, wenn die erbärmlich kleinen Gefangenen Zelmira und Polidoro von einem übermächtigen Tyrannen Antenore auf dem Hintergrundbild „zerquetscht“ werden. Dramaturgisch überzeugten die Auf- und Abgänge (wie überhaupt die Führung des Chores und der Solisten, denen freilich ein adäquates „Rampensingen“ nicht genommen wurde), die nicht leicht zu inszenierende „Action-Handlung“ der Dolchszene im 1. Finale oder der plötzliche Umschwung im Finale II, wenn die „Guten“ unvermittelt – durch Ausleuchtung der Bühne hinter dem Spiegel – das Gefängnis stürmen. Es gab einige schöne oder auch nur mehr oder weniger verständliche symbolische Szenen. Während des Terzetts in der Gruft rieselt plötzlich der Sand weg, der die drei umge­stürzten griechischen Statuen bedeckte, worauf diese sich in der Höhe erheben und schwebend im Raum tanzen – vielleicht kann man dies als „Restauration“ der alten Herrscher deuten. Im 1. Finale wird Zelmiras Baby – der legitime Thronfolger – auf den Thronsessel gelegt, der kurz zuvor von Antenore usurpiert wurde, worauf die im Hintergrund sichtbaren Buchstaben ψευδος [pseudos] krachend zu Boden fallen. Auch die Befreiungsszene ist von einer fideliohaften Suggestionskraft. Barberio Corsetti beweist auch, dass er sich intensiv mit der neueren Forschung auseinandergesetzt hat und jenen altgriechischen Mythos aufleben lässt, den Tottola in seinem Libretto nur euphemistisch beibehalten hat, nämlich „das unnatürliche Bild eines Alten, der an der Brust seiner jungen Tochter hängt“ (Renato Raffaelli, Tracce di allattamento filiale, «Bollettino del Centro Rossiniano di Studi», XXXVI, 1996, S. 45-66: 64) – im Mythos rettet die Tochter ihren Vater dadurch, dass sie ihn mit der Milch nährt, die sie zum Stillen ihres Kleinkindes in der Brust trägt. Dadurch betont der Regisseur Zelmiras Rolle als „consorte, figlia e genitrice“ (I/6 – „Gattin, Tochter und Mutter“). Keine überzeugende Lösung fand der Regisseur hingegen für den bereits im Libretto wenig einleuchtenden Umstand, dass Zelmira ihren Mann nicht über die Vorfälle während seiner Abwesenheit und ihre Unschuld informieren kann: im Hintergrund bewegen sich zwei Wachen, die sie von Ilo ohne weiteres wegschicken lassen könnte, um mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Die „Sprachlosigkeit“ der Frau ist etwa so bemüht wie jene Amenaides bei ihrem Wiedersehen mit Tancredi: Ein Wort würde genügen, um die ganze Problematik aufzulösen – verständlich, dass dies nicht passieren darf, weil die Oper ja abendfüllend sein soll, aber weder der Librettist noch die Regisseure finden dafür ein plausibles Motiv.

Bei soviel technischer Innovation, dramaturgischem Geschick und ehrenhafter Textdeutung war es ein schwer zu verdauender Makel, dass sich der Regisseur in ästhetischer Hinsicht völlig ver­griff. Während die Kostüme im Allgemeinen einer nicht genau definierbaren Epoche angehören, fiel ihm für die Soldaten nichts Besseres ein als die abgeschmackten und zum Überdruss gesehe­nen Kampftruppen mit ihren MGs – absurd war dabei auch, dass sich in dieser Hightech-Bewaffnung die persönlichen Attentate und Verteidigungen mit einem Dolch vollziehen. Völlig anti-rossinianisch war sodann die vom Anfang bis zum Schluss herrschende Dunkelheit aller Szenen, als ob sich die ganze Oper nachts oder im Untergrund abspielen würde, wo doch gerade Rossinis Musik von Kontrasten lebt. Da genügte auch eine golden leuchtende Wand im Thronsaal nicht als Lichtblick. Den Gipfel an Geschmacklosigkeit erreichte Barberio Corsetti aber mit einer anti-klassischen Einblendung von blutverschmierten Kadavern, expliziten Andeutungen an stattge­fundene Vergewaltigungen, Folterszenen à la Abu Ghraib – und dies vor allem während der schönsten musikalischen Szenen von Ilo: Der Startenor Juan Diego Flórez wurde sozusagen dazu prostituiert, seine freudig-erotische Arie vor diesem grässlichen Hintergrund abzusingen, was dem Publikum mit Rücksicht auf seine Kunst den Protest gegen die Szene verbot. Der Regisseur zeigte damit Bilder, die das klassische Theater ad absurdum führen, und hob den (musik)drama­turgischen Kontrast zwischen der Arie des hoffnungstrunken heimkehrenden Kriegers und dem folgenden, bedrückenden Duett des Wiedersehens auf. Die Quittung bekam der unbedarfte Regis­seur am Ende der Premiere, als er gnadenlos ausgebuht wurde. Leider konnten die Zuschauer der folgenden Aufführungen ihrem diesbezüglichen Unmut keine Luft machen, da sich Regisseure – im Gegensatz zum restlichen Ensemble – nach der Premiere bekanntlich verdrücken.

Musikalisch wurde vom Feinsten geboten. Nach der bereits erfolgreichen Ermione im letzten Jahr zeigte Roberto Abbado mit dieser Zelmira eine noch gereifte und rundum überzeugende Stabführung, die nicht nur den dramatischen, sondern auch den lyrischen Momenten gerecht wurde, während er wiederum die reiche Orchestrierung meisterhaft herausarbeitete. Das Orchestra del Teatro Comunale di Bologna bestätigte den Erfolg seiner Verjüngung und spielte unter Abbados Leitung ausgesprochen klangschön und mit solistisch überzeugenden Partien. Die Bühnenmusik aus dem Hintergrund der Adriatic Arena sorgte für ausgezeichneten Klangeffekt. Als homogene Ergänzung fungierte dieses Mal der einheimische Chor des Teatro Comunale (der traditionelle Prager Kammerchor war mit dem Ory und der Petite Messe betraut). Mit Juan Diego Flórez stand der unbestrittene Champion für die „David“-Rolle des Ilo an der Rampe, freilich getrübt durch den Wermutstropfen der Inszenierung, die keinen umfassenden Theatergenuss aufkommen ließ. Gregory Kunde zeigte bei der Premiere in der Introduktion die schon bekannten Zerfallserscheinungen seiner Stimme, aber es gelang ihm wiederum auf wundersame Weise, sowohl innerhalb der Premiere wie auch der ganzen Aufführungsserie darüber zu triumphieren. Bei der dritten Aufführung ließ sich das Publikum auch den Applaus nach der Introduktion nicht nehmen, und am Schluss erhielt der alte Kämpe sogar mehr Zustimmung als der Publikumsliebling – was angesichts der höllisch schweren Partie des Antenore auch gerechtfertigt war. Diesem Tyrannen stand als Bösewicht Leucippo in Mirko Palazzi ein ausgezeichneter Bass zur Seite. Der junge Bass Alex Esposito meisterte als Polidoro den Hochseilakt einer gebrechlichen Rollengestaltung mit einer kraftvollen stimmlichen Präsenz in hervorragender Weise. Marianna Pizzolata war eine exzellente Emma. Die eigentliche Entdeckung war aber Kate Aldrich in der Sopranrolle der Zelmira (geschrieben für Isabella Colbran), eigentlich ein Mezzosopran mit eher heller Färbung und ausgesprochen sauberen Höhen und einer natürlichen Rollengestaltung, die sie vom Manierismus einer Ganassi abhebt.
Alle Sänger bedienten sich in den musikalischen Wiederholungen Verzierungen, die freilich manchmal etwas hölzern wirkten.

Als Zelmira am 14. März 1826 am Théâtre Italien in Paris zur Aufführung kam, brachte Rossini selbst einige Änderungen an. Er strich die Arie des Antenore (die Bordogni wahrscheinlich adäquat gar nicht hätte meistern können), während er die in Wien für Fanny Eckerlin hinzugefügte Arie der Emma von Amalia Schütz singen ließ. Komplexere Anpassungen nahm er nach dem großen Quin­tett für die Kerker- und Befreiungsszene am Schluss der Oper vor. Es darf vermutet werden, dass Giuditta Pasta, seine neue Zelmira, gerne eine Auftrittsarie gehabt hätte, aber Rossini konnte sie wohl für eine andere Lösung gewinnen. Er schrieb ihr eine umfangreiche Arie kurz vor dem zwei­ten Finale. Das einleitende Gebet „Da te spero, o ciel clemente“ (einst von Marilyn Horne unter Alberto Zedda eingespielt) schrieb er ex novo, die anschließende Brückenpassage und die Caba­letta sind eine Bearbeitung der Gran Scena der Ermione. Das ursprüngliche Rondò Finale der Zel­mira mutierte er zu einem Vaudeville für das legitime Herrscher-Trio Zelmira, Polidoro und Ilo. Die Spuren dieser Überarbeitung sind sowohl im Autograph von Zelmira wie auch von Ermione sicht­bar, und die kritische Ausgabe ermöglicht durch die vollständige Rekonstruktion nun auch eine Aufführung der Pariser Fassung. Während das ROF sowohl an den Arien des Antenore und der Emma festhielt, folgte man im Finale erstmals dieser Pariser Fassung, und genau diese Erprobung alternativer Lösungen macht auch weiterhin den Reiz dieses Festivals aus, wenn die Entdeckung ganzer Opern vollzogen sein wird. Hier zeigte sich, dass Rossinis Lösung die sängerischen und gestalterischen Möglichkeiten der Pasta mit einer romantisch-hybriden Gefühls- und Powerarie zur Geltung brachte und nach einem abrupten Wechsel zum Vaudeville auch der Tenor (Rubini/Flórez) in einer Finale-Strophe nochmals zur Geltung kommt. Unvergessen und unerreicht bleibt aber die klassizistische Schönheit des Rondò, indem die Titelheldin der Oper ihr Siegel aufdrückt.




Die Reaktionen auf die Inszenierung von La scala di seta waren sehr geteilt, während Zapata als Dorvil und Scimone als Dirigent einhellig abgeurteilt wurden. Ich besuchte die letzte Aufführung, bei der sich in musikalischer Hinsicht offenbar einiges eingerenkt hatte. Nicht dass die sehr schwierige und eher undankbare Tenorrolle die ideale Partie für Manuel José Zapata wäre, aber zumindest bei dieser Abschlussvorstellung meisterte der Spanier seine Arie ehrenhaft. Das Dirigat von Scimone war zügig, und größere Koordinationsprobleme zwischen Orchester und Stimmen blieben aus. Scimone war allerdings als Rossini-Dirigent schon immer umstritten, unbestritten sind aber auch seine große Hingabe für Rossini und seine – vor allem diskographischen – Pioniertaten während der Rossini-Renaissance der 1980er-Jahre (Armida, Mosè in Egitto, Ermione, Maometto II, Zelmira). Das ROF zollte zu seinem 30jährigen Jubiläum also einem Mitstreiter seiner Geschichte Tribut, auch wenn dieser seinen Zenit inzwischen überschritten hat. Als Giulia wirkte die bildhübsche Olga Peretyatko (eine Art Netrebko des Rossinis-Gesangs), deren Stimme freilich bei genauerem Hinhören an Reinheit verloren hat, ohne dass die Sängerin ausdrucksmäßig gewonnen hätte. Paolo Bordogna lieferte als „asiatischer“ Diener Germano eine hervorragende Rollengestaltung ab, die auch stimmlich stimmig war, wenngleich der Sänger nicht über ein großes Raffinement verfügt; ihm gebührt eigentlich die Buffo-Hauptrolle, die ihm aber auf dramaturgischer Ebene streitig gemacht wurde, indem für Blansac die Konzertarie „Alle voci della gloria“ (hier als „Alle voci dell’amore“) eingeschoben wurde, wodurch nicht nur die Rollenprofile verändert wurden, sondern auch die einaktige Farsa zu einem Pseudo-Zweiakter mit Pause aufgebläht wurde. Dabei hat Carlo Lepore, den ich als „Comprimario“ sehr schätze, eigentlich genau die richtige Statur für den Original-Blansac, während die große Bassarie fast eine Nummer zu groß ist für ihn. Dem Regisseur blieb auch nicht viel anderes übrig, als den Einschub als „Theater im Theater“ zu inszenieren. Kurzum: Ich finde es schade, unnötig und inkohärent, diesen Einakter so aufzumotzen. Anna Malavasi als Lucilla konnte sich in ihrer Arie ihres korsettierten Sekretärinnelooks entledigen und sich richtig frei singen.

Vielleicht macht es keinen Sinn, die Geschichte einer heute ziemlich unwahrscheinlichen heimlichen Ehe in die Jetzt-Zeit zu verlegen, aber abgesehen davon konnte ich der „Ikea“-Inszenierung von Michieletto einiges abgewinnen. Das Ganze spielte in einem Möbeldesigner-Interieur (eine Art Hommage an den offiziellen ROF-Sponsor, den Pesareser Küchenbauer Scavolini?), wobei die Idee offenbar von dem Wort „Scala“ ausging – nicht im Sinne von „Leiter“ sondern von „Maßstab“. In der Tat spielte die Handlung auf einer Wohnungsskizze im natürlichen Maßstab („Scala 1:1“), die möbliert war, während die im Plan eingetragenen Türen und Wände von den Akteuren nur mimisch beachtet wurden. Der Regisseur sprudelte über vor Ideen, die den musikalischen Fluss unterstrichen, ohne dass die Gags ins Triviale abglitten. So wurde ich vor Geschmacklosigkeiten wie einer Sitzung auf dem „Thron“ gewarnt, aber es stellte sich dann heraus, dass auf der Toilette kein Geschäft verrichtet wurde, sondern der von Giulia versteckte Dorvil im Badezimmer eben nur diese Sitzgelegenheit (bei geschlossenem Deckel) vorfindet. Einzig auf die reale Abduschung im großen Ensemble hätte Michieletto verzichten können (er scheint an einer krankhaften Vorliebe für das flüssige Element zu leiden, wie schon seine Gazza-Inszenierung zeigte). Einige Ideen waren durchaus situationsgerecht, etwa wenn Blansac im Quartett als Beweis für seine Eignung als Ehemann zu kochen beginnt.




Genauso gleichgültig wie 2003 ließ mich die Inszenierung des Comte Ory von Lluís Pasqual, der es offenbar nicht schicklich fand, die Handlung einfach in dem vom Libretto vorgesehenen Mittelalter anzusiedeln, und in Ermangelung besserer Ideen zu dem abgenutzten Trick Zuflucht nahm, der der billigste ist, den das Musiktheater inzwischen zum Überdruss kennt: Oper in der Oper zu inszenieren. Da vor sechs Jahren diese Absicht aber niemand so richtig verstanden hatte, ergänzte er nun seine Inszenierung durch eine Vorhangsbeschriftung, die darauf hinweist, dass sich „heute Abend im Hotel Rossini ein Gesellschaftsspiel abwickelt, bei dem die Gäste die mittelalterliche Komödie des Grafen Ory inszenieren“. Raimbaud wird in die Rolle des Hoteldirektors gesteckt, der das Ganze leitet. Diese „originelle“ Doppelbödigkeit nützte aber dem Stück nicht, sondern schadet ihm, da das Groteske der Handlung nunmehr nicht mehr „echt“, sondern nur noch „gespielt“ ist und die handelnden Personen mithin von den Verkleidungen ihrer Gegenspieler wissen. Dabei gelingt es auch nicht, die Beziehungen unter den „realen“ Personen, also den Hotelgästen zueinander, mit Leben zu erfüllen. Wenn Isolier sich in der meisterhaften Liebesszene zu dritt als „reale“ Frau erweist, die den Jüngling nur spielt, ist die ganze erotische Vielschichtigkeit dieser Hosenrolle zerstört.

Als große Entdeckung wurde von einem Teil des Publikums der Tenor Yijie Shi als Ory gefeiert, nachdem er schon letztes Jahr in der Accademia-Viaggio den Belfiore erfolgreich gesungen hat. Ich fand die Stimme quäkig und unausgereift und ohne jegliche Autorität für diese anspruchsvolle Rolle. Wenn man dem Sänger eine große Zukunft voraussagt, so hätte man lieber noch ein paar Jahre gewartet, bis man ihm eine solche tragende Rolle anvertraut. Für mich wirkte die ganze Aufführung nicht zuletzt wegen dieser Titelrollenbesetzung wie eine unreife Schülervorstellung. Leider musste bei der letzten Aufführung Lorenzo Regazzo als Gouverneur forfait geben, und sein Ersatz Raffaello Costantini war eine stimmliche und aussprachlich unangenehme Notlösung. Keinen besonderen Eindruck hinterließ Laura Polverelli als Isolier, während Roberto De Candia einen ganz ordentlichen Raimbaud bot. Wirklich überzeugt hat mich an diesem Abend nur María José Moreno als Comtesse, mit ihrem sauberen, farbigen Sopran, der auch in der unteren Lage Konsistenz aufweist. Ansprechend das Dirigat von Paolo Carignani, der diese Musik mit dem richtigen Esprit anging und sie sauber einstudierte, ganz im Gegensatz zur hingepfuschten Petite Messe solennelle, die er als Abschlussvorstellung wie einen Walkürenritt durchpeitschte.

Reto Müller
Besuchte Aufführungen: 12., 15., 18. Aug. (Zelmira), 18. Aug. (La scala di seta), 19. Aug. (Le Comte Ory)

Fotos: ROF

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