Die Oper des damals 27-jährigen Rossini wurde am 27. März 1819 in Neapel mit geringem Erfolg uraufgeführt. Nach wenigen Aufführungen wurde der zweite Akt vollständig gestrichen. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Oper wieder entdeckt und erlebte zumeist konzertante Wiederaufführungen, vornehmlich im angelsächsischen Raum.
In Deutschland sangen 1995 unter dem Dirigat Gustav Kuhns im Berliner Konzerthaus Daniela Longhi, Rosanna Mancarella, Patrizio Saudelli, Gianluca Floris und Enrico Facini. Die drei letztgenannten Tenöre hatten zuvor eine Saison lang am Staatstheater Braunschweig im „Otello“ von Rossini geglänzt. Damals wurde eine, derzeit noch nicht abgeschlossene, neue Entwicklung in der Ausbildung junger Sängerinnen und Sänger im Belcanto-Gesang vorangetrieben. Auch in Italien, dem Mutterland des Belcanto, fehlte weitgehend die entsprechende Ausbildung. Heute kann man davon ausgehen, dass in den Hochburgen des Belcanto die alte Technik des Schöngesangs wieder beherrscht wird.
Nun wird im Programmheft des Rossini Opera Festivals von 2008 stolz gefeiert, dass zumindest „Oreste“, einer der männlichen Hauptsänger in der Ermione, von Antonino Siragusa, einem Italiener, gesungen wird. Pirro wird von Gregory Kunde, einem Amerikaner, verkörpert, in der wichtigen Nebenrolle des Pilade hat es der deutsche Tenor Ferdinand von Bothmer auf die Bühnenbretter von Pesaro geschafft.
Die Handlung der Oper gemahnt an Mozarts Oper „Titus“ – die römische Fassung einer Tragödie, in der eine jeweils vor Eifersucht und Enttäuschung rasende Frau – Vitellia bei Mozart, Ermione bei Rossini - einen Mord befiehlt, den Sextus (in „Titus“) bzw. Oreste bei Rossini ausführen sollen.
Wenn eben von „Belcanto“-Schöngesang, die Rede war, so sprengt die „Ermione“ Rossinis, deren Libretto auf eine Tragödie Racines zurückgreift, das einer typischen italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts und auch einer „klassischen“ Rossini-Oper vorgegebene Muster in jeder Weise:
In der Ouvertüre singt ein unsichtbarer Männerchor, die Musik ist fast expressionistisch und nimmt phasenweise in ihrer Schärfe des Stils bereits Verdi und bei den zarten romantischen Bögen Bellini voraus. Die Hauptsängerin, zur Rossinizeit die Spanierin Isabella Colbran, welche Rossini selbst nicht nur als seine beste Sängerin, sondern auch als vorzügliche Schauspielerin schätzte, hat zum Schluss des ersten und auch des zweiten Aktes nicht die üblichen effektvollen letzten Töne zu singen, und außerdem wurde ihr, jedenfalls in Bezug auf die Oper „Mosé in Egitto“ von der zeitgenössischen Kritik vorgeworfen, sie singe „troppo laceranti le grida“ – „das Ohr zerreißende Schreie“ heißt es da wörtlich. Das mag auch für die „Gran Scena“ der Primadonna im zweiten Akt der „Ermione“ gelten, dort hat sie als enttäuschte und eifersüchtige Verlobte des Königs Pirro eine in sieben Teile gegliederte lange Arie, welche 69 Seiten des Autographs umfasst, zu bewältigen. Sie bringt so widersprüchliche Gefühle wie Liebe, Todessehnsucht, Eifersucht und Wut über ihre Demütigung in exaltierter Weise zu Gehör.
Rossinis eigene Befürchtung bereits vor der Premiere, die Oper könne „zu tragisch“ sein, mutet heute sonderbar an, war aber nicht unbegründet, da damals auch bei dem häufiger vertonten Stoff dieser Oper ein völlig unpassendes heiteres Ende zurechtgebogen wurde. Rossini wollte mit „Ermione“ etwas Außergewöhnliches schaffen, und das ist ihm gelungen. Allerdings bewirkt die Abweichung von der Tradition – wenige Ensembleszenen, wenige zündende Arien und stattdessen ein ständiges Auftrumpfen der überaus geforderten Hauptsänger – damals wie heute, dass selbst eingefleischte Rossini-Fans mit dieser Oper wenig anfangen können. Für mich stellte sie die schönste und aufregendste Inszenierung dieses Festivals dar. Ich wünsche der Oper eine wirkliche Renaissance.
Für die Oper werden in erster Linie grandiose Sängerschauspieler benötigt, in Pesaro gab es sie. Gregory Kunde überzeugt besonders im zweiten Akt und zeigt sängerisch mit der Stimme eines wahren Baritenore und darstellerisch die Zerrissenheit des Königs Pirro, der sich sehr wohl der Brisanz seiner unerwiderten Liebe zur schönen trojanischen Witwe und Mutter Andromaca, bewusst ist und zwangsläufig seine stolze Verlobte Ermione zurückstoßen muss. Als Otello machte Gregory Kunde im letzten Jahr in Pesaro noch mehr Eindruck auf mich. Da, wo er feurig die königlichen Koloraturen abfeuert, füllt seine schöne Stimme das Haus; seine lyrischen leisen Töne als die Sklavin Andromaca umwerbender Pirro gefielen mir dagegen nicht so recht. Das Publikum spendete ihm dennoch begeisterten Beifall.
Antonino Siragusa hielt mit starkem, in jeder Lage strahlendem „dramatischem" Tenor die schwierige Partie des Oreste bis zum Ende durch. Man nahm ihm die glühende bedingungslose Liebe zu Ermione ab und litt mit ihm, als er einwilligte, den ihm aufgezwungenen „Mord aus Liebe“ an König Pirro auszuführen, obwohl die sprungbereit im Hintergrund noch angeleint lauernden Erinnyen – kauernde Wesen mit schwarzen Hundeköpfen – bereits Unheil ankündigten.
Sonia Ganassi als Ermione sang makellos mit vollem Sopran und agierte mit viel Gefühl. Unglaublich, welche Kraft für diese Rolle vonnöten ist!
Eine weitere Hauptrolle fällt der Andromaca, makellos von Marianna Pizzolato verkörpert, zu.
Auch die Nebenrollen: Nicola Ulivieri (Fenicio), Irina Samoylova (Cleone), Cristina Faus (Cefisa), Riccardo Botta (Attalo) und nicht zuletzt der bereits erwähnte Ferdinand von Bothmer als Pilade fügten sich hervorragend in das Ensemble ein, ebenso wie der Coro da camera di Praga unter Jaroslav Brych. Ferdinand von Bothmer hatte sich endgültig im zweiten Akt freigesungen und glänzte im Duett mit Nicola Uliveri als Fenicio. Den Taktstock schwang Roberto Abbado und hielt die Spannung von Anfang bis Ende. Besonders beeindruckten mich seine dynamisch fein abgestuften Begleitungen der zahlreichen, wunderbar auskomponierten Rezitative, in denen Rossini Passagen „von außerordentlicher Modernität“ (Bruno Cagli) gelingen.
Auch die Regie von Daniele Abbado war dem antiken Stoff angemessen: Einerseits klassisch-antike Kühle und Strenge in Bühnenbild und Kostümen in apartem Schwarz und Weiß sowie Rot, andererseits viel Bewegung und ausdrucksstarke Personenregie im zweiten Akt, wo oft nur zwei oder drei Sänger einander umkreisen. Im ersten Akt singt noch der Chor der Gefangenen in einem unterirdischen Verlies, das durch Mauern in verschiedene Bereiche getrennt wird und aus dem auch der kleine Sohn der Andromaca fast nackt herausgezogen wird.
Zu Beginn des zweiten Akts bewegt sich dort nur noch die unglückliche Andromaca. Der Schluss der Oper hätte meines Erachtens einen auch visuell dramatischeren, dynamischen Effekt gebraucht. Warum nicht die hundeköpfigen Erinnyen als Jäger des Oreste einsetzen, während Ermione auf der Bühne ohnmächtig zusammenbricht? „Gejagt von den Furien, (Orest) weggetragen von seinen Gefährten“– so endet die Oper (G. C. Ballola im Programmheft S. 27). Der Anblick des an die Palastpforte genagelten toten Pirro als Schlussbild befremdete dagegen nur, entsetzte jedoch nicht.
Bei der Abfassung dieser Rezension war mir das schöne diesjährige Begleitheft zur Oper „Ermione“ des Rossini-Festivals eine große Hilfe, insbesondere nützten die von Michael Aspinall in ein hervorragendes Englisch übersetzten Beiträge von Giovanni Carli Ballola sowie von Arrigo Quattrocchi, der auf S. 45 den Geschäftsführer der Rossini-Gesellschaft Reto Müller zitiert.
Autorin: Astrid Fricke, besuchte Vorstellung in der Adriatic Arena am 16. August.
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