29. Dezember 2008

Rossini und die Eisenbahn

Ergänzt am 30. Dezember!

Foto: rm
Rossini-Konzert im Straßenbahnmuseum
Thielenbruch (1.6.2007)
Rossini-Projekt des WDR









Nicht erst Arthur Honegger beschrieb mit
"Pacific 231" (1923) musikalisch eine Eisenbahnfahrt, sondern auch schon Gioachino Rossini in seinem Klavierstück Un petit train de plaisir comico-imitatif, enthalten im Band 7 der Péchés de vieillesse (Sünden des Alters). Die ab 1857 entstandenen Péchés de vieillesse sind eine Sammlung von mehr als 160 Kompositionen (Klavierstücke, Lieder, Chorwerke und Kammermusik), - darunter zahlreiche Parodien, die alles Mögliche und Unmögliche in Musik setzen: von kulinarischen Köstlichkeiten(z. B. vertonte Vorspeisen) über Hygieneverrichtungen und gymnastische Übungen, über den hinkenden Walzer und den Walzer des Rhizinusöls zum herrlich lautmalerischen Chanson du Bébé. Un petit train de plaisir schildert mit viel Lautmalerei und schwarzem Humor ein Eisenbahnunglück, - der Vergnügungszug entgleist, und es gibt sogar Tote, von denen einer in die Hölle (absteigendes Arpeggio), ein anderer ins Paradies (aufsteigendes Arpeggio) kommt. Nach einem ernsten Trauergesang steht am Ende ein fröhlicher Walzer zum angeblich heftigen Schmerz der Erben. Rossini selbst hat die Zwischentexte, die im folgenden Beitrag als Kapitelüberschriften dienen, in die Noten eingefügt. Der im Text erwähnte Ferdinand Hiller war ein deutscher Komponist, Dirigent und Musikschriftsteller. Seine „Plaudereien mit Rossini“ sind als Band 1 der Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft erschienen.
esg


Rossini und die Eisenbahn

En avant la machine (Vorwärts marsch)

Für Rossini war die Eisenbahn der Inbegriff der modernen Zeit, deren Ideale ausschließlich auf Dampf, auf Raub und auf Barrikaden ausgerichtet waren. Doch dem war nicht von Anfang an so. Seine erste (und einzige nachgewiesene) Bahnfahrt unternahm er 1836 auf der neuen Linie zwischen Antwerpen und Brüssel in Begleitung der Bankiersfamilie Rothschild, die zu den frühesten Financiers der Eisenbahnen in Frankreich gehörte. Im Gegensatz zur Legende, wonach er durch die Schrecknisse der Fahrt mehrere Tage an nervöser Erschöpfung gelitten haben soll, zeigte er sich seiner Freundin und späteren zweiten Frau Olympe Pélissier gegenüber in einem Brief beeindruckt über die kurze benötigte Reisezeit und fügte an, keinen Augenblick lang Angst verspürt zu haben!

Terrible Deraillement (Schreckliche Entgleisung)

Die späteren Dokumente belegen aber eindeutig seine Abneigung gegen die Eisenbahn. Wir wissen nicht, ob ein besonderes Ereignis oder sein desolater psychischer Zustand der 1840er- und 1850er-Jahren dazu führten. Möglicherweise hatte das schwere Eisenbahnunglück von 1842 bei Meudon (Versailles), dessen Bilder durch die Presse gingen und sogar in Öl gemalt wurden, seine Wirkung auf ihn nicht verfehlt: Allein der fiktive Gedanke, selbst in diesem Zug mitgefahren zu sein, hätte den hypersensiblen und ängstlichen Kranken schockiert.
Als Rossini 1855 nach Frankreich aufbrach, nahm er sich vier Wochen Zeit und einen eigenen Wagen und Postpferde, um von Florenz nach Paris zu reisen. Spöttisch vermerkte die von Robert Schumann geleitete «Neue Zeitschrift für Musik»: „Eigensinnig, wie Rossini immer gewesen, habe er erklärt, weder zu Schiff, noch mit der Eisenbahn zu reisen, sondern sich nur einem ‘Hauderer’ [Lohnfahrer] anzuvertrauen!“ Rossinis Abneigung gegen den Zug wurde dermaßen sprichwörtlich, dass er selbst sich seinem Freund Hiller gegenüber empörte: „Diese Journalisten! Da hat einer drucken lassen, als ich kürzlich von Paris abreiste, mir sei die Eisenbahn fast ebenso zuwider als die deutsche Musik! Was meinen Sie dazu?“ „Dass Sie viel auf der Eisenbahn reisen würden, wenn es wahr wäre, lieber Maestro“, erwiderte Hiller. Demselben Hiller schrieb Olympe bezüglich der Durchreise über Frankfurt folgenden Satz, der Rossinis (und ihre eigene?) Angst vor der Bahn verdeutlicht: „Man sagt, dass es von Köln nach Frankfurt nur wenige Stunden sind; Sie, der Sie die Eisenbahn nicht fürchten, könnten Sie nicht herkommen, um Ihren Rossini zu umarmen?“.
Dem Fotografen Nadar in Paris erteilte der Komponist die schriftliche Erlaubnis, sein Konterfei für Karikaturen zu Pferd, im Wagen, sitzend, stehend usw. zu verwenden, „aber ich schließe die Eisenbahn und den Luftballon ausdrücklich aus, da man mich darin nicht erkennen würde.“
Seinem Lieferanten von Gorgonzola-Käse, dem Marchese Antonio Busca in Mailand, schrieb Rossini aus Paris: „Wenn der Fortschritt der Beleuchtung (aus Öl) nicht die Pferde und die Kutscher überflüssig gemacht hätte, ich würde per Post zu Ihnen fahren und Ihnen persönlich danken.“ „Ach verfluchte Eisenbahnen! Ihr verhindert es, mich nach meinem Herzenswunsch nach Mailand zu begeben, um die Hände und Füße meines geliebten Marchese Busca zu küssen!“

Douce mélodie (Sanfte Melodie)

Wenn verbal und praktisch die Ablehnung der Eisenbahn offensichtlich ist, so war sein Verhältnis in finanzieller Hinsicht ein ganz anderes. Der Geschäftsmann Rossini scheute sich nicht, die von ihm verhasste technische Erfindung zu fördern, wenn sie Gewinn abwarf. Sein beträchtliches Vermögen legte er teilweise in Obligationen der Chemins de fer d’Orléans sowie der Chemins de fer Paris-Lyon-Méditerranée an. Das mochte freilich auch damit zusammenhängen, dass zahlreiche seiner einflussreichen Freunde aus Adels- und Finanzkreisen, in Italien wie in Frankreich, zu den Promotoren, Förderern und Geldgebern der gesellschaftlich und ökonomisch so folgeträchtigen Erfindung gehörten. Dem Advokaten Leopoldo Pini in Florenz vermittelte er als Dank für seine Treuhandtätigkeit den Sekretärenposten bei der Toskanischen Eisenbahn. Im Gegensatz zu seiner eigenen Person vertraute er die wertvollen Umzugsgüter, die er nach Paris kommen ließ, dem Dampfschiff und der Eisenbahn an - freilich nicht ohne vorher eine Versicherung abgeschlossen zu haben.

Sifflet satanique (Teuflisches Pfeifen)

Als sich Rossini ein Grundstück für den Bau einer Villa in Passy aussuchte, fiel die Wahl auf ein Terrain in der Form eines Flügels; er nahm dabei sogar die angrenzende Eisenbahnlinie Paris-Auteuil in Kauf, deren gebogene Linienführung überhaupt erst zur Form des Tasteninstruments führte. Als ihn 1867 Max Maria von Weber, der Sohn des berühmten Komponisten des Freischütz, dort besuchte, kam das Thema fast zwangsläufig auf die Eisenbahn. Weber berichtete: „Mehrmals unterbrach der grelle Pfiff der Lokomotive, der von der nahen Station Passy herüberschallte, schneidend unser Gespräch, so daß ich zuletzt ausrief: ‘Wie peinlich muß dieser modernste aller Mißtöne Ihr musikalisches Ohr berühren.’ ‘Oh, glauben Sie das nicht’, erwiderte er mit leisem Kopfschütteln, indem ein bis dahin noch nie von mir gesehenes, wehmütiges Lächeln über seine Züge glitt; ‘dieses Pfeifen erinnert mich stets an meine goldenste Jugendzeit. Mein Gott, was habe ich in meinen ersten Opern, in der Cenerentola und Torwaldo und Dorliska pfeifen hören.’“ Vielleicht hätte Rossini bei dieser Gelegenheit gerne auf die Eisenbahn losgewettert, aber er hatte es bei seinem Gast mit einem weltweit anerkannten Spezialisten für Eisenbahnwesen zu tun!

On ne m’y attrapera pas (Darauf fall' ich nicht herein)

So blieb denn Rossinis Verhältnis zur Eisenbahn zwiespältig und ebenso janusköpfig wie sein komisch-imitierender Vergnügungszug in der musikalischen Fassung: Tout cela est plus que naïf, mais c’est vrai! (Das ist alles mehr als naiv, aber es ist wahr!).

Reto Müller
Geschäftsführender Vorsitzender
Deutsche Rossini Gesellschaft

Überarbeitete Fassung des im Programmheft Auf den Schienen der Poesie, Literarisch-musikalische Soirée. Melodien und Texte zur Eisenbahn (Bad Wildbad, Rossini in Wildbad, 1993) erschienenen Artikels. Ich danke für die freundliche Genehmigung des Verfassers zur Veröffentlichung in unserem Belcantoblog.

Ergänzung!
Hartmut hat auf folgende Verhaltensregeln für Bahnbenutzer hingewiesen, die der im Artikel genannte
Max Maria von Weber, Eisenbahningenieur und sächsischer Eisenbahndirektor, 1854 verfasst hat:

„Ein sehr guter allgemeiner Grundsatz ist, seinen Sitzplatz inne zu behalten, um ihn nicht eher zu verlassen, bis man am Orte seiner Bestimmung angelangt ist. Wenigstens steige man so selten wie möglich aus.
Man wähle sich seinen Platz wo möglich in einem Wagen in oder doch wenigstens so nahe als möglich an der Mitte des Zuges.
Im Wagen sitzend hüte man sich, die Beine unter den gegenüberliegenden Sitz zu stecken oder sonst ein Glied des Körpers an seiner Beweglichkeit zu hindern. Erläuterung: Bei jedem raschen Geschwindigkeitswechsel kann es geschehen, dass der Körper nach vorn oder rückwärts im Wagen geworfen wird. Dies wird meist harmlos vorübergehen, wenn er sich frei vom Platze bewegen kann, während im Gegenteile Knochenbrüche oder Quetschungen die Folge sind.
Während der Fahrt halte man keine Stöcke oder Schirme vor sich im Wagen, noch weniger bringe man sie an den Mund oder stütze den Kopf darauf. Erläuterung: In Folge rascher Verminderung der Geschwindigkeit ist ebenfalls schon oft Einstoßen von Zähnen, Gaumen etc. herbeigeführt worden. Ebenso ist es nicht rätlich, auf der Reise aus Pfeifen zu rauchen, die ähnliche Vorfälle herbeiführen können.
Man meide das Fahren in Coupés mit bloß einer Reihe von Sitzen, die den Reisenden gegenüber Glasfenster haben, damit der Reisende nicht an die Scheiben geworfen werde.“

Quelle: Texte und Bilder zur Eisenbahn

Dieses Buch von Max Maria von Weber ist bei Google
komplett digitalisiert: Die Schule des Eisenbahnwesens (1862)







Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des Belcantoblogs einen guten Start ins neue Jahr!

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